Plädoyer für die Menschenwürde

Cristina Morales richtet in „Leichte Sprache“ den Blick auf junge Frauen mit geistiger Behinderung

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Roman von Cristina Morales spielt in Barcelona und stellt uns vier junge Frauen vor, die eine geistige Behinderung haben. Schonungslos führt uns die Autorin bis zu intimsten Details des Lebens der Hauptfiguren. Das ist manchmal schockierend, an der einen oder anderen Stelle vielleicht sogar ordinär. Die Lektüre macht das nicht einfach, doch sie fasziniert auf ihre eigene Art, zumal was als ungewöhnlich betrachtet werden könnte, genauso gut auch positiv als Feier der absoluten sexuellen Freiheit zu betrachten wäre. Wer sich mit dem Buch auseinandersetzt, wird belohnt mit einem Blick in eine Welt, die sonst verschlossen bleibt. Dafür hat der Roman zurecht bereits u. a. den Internationalen Literaturpreis gewonnen.

Die vier Frauen leben in einer betreuten Wohnung und kämpfen mehr oder weniger erfolgreich gegen das gentrifizierte Barcelona an. Untereinander wissen sie genau, wer mehr oder weniger stark eingeschränkt ist, und die eigenen vier Wände bieten ihnen trotz Zwist und Streit einen gesicherten Rückzugsraum vor der Welt draußen.

Da ist zum einen Nati. Sie lebt mit der Diagnose des sogenannten Schiebetüren-Syndroms. Gerät sie unter Druck, entwickelt sie ein verändertes Verhältnis zu ihrer Umgebung. Zum anderen ist da Marga, die als Analphabetin durch die Welt geht, aber sehr aktiv in ihrem Sexualleben ist und das auch gerne mit allen anderen teilt. Ángels kann als Dritte im Bunde hingegen keinen vollständigen Satz formulieren, ohne zu stottern. Sie ist zugleich die Cousine von Nati. Und schließlich Patri, die an Logorrhö leidet. 

Nati beschreibt ihre Erkrankung zum Beispiel, indem sie die Auswirkungen erklärt, die das Abnehmen eines Stirnbands für die Betroffenen hat: „Es tut höllisch weh […] denn dann schießen die Schiebetüren raus und knallen derart in der Mitte zusammen, dass sie davon sogar kaputtgehen können.“ Weiter erklärt sie, wie sie versucht, sich unter Aufbietung aller ihrer Kraft gegen ihre Krankheit zu wehren und dagegen, auf eine Anweisung ihrer Tanzlehrerin mit Gewalt zu reagieren:

Ich schob meine Schiebetüren zur Seite, um meine übliche Abwehr von Autoritätsbeschuss zu unterbinden und ihren Befehl zu mir durchdringen zu lassen, sonst wäre er abgeprallt und mitten in ihrem Gesicht eingeschlagen und hätte ihre daumendicken Brillengläser zerschmettert.

Obwohl sie Schwierigkeiten mit dem Lernen haben, sind die vier Frauen in der Lage, für sich und ihre Rechte zu kämpfen. Und sie sind auch auf ihre Art lernfähig. Trotz mancher Rückschläge und Frustrationen finden sie Gefallen daran und versuchen, sich zu befreien aus einem Leben, das sie bevormundet und ihnen immer wieder neue Steine in den Weg legt. Insbesondere Ángel findet dabei mit der Veröffentlichung ihrer Lebensgeschichte über WhatsApp, die sie in leichter Sprache verfasst und die dem Buch auch seinen Titel gibt, einen Weg, sich der Welt zu erklären. Das wirkt nicht erfunden, sondern echt, und hier kommt die Poesie der Autorin zum Tragen. Auch das Tanzen, das Nati als Befreiung empfindet, beschreibt sie in seiner Ausführung und Wirkung sehr authentisch. Weil Cristina Morales selbst tanzt und choreografiert, scheint ihr diese Figur besonders gut in ihrer Ausgestaltung gelungen zu sein.

Doch das Buch bleibt bis zum Ende anstrengend zu lesen, weil genau das auch das Leben der Hauptfiguren betrifft, und so wollte die Autorin wohl auch nichts anderes erreichen und eben keine leichte Lektüre anbieten. Leserinnen und Leser müssen hier genau wissen, worauf sie sich einstellen. Gleichwohl ist das Buch wichtig, denn es holt ein Thema ins Bewusstsein, mit dem die Gesellschaft bis in alle Tiefe und mit Details nie vollständig konfrontiert wird. Noch dazu im masochistisch geprägten Spanien, das sich zwar nach außen als neoliberal darstellt, nach innen aber weithin traditionell geprägt bleibt.

Man merkt Cristina Morales an, dass sie weiß, worüber sie hier schreibt. Die Authentizität ist die große Stärke des Buches, durch die es gelingt, vier ganz individuelle Erzählstimmen zu entwickeln. Diese stattet sie mit Ironie und feiner Zunge aus, aber sie beschreibt sie in ihrer Gänze auch als wirklich liebenswerte Figuren. Jede Leserin und jeder Leser wird fortan die als leicht bezeichnete Sprache mit anderen Augen sehen und deren wahren Wert erkennen können, der darin besteht, dass weniger Menschen davon ausgeschlossen werden, zu leben, wie alle anderen auch.

Titelbild

Cristina Morales: Leichte Sprache.
Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022.
400 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783751800662

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