Von Menschen und Störchen

Jugend und Hackordnung(en) auf einem Gutshof im Posener Land um 1900: Zur Neuausgabe des Romans „Der schwarze Storch“ von Ilse Molzahn

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ilse Molzahns Roman Der schwarze Storch beginnt mit einer fulminanten Ouvertüre des große Teile des Werks durchziehenden und titelgebenden Motivs:

Deutlich erinnere ich mich des Tages als der schwarze Storch bei uns auftauchte. (…). Er sitzt in dem steilen, kahlen Geäst und braucht viel Platz. Der Wind schaukelt ihn ein wenig, der ganze Baum schwankt. ‚Wer bist du?‘ fragte ich zitternd vor Freude und Aufregung über das Neue und Unbekannte, das mit einem Male in Olanowo eingezogen ist. Ist das ein Storch? Einer, der aus Versehen schwarz geraten ist? Nun, ganz gleich. Freude, Freude, daß er da ist und ich nicht mehr allein bin!

Diese seelische Verbindung der sechsjährigen Protagonistin Katharina, genannt Kater, mit dem Vogel in seiner Funktion als Außenseiter- und Ruhestörer, soll nicht lange andauern. Er wird von seinen weißen Artgenossen in einen Storchenkampf verwickelt, bei dem alle über ihn herfallen: „Die weißen Störche kehren zurück. Auf dem Dachfirst machen sie halt. Dann gehen sie mit ausgebreiteten Flügeln und spitzen Schnäbeln auf den Eindringling los.“

Bald darauf wird er vom Vater des Mädchens erschossen, ausgestopft und in der „guten Stube“ ausgestellt. Auf diese Weise wird das „fremde Element“ eliminiert, das als vermeintliches Unheil die Ruhe eines Gutshofs im Posener Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts stört. Die Welt dieser Störche wird von der kindlichen Ich- Erzählerin von Beginn an in Analogie zu der dort versammelten, bunt zusammen gewürfelten menschlichen Gesellschaft gesetzt.

Im ersten Roman Ilse Molzahns, Anfang der dreißiger Jahre in Breslau entstanden und das erste Mal am 20. Februar 1936 bei Rowohlt erschienen, vereinigt dieses Motiv für wesentliche Facetten im Leben und Werk der Autorin, worauf sie in späteren Briefen aufmerksam macht. Das Buch wird von den Nazis „wegen Zersetzung des deutschen Junkertums“, wie die Autorin selbst vermutete, verboten. 1972 erschien eine Neuauflage und 1977 wurde das Werk für das ZDF unter der Regie von Herbert Ballmann verfilmt, woraufhin weitere Ausgaben erschienen. Es war zugleich das Werk, das Molzahn finanziellen Erfolg bescherte. Der einzige ihr verliehene Literaturpreis war der Andreas-Gryphius- Preis der Stadt Düsseldorf im Jahr 1977. Insgesamt scheint die Autorin heute aber mehr oder weniger vergessen.

Auch wenn das Werk einer Autorin nie durch Hinweise auf ihr Umfeld erschöpfend analysiert werden kann, so scheint diese Art von Annäherung im Fall Molzahns naheliegend, weil ihr vielfach die Fähigkeit zur Umsetzung autobiographischer Details in Literatur bescheinigt und von Hans Nossack geraten wurde, „unbedingt autobiographisch, oder zumindest biographisch zu schreiben“. Sie hätte die Begabung, mit „erstaunlich wenigen Strichen eine Person, Situation oder Atmosphäre zu zeichnen und fühlbar zu machen.“

Diese Position lässt sich auf das hier betrachtete Werk beziehen. Die Autorin selbst hat den starken autobiographischen Hintergrund betont: „Aber natürlich bin ich das Kind.“ Wie nahe der Roman der Lebensgeschichte Ilse Molzahns ist, lässt sich daran ablesen, dass sich ihre Mutter nach der Veröffentlichung tief gekränkt zeigte, weil sie sich statt religiös als bigott dargestellt empfand. Der Vater fasste den Roman in Bezug auf seine Person positiver auf, maß aber das Werk ebenfalls am Maßstab der eigenen Biografie.

Im Roman wird das Leben auf einem Gutshof im Posener Land aus der Perspektive eines sechsjährigen Mädchens geschildert, nicht in Ostpreußen, wie es in einer Kritik von Bettina Baltschev im Deutschlandfunk fälschlicherweise heißt. Bei aller nicht verschwiegen werden sollenden Skepsis, der sich der Rezensent gegenüber einem vermeintlich „naiven Blick“ nicht erwehren kann, lässt sich dem jedoch positiv entgegenhalten, dass in diesem Fall dieses Kompositionsprinzip einen geschickten formalästhetischen Schachzug verrät: Er entlarvt die Welt der Erwachsenen unterschiedlicher sozialer Stellungen und Nationalitäten, insbesondere der herrschenden deutschen Oberschicht.

Wie bereits angedeutet baut die Protagonistin zu ihren Eltern keine wirkliche Beziehung auf. Die einzige wahre Bindung entwickelt die Protagonistin zu Helene, dem polnischen Hausmädchen, das irgendwann im Verlaufe des Romans aus bis zum Schluss nicht ganz geklärt werdenden Gründen verschwindet. Man erfährt am Schluss, dass sie aufgrund einer Schwangerschaft Selbstmord begangen hat. Besonders ergreifend wirkt die Suche Katharinas nach dem Grab Helenes. Einmal mehr wird das Vogelmotiv betätigt und Helene als Zwischenwesen zwischen Vogel und Engel beschrieben. Es bleibt offen, ob sie von Katharinas Vater oder ihrem eigenen Vater, dem Vogt des Hauses, geschwängert wurde. Die Ich-Erzählerin weiß aufgrund ihres Alters weniger als die Leser*innen, besser gesagt, vermutet mit ihrem „unschuldigen Blick“ auf die Dinge und Situationen weniger dahinter. Aus dem Kontrast ihrer Wahrnehmung zu jener der Erwachsenenwelt, wird letztere entblößt. Sehr deutlich zeigt sich, dass in dieser Junkerwelt nichts mehr stimmt. Neben der finanziellen Not der Eltern in Hinsicht auf den Erhalt des Guts, oder dem gesellschaftlichen Dünkel der Großeltern mütterlicherseits oder der „Junkerfreunde“, entwirft die Erzählerin eine Welt, in der Gewalt und sexueller Trieb die Herrschenden antreibt, geschickt kaschiert durch eine oberflächliche und nur vermeintliche Religiosität respektive Bigotterie etwa in Gestalt von Katharinas Mutter.

Der Roman ist im Präsenz und in einer sehr dichten, überaus suggestiven Sprache geschrieben, die den Leser*innen jede Situation äußerst plastisch vor Augen führt. Damit ist zugleich aber auch der Schwachpunkt des Romans markiert. Es sich handelt bei dem Text um eine Menge von Einzelepisoden über Menschen, die mehr oder weniger zufällig auf diesem Gutshof zusammenkommen. Was dem Roman allerdings fehlt, scheint die Verbindung der Kapitel untereinander zu sein. Ein Kaleidoskop von Figuren wird vorgeführt, ohne dass diese enger miteinander verknüpft würden. Es sind eher Impressionen, Eindrücke, kleine Ausschnitte dieser Welt, als dass sie einen Kosmos darstellten. Natürlich lässt sich prinzipiell nichts dagegen sagen, es so darzustellen, allerdings wirkt es manchmal so, als führten Träume, Tagträume und Situationen ein Eigenleben, nur lose miteinander verbunden.

Umso dankbarer ist man als Leser*in für das Nachwort am Schluss: Der über 110 Seiten lange, sich auf Dokumente wie Briefe etc. beziehende Kommentar von Thomas Ehrsam, kommt in Hinblick auf den Roman und der Beschreibung des Untergangs einer heute verschwundenen Welt zu dem Schluss:

Stark triebbestimmte, in alten Mustern gefangene Menschen in der schwermütigen Weite des Ostens und eine unterschiedlich ausgeprägte Mischung von Mystik und Realistik bestimmen das Bild dieser Romane, die dem dezidiert modernen Großstadtroman der Weimarer Zeit eine andere Welt entgegensetzen, ohne aber das Geringste mit Blut und Boden im nationalistisch völkischen Sinn und Herren Ideologie zu haben. Vielmehr wird gerade das Herrenmenschentum der Ostdeutschen der deutschen Oberschicht angeprangert und der Betonung des landschaftlichen und der Bodenverbundenheit fehlt jeder Rasse Dünkel.

Die Qualität des Romans liegt in der Tat darin, Zeit und Gegend, ohne jede falsche Idealisierung künstlerisch-literarisch darzustellen. Einen Kontrapunkt zu dieser schrecklichen Menschenwelt bildet die Beschreibung der Natur in Gestalt von Wäldern und Felder oder jener des Gutshof, dessen Gebäude aus der Sicht des Kindes mitunter anthropomorphisiert werden.

Was die Einordnung in ihr Gesamtwerk betrifft, so lässt sich sagen, dass Molzahn in späteren Werken etwa Nymphen und Hirten tanzen nicht mehr (Rowohlt, Berlin 1938), Töchter der Erde (Goverts, Hamburg 1941), Schnee liegt im Paradies (Bertelsmann, Gütersloh 1953) oder in dem Gedichtband Dieses Herz will ich verspielen (Jerratsch, Heidenheim 1977) zumeist einen stärker experimentellen Stil entwickelt, nicht zuletzt ihrer frühen Zugehörigkeit zur Künstlerszene ihres Mannes, dem Maler Johannes Molzahn, geschuldet. Allerdings sind schon in Der schwarze Storch immer wieder realistische Elemente mit (Tag-)Traumszenen vermischt. Eines der Kompositionsprinzipien liegt darin, immer wieder auf dunkle Gestalten zu verweisen, die erst beim Näherkommen deutlich werden, manchmal überhaupt nicht. Insofern erinnern diese Traumsequenzen zugleich an frühromantische Vorbilder wie an expressionistische Filme.

Abschließend seien noch ein paar Worte zu ihrer Biografie erlaubt. Insgesamt verlief Ilse Molzahns weiteres Leben tragisch: Ihre beiden Söhne fielen im Zweiten Weltkrieg, ihr Mann musste 1938 in die USA emigrieren, wo er auf Vermittlung von László Moholy-Nagy eine Professur am Art Department der University of Washington erhielt. Sie blieb in Berlin zurück; sie sahen sich erst viele Jahre nach dem Krieg mit ihren jeweils neuen LebenspartnerInnen wieder, ohne dabei Gelegenheit zu finden, „über den Tod der Söhne zu sprechen“. Zudem litt sie an mangelndem künstlerischen Erfolg, wie sie in einem der späten Gedichte verrät, was wie als eine Quintessenz ihres Schreibens verstanden werden könnte:

Bald wird es Zeit/bald wird es Zeit/die Türen zu verschließen/die Fenster zu verhängen/sie still zu betten wo ein Bett sich finden mag/ ein Kissen,/das im Ungewissen dein(…)/ es wird dich niemand suchen,/ wenn hinter deinem Fenster still das Licht erlischt/ wer du auch warst/ du bist schon lang vergessen/ und was dich trug/ wer fragte schon danach/ Oh Liebe/ mein vergeblich Sinnen/ gedenke meiner Erde Mutter die ich trat/ lass mich versöhnt und träumen dir begegnen/ verwandle mich/ in eine schönere Wirklichkeit und Tat.

Darüber hinaus hat Ilse Molzahn wiederholt auf ihre frühe Prägung durch diese Landschaft, ihre Jugend „im östlichen Wind“, hingewiesen bzw. auf jene Gegenden östlich der Oder, wo die Ebenen weit“ sind, wie es bei Gottfried Benn heißt, mit dem sie in engem Kontakt stand und der ihren Roman sehr lobte: „Ich kenne den Westen und ich liebe auch seine lastende schwermütige Atmosphäre das Gesättigte und Vegetative der Soester Börde der Krefelder Weiden den Niederrhein. Oh, ich kenne das alles, aber es ist die Welt meiner Vorfahren und nicht meine Welt.“ Oder an einer anderen Stelle, wo es heißt: „hier fand ich die Freiheit wieder und ein Stück der alten östlichen Heimat. die weite karge Ebene den Birkenbaum mit seiner strahlenden Rinde die Kornrade im Feld und den tiefen Wald.“

Titelbild

Ilse Molzahn: Der schwarze Storch. Roman.
Hg. und mit einem Nachwort von Thomas Ehrsam.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
376 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783835351356

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