Faltenfrei
Zum Romandebüt „Hier ist noch alles möglich“ von Gianna Molinari
Von Johann Holzner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVorschusslorbeeren für einen Debütroman: Am Anfang steht der 3sat-Preis in Klagenfurt (2017). Das Buch kommt daran anschließend auf dem schnellsten Weg heraus. Ruth Schweikert schwärmt von einer „literarischen Forschungsreise zu den Terrae Incognitae der Gegenwart“, Saša Stanišić entdeckt in diesem Buch hingegen eine „rätselhafte Schönheit“: Hier ist noch alles möglich. Schon ist es nominiert für den Deutschen Buchpreis 2018 und gewinnt zur gleichen Zeit den Robert Walser-Preis in Biel.
Aber die hochgeschraubten Erwartungen zerbröseln im Akt der Lektüre Stück für Stück. Schauplatz, Handlung, Figurenkonstellation, alles in diesem Roman ist darauf angelegt, uns einen Fall vorzuführen, der den Titel ziemlich brutal konterkariert und an keiner Stelle neue Perspektiven öffnet. Der Fall der Ich-Erzählerin: Eine junge Frau, die ihren Job als Bibliothekarin aufgegeben hat und nunmehr auf einem schon halb-verrotteten Industriegelände, das kurz vor der endgültigen Schließung steht, als Nachtwächterin ihren Dienst antritt. Da ist nicht viel zu tun; nichts passiert, nur das Gerücht geht um, ein Wolf sei schon einmal in das Gelände eingedrungen. Also muss zwischendurch noch eine Grube ausgehoben werden, um den Wolf, wenn er denn wieder kommen sollte, endlich einzufangen. Andere Figuren sind indessen mehr gefährdet als der böse Wolf: der Chef der Fabrik, der Koch, am meisten allerdings, das ist nach all dem wenig verwunderlich, die Nachtwächterin selbst.
Denn sie entschließt sich bald schon, in der Fabrik zu bleiben, auch wenn diese einmal geschlossen werden sollte und keine Kartonkisten mehr produziert. Genügsam wie sie ist, würde sie sich auf eine Erbsendiät setzen und Gedanken weiterspinnen, die seinerzeit schon Georg Büchners Woyzeck beschäftigt haben, sieht sie doch längst selbst, dass die Fallgrube völlig überflüssig ist:
Vielleicht steht die Fabrik auf porösem Boden. Vielleicht ist das ein Grund für ihre Schließung. Vielleicht liegt unter der Fabrik ein großer Hohlraum und morgen oder schon heute, wenn ich im Bett liege, gibt der Boden unter mir nach und ich falle mitsamt den Fabrikmauern in die Erde. Vielleicht weiß der Chef oder der Koch um den Zustand des Bodens unter der Halle. Vielleicht warten sie auf den Einsturz.
Es gibt noch weitere Figuren ohne Konturen, einige wenige haben immerhin Namen: Clemens und Lose zum Beispiel. Die Ich-Erzählerin kann sich durchaus vorstellen, sich hin und wieder mit diesen beiden zu treffen – so die „Zeit verbringen“, sagt sie. Mehr ist wohl nicht drin. Lieber verbringt sie ihre Zeit jedoch mit der Anfertigung von Zeichnungen, die ähnlich humorlos sind wie ihre Aufschreibungen. Staubtrocken ist das alles, trostlos wie die Produktions- und Lagerhallen der Fabrik oder auch das nahe gelegene Flughafengelände, wo es ebenfalls einen Hohlraum gibt, den die Ich-Erzählerin gründlich inspiziert: das Hauptfahrwerk eines Flugzeugs, in dem ein Mensch, wenn er sich nur genug zusammenkrümmt, gerade Platz hat.
Da ist nämlich noch eine Sache, der die Ich-Erzählerin (ein wenig, mitnichten gespannt oder gar leidenschaftlich) nachgeht, eine Geschichte in der Geschichte – die Geschichte von dem Mann, der vom Himmel fiel. Ein Ereignis, das sich 2010 tatsächlich in der Schweiz zugetragen hat: Ein Flüchtling, vielleicht aus Kamerun, jedenfalls aus Afrika, hat offensichtlich versucht, sich im Fahrwerk eines Flugzeugs zu verstecken, ist dort erfroren und im Verlauf des Landemanövers abgestürzt. Lose, erfahren wir, hat den Sturz beobachtet und später Zeitungsartikel über diesen Fall gesammelt. Nachdem er seinen Dienst in der Fabrik quittiert und als Busfahrer am Flughafen eine neue Arbeit gefunden hat, überlässt er der Ich-Erzählerin seine Materialien zu dem Fall. „Die Fabrik ist nun noch ausgestorbener“. Die Hüterin der Erinnerung und Beschwörerin des Komparativs ist darob aber keineswegs bestürzt, denn nichts bringt sie aus der Fassung – am wenigsten, man ahnt es schon, ein Wolf.
Dieser Wolf taucht immer wieder auf in den Gedankenspielen der Ich-Erzählerin, aber, soviel darf hier verraten werden, er fällt nicht in die für ihn bereitgestellte Grube. Eine Projektion. Doch weit und breit ist da kein Therapeut zur Stelle, der die innerpsychischen Konflikte und unbewussten Wünsche der Ich-Erzählerin behandeln könnte: Sie verhält sich nicht anders als jene Touristen, die auf dem Rollfeld noch schnell ein Foto schießen. Was die wohl später einmal auf den Bildern sehen werden, fragt sie sich, vieles wäre ja denkbar, aber „ob sie nicht vielmehr das sehen werden, was sie kennen und was sie fotografieren wollten: sich selbst und dazu die Mittagssonne, einen Flugzeugflügel oder den Schriftzug am Flughafengebäude in roten Leuchtbuchstaben.“
Eines Tages gerät sie kurz in Verdacht, eine Bank überfallen zu haben. Clemens hat ein Phantombild gesehen und bemerkt, dass seine Kollegin der auf diesem Bild dargestellten Täterin zum Verwechseln ähnlich sieht. Von da an fühlt sich die Ich-Erzählerin permanent beobachtet; hin und wieder wünscht sie sich, die Fabrik verlassen und den Wolf vergessen zu können, „auf eine Insel zu gehen und weg zu sein von allem; auch vom Festland.“ Aber daraus wird nichts. Hier ist nichts mehr möglich.
Obdachlosigkeit, Wirklichkeitsverlust, Ich-Zerfall: Die zentralen Themen dieses Romans sind alles andere als neu. Die Art und Weise, wie sie hier verhandelt werden, ist zwar grundsolide – da ist kein Satz, kein Absatz, der nicht sorgfältig gewählt wäre – doch Literatur, die sich derart niedergebügelt, geradezu als faltenfrei präsentiert, ist zugleich bieder-blutleer. Keine Rede, keine Spur mehr von einem Möglichkeitssinn. Nur noch: ein Wörter-Feld, rundum so bearbeitet, dass eigentlich niemand Anstoß nehmen oder ganz konkret etwas monieren kann. Literatur als Simulationsraum, als Institution mit (irritierender) Substanz ist etwas anderes.
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