Plädoyers für komplexes Argumentieren im Nahostkonflikt

Benny Morris „Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems“ und Oren Kesslers „Palästina 1936“ sind zwei empfehlenswerte Neuerscheinungen zu den Wurzeln eines komplizierten Krieges

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems war fast unvermeidlich angesichts der geografischen Vermischung der arabischen und jüdischen Bevölkerung in einem winzigen Land (10 000 Quadratmeilen), der Geschichte der arabisch-jüdischen Feindseligkeit zwischen 1881 und 1947, des überwältigenden Widerstands auf beiden Seiten gegen einen binationalen Staat, des Ausbruchs und der Verlängerung des Kriegs um die Gründung und das Überleben Israels, der großen strukturellen Schwächen der palästinensisch-arabischen Gesellschaft, der tiefen arabischen Feindseligkeit gegenüber dem Jischuv und der arabischen Angst, unter jüdische Herrschaft zu geraten, sowie des Jischuv vor dem, was im Falle eines Sieges der Araber passieren würde, oder vor dem, was einem jüdischen Staat widerfahren würde, der mit einer sehr großen und feindlichen arabischen Minderheit gegründet würde.

Wie in einer Nussschale findet der Leser in diesem Zitat gegen Ende von Benny Morris fulminanter Darstellung „Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems“ die ganze Misere des über hundertjährigen Krieges komprimiert, der in den Medien unter dem simplifizierenden Begriff „Nahostkonflikt“ zusammengefasst wird: Geographie, Gewalt, Geschichte, Mentalitäten und Ängste, Gesellschafts- und Modernisierungsprobleme. Der Autor, Benny Morris, ist emeritierter Professor für Geschichte an der Ben-Gurion-Universität. In seinem, zuerst 1988, dann 2004 in einer überarbeiteten Auflage erschienenen Buch zeichnet er die Komplexität jener Ereignisse nach, deren Nachwirkung bis heute das Verhältnis beider Gruppen zueinander bestimmt. Während das kollektive Gedächtnis der Palästinenser die damaligen Ereignisse bis heute als „Katastrophe“ („Nakba“) tradiert (und seit einigen Jahren am 15. Mai ihrer gedenkt), verbindet die israelische Öffentlichkeit vor allem den Schrecken über den Angriff der arabischen Staaten (Syrien, Jordanien, Ägypten und so weiter) auf das Land mit dem Ereignis, das direkt auf die Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948 folgte.

Morris analysiert in zehn Kapiteln minutiös jene komplexe Gemengelage, die insgesamt zur Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems führte. Zuerst geht er kursorisch auf die moderne Geschichte des Gebietes ein, beschreibt die Einwanderung der Juden seit Ende des 19. Jahrhunderts, die arabische Gesellschaft, die von den Einwanderern vorgefunden wurde und deren Reaktion auf die zunehmende Zahl der jüdischen Einwanderer. Diese verheimlichten gar nicht ihr Ziel, die Etablierung einer jüdischen Heimstätte in jenem Gebiet, das seit 1922 im Auftrag des Völkerbundes britisches Mandatsgebiet war. Ein eigenes Kapitel widmet Morris der „Transferidee“ im zionistischen Denken: Nicht zuletzt nach den Erfahrungen mehrerer Ausschreitungen und Pogrome in den 1920er Jahren sowie des blutigen Aufstandes der Araber 1936-39 mussten die zionistischen Führer (darunter zum Beispiel David Ben-Gurion und Chaim Weizmann) erkennen, dass die Errichtung einer jüdischen Heimat gegen den Souveränitätsanspruch einer arabischen Mehrheit erfolgen und somit eine feindselige und den jüdischen Staat nachhaltig ablehnende Bevölkerung nach sich ziehen würde. Was aber heute als grausam und unmenschlich gelte – der Gedanke, um des Friedens willen Bevölkerungsgruppen zu tauschen – sei in der Zwischenkriegszeit bei weitem nicht so verpönt gewesen, betont Morris. Dabei kann er sogar auf manche jordanischen und irakischen Politiker verweisen, die sich die Aufnahme von Arabern aus Palästina vorstellen konnten. Die überwiegend 1948 erfolgte, teils freiwillige Flucht und teils erzwungene, gewaltsame Vertreibung der Palästinenser wird von Morris in vier Phasen eingeteilt und in ausführlichen und langen Kapiteln dargestellt. Zwei weitere Kapitel behandeln  die Entscheidung der jüdischen Politiker und Militärs gegen eine Rückkehr der Flüchtlinge in der zweiten Jahreshälfte 1948 und die schließliche Verweigerung von deren Rückkehr.

Morris` Buch beeindruckt insbesondere wegen seiner komplexen, sich jeder Reduktion verweigernden Argumentation bei der Erörterung der Flucht- und Vertreibungsbewegungen. Das Buch stellt keinen Revisionismus in dem Sinne dar, dass es israelische Vertreibungen von und Gräuel sowie Gewalttaten (einschließlich Vergewaltigungen, Plünderungen, Morden) an den Arabern leugnen würde. Indem der Verfasser die Ereignisse detailliert und kleinteilig beschreibt, zwingt es den Leser hingegen, die Vielfalt, die Komplexität und die Widersprüchlichkeit der Ereignisse sowie die Notwendigkeit von Differenzierungen anzuerkennen. So begann der erste arabische Exodus bereits im Dezember 1947 und es war die arabische Ober- und Mittelschicht, die erkannte, dass sie aufgrund ihrer fehlenden Sprachkenntnisse in einem jüdischen Staat ihre sozialen und wirtschaftlichen Positionen nicht würde halten können. Der tägliche Terror und Gegenterror, ausgeübt von Arabern wie von Juden, habe ebenfalls zur Flucht dieser Gruppen beigetragen. Bis Ende März 1948 (also etliche Wochen vor Beginn des offiziellen Krieges, jedoch bereits in einer Phase blutiger Attentate und Kämpfe) verließen daher bereits etwa 100.000 Araber insbesondere die größeren Städte. Die jüdische Gemeinschaft (der „Jischuv“), habe keinen konkreten Masterplan für eine Vertreibung im großen Stil gehabt, betont Morris, die führenden Persönlichkeiten wie auch die Öffentlichkeit seien vielmehr vom Verbleib einer großen arabischen Minderheit im zu errichtenden Staat ausgegangen. Dem berüchtigten „Plan D“, den manche Historiker (zum Beispiel Ilan Pappe) als einen solchen Masterplan zur „ethnischen Säuberung“ Palästinas ansehen, billigt Morris kein solches Gewicht zu. Er betont vielmehr, wie wichtig es sei, die Realität vor Ort, in jedem arabischen Dorf und in jeder israelischen Kampfeinheit zu berücksichtigen. Zwar habe der Plan die Möglichkeit von Vertreibungen ins Auge gefasst, die situativen Momente, die militärischen und psychologischen Realitäten vor Ort hätten jedoch den Ausschlag gegeben, ob die jeweiligen militärischen Führer nach der Eroberung eines Dorfes die Bevölkerung vertrieben hätten oder nicht. Nicht überall habe es schließlich Vertreibungen gegeben. Zudem sei erst im Laufe der Monate und nur durch das Wechselspiel der Ereignisse aus dem „Rinnsal aus einer Handvoll Dörfer“ eine regelrechte Landflucht geworden, die sich zu einem Exodus auswuchs. Diesen erklärt Morris neben den Vertreibungsaktionen jüdischer Kampfeinheiten mit der Angst der arabischen Bevölkerung vor Angriffen, der Anweisung arabischer Behörden, dass Frauen, Kinder und Alte die Dörfer verlassen sollen, um das Kämpfen zu erleichtern, der Einschüchterung von unterschiedlichen jüdischen Einheiten (Haganah, Irgun), aber auch der dem Verhalten arabischer Freischärler und Kämpfer (die teils aus Syrien und Jordanien kamen und plünderten).

Morris verweist schließlich auch auf die Notwendigkeit, geographische und militärstrategische Besonderheiten zu berücksichtigen, die in manchen Gebieten zu größeren Bevölkerungs-, Flucht- und Vertreibungsbewegungen geführt haben als in anderen. Die kopflos gewordene, ihrer politischen und sozialen Führungsschicht teils beraubte arabische Bevölkerung erhielt zudem gegensätzliche Anweisungen, so dass diese in einer „chaotischen Bürgerkriegssituation“ nicht verlässlich wusste, wie sie sich verhalten sollte. Das Arabische Hohe Komitee etwa, seit Jahrzehnten die politische Vertretung der arabischen Bevölkerung, das vom Mufti Amin Husseini geleitet wurde (der noch wenige Jahre zuvor mit Hitler kooperierte), verhielt sich widersprüchlich. Am Anfang hatte es wohl keine Schwierigkeiten mit den Fluchtbewegungen der Ober- und Mittelschicht, denn aus diesen Kreisen kam vorher immer Kritik am Komitee und am Mufti. Mit der Zeit erkannte das Komitee allerdings, dass die Araber keinen Anspruch auf Gebiete mehr erheben könnten, wenn sie diese verließen. Zugleich hoffte es auch, dass die Flucht von Hunderttausenden in die Nachbarländer diese eher zu einem Krieg gegen den Jischuv beziehungsweise den neuen Staat Israel animieren könnte.

Die Bilanz des Krieges, der Flucht- und Vertreibungsbewegungen, festzustellen, ist – dies betont Morris mehrfach – sehr schwer. Der israelische Historiker geht von etwa 400 entvölkerten und teils unbewohnbar gewordenen Dörfern und Städten aus, beziffert die Zahl der in der zweiten Jahreshälfte geflohenen Araber auf etwa 400.000 Personen und als deren Gesamtzahl hält er 700.000 für plausibel. Für den größten Teil dieses Exodus bis Juni 1948 macht er direkt und indirekt jüdische Angriffe verantwortlich, doch unterstreicht er insgesamt, dass weder monokausale Erklärungen überzeugend, noch eindeutige Quantifizierungen der Zahlen möglich sind. Obwohl die zionistischen Führer bereits vor dem Krieg über einen jüdischen Staat ohne eine beträchtliche Anzahl von Arabern nachdachten, führte kein direkter Weg zu deren Vertreibung. Vielmehr müsse man komplexe und vielfältige Erklärungen heranziehen, wolle man die Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems ernsthaft verstehen.

Den Band beschließen ein Anhang, der unter anderem biografische Hinweise auf viele der erwähnten Personen beinhaltet, ein instruktives Nachwort von Philipp Lenhard und ein sehr spannendes Interview mit dem Autor, das am 15. Januar 2025 geführt wurde. Darin erörtert Morris noch einmal die Idee des Bevölkerungstransfers, dass lediglich etwa 20% der Flüchtlinge tatsächlich vertrieben wurde und geht zudem auf den heutzutage in bestimmten Kreisen beliebten Vorwurf ein, beim Zionismus handele es sich um eine Form des „Siedlerkolonialismus“. Insgesamt liegt also mit Morris` Buch ein sehr umfangreiches, detailliertes und hervorragend geschriebenes Buch vor, an dem niemand wird vorbeigehen können, der sich für das Thema interessiert.

Das vielleicht wichtigste Kapitel in der Vorgeschichte des palästinensischen Flüchtlingsproblems untersucht Oren Kessler, ein amerikanischer Journalist und politischer Analyst, in seinem Buch Palästina 1936. Der Große Aufstand und die Wurzeln des Nahostkonflikts. Dabei handelt es sich um einen „vergessenen Aufstand“, so Kessler, dem bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. In sieben Kapiteln und einem Epilog schafft er es, sowohl die Vorgeschichte, als auch die vielen Facetten, die traurigen menschlichen Schicksale und die gravierenden Folgen des arabischen Aufstands auf eine spannende und sehr lesbare Weise nachzuerzählen. Beinahe die Hälfte seiner Darstellung nimmt hierbei die Vorgeschichte ein, die ebenfalls bereits sehr blutig war. Der Vorzug von Kesslers Darstellung liegt in der gelungenen Personalisierung der drei Seiten, die im Aufstand wie auch im Konflikt eine Rolle spielten, das heißt der Briten, der Juden und der Araber. Auf Seiten der Araber beleuchtet er mit Musa Alami, dem Mufti Amin Husseini oder dem Arzt Khalidi drei völlig verschiedene Personen, die sich auch untereinander uneins waren hinsichtlich der gegenüber den Juden und den Briten einzuschlagenden Strategie. Mit Chaim Weizmann, Vladimir Jabotinski oder David Ben Gurion standen der jüdischen beziehungsweise zionistischen Bewegung freilich ebenfalls widersprüchliche Politiker und Persönlichkeiten vor, die unterschiedliche Vorstellungen davon besaßen, wie aus dem britischen Mandatsgebiet ein jüdischer Staat geformt werden sollte. Mehr als alle Pläne, die in London, Jerusalem oder woanders geschmiedet wurden, bestimmte allerdings rohe Gewalt die Ereignisse.

Die wachsende jüdische Einwanderung in Palästina rief nämlich den Widerstand der einheimischen arabischen Bevölkerung hervor. Zwar verkaufte deren Oberschicht, die Notabeln oder Großgrundbesitzer, gerne Land zu überteuerten Preisen an die Juden und manche Araber erkannten auch bereitwillig das Modernisierungspotential an, das mit den Juden ins Land kam. Die Angst vor dem Verlust des eigenen Landes überwog jedoch und entlud sich bereits in den 1920er Jahren in mehreren blutigen Pogromen, welchen Dutzende von Juden zum Opfer fielen. Teile der jüdischen Gemeinde antworteten hierauf mit einer Radikalisierung, sodass der Ausbruch einer jahrelangen blutigen Auseinandersetzung im Jahre 1936 beinahe vorgezeichnet war. Die britische Mandatsmacht, die zwischen ihrer Sympathie für die „zionistische Sache“ und ihrem Wunsch, die Araber Palästinas und der anderen Staaten nicht gegen sich aufzubringen, hin und her schwankte, bekämpfte die aufständischen Araber, so gut sie konnte. Sie schränkte die Zahl der jüdischen Einwanderungen immer wieder ein und versuchte, der verzwickten Lage durch Expertenkommissionen Herr zu werden. DIe erste dieser Kommissionen, geleitet von Lord Peel, sprach sich 1937 für die Teilung des Gebietes aus, doch als die Briten den heftigen Widerstand der Araber dagegen sahen (die jüdische Gemeinschaft begrüßte den Teilungsplan), setzte London sogleich eine zweite ein, die den Plan revidierte.

Der aus mehreren Phasen bestehende Aufstand, der finanziell unter anderem von Benito Mussolini unterstützt wurde, zeigte einerseits einen beeindruckenden arabischen Zusammenhalt innerhalb und außerhalb Palästinas, andererseits aber auch die Verweigerung jeglicher Kooperation mit den Briten, jeglichen Kompromisses sowie ein brutales Vorgehen nicht nur gegen Juden und Briten, sondern auch gegen vermeintliche Verräter innerhalb der eigenen Reihen. Die Anhängerschaft Husseinis tötete jeden Araber, der mit den Juden oder Briten auch nur Gesprächsbereitschaft signalisierte – ein Verhalten, das heute nicht anders ist. Die Briten hingegen zerstörten die Häuser von arabischen Attentätern und Terroristen, was nach 1948/1967 zum Kennzeichen des israelischen Vorgehens gegen Attentäter werden sollte. Die Kufiya als Symbol der arabischen Aufständischen verdrängte damals den Tarbusch als Kopfbedeckung. Zu den gravierendsten Folgen des Aufstandes sind zum einen die hohen Opferzahlen auf der arabischen Seite zu nennen (5-8.000 Tote, gegenüber 500 Juden und 250 Briten). Zum anderen ist die große Fluchtbewegung zu nennen, denn etwa 25-40.000 Palästinenser (vor allem aus der Oberschicht) flohen vor der Gewalt und dem Terror. Zwar kehrten die meisten nach 1939 zurück, doch setzte sich damit ein Verhaltensmuster fest, das 1948 zu Schwierigkeiten führte, als man erneut zur Flucht ansetzte, dann allerdings ohne die Möglichkeit zu haben, wiederzukehren. Eine weitere gravierende Folge des Aufstandes, die Kessler vielleicht nicht stark genug betont, besteht darin, dass durch ihn die militärische (und teils auch die politische) Führung der palästinensischen Araber letztlich beseitigt wurde, denn die motiviertesten, wichtigsten und fähigsten Führer sind in seinem Verlauf getötet worden. Dies sollte sich später (1947/48) als Nachteil für die Palästinenser, jedoch als Vorteil für den entstehenden jüdischen Staat erweisen. Die jüdische Gemeinschaft lernte hingegen in dieser Zeit, sich zu organisieren, Parallelstrukturen und vorstaatliche Institutionen aufzubauen (wie Kampfeinheiten, ein Steuersystem oder ministeriumsähnliche Einrichtungen), die es ihr nach 1945 erleichterten, sich auf den Weg eines unabhängigen Staates zu begeben.

Kesslers ungemein spannend geschriebene Erzählung des großen Aufstandes weist zwar einige Verzerrungen auf, wenn der Autor die internationale Lage skizziert (Hitler wurde mitnichten am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler „gewählt“!) und einige Fakten sowie Zahlengerüste mehr hätten der Darstellung auch gutgetan. Dennoch liegt mit seinem Werk ein nüchternes, ausgewogenes und vor allem empfehlenswertes Buch vor, dessen Thema leider immer noch traurige Aktualität aufweist.          

Titelbild

Benny Morris: Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems. Eine Neubetrachtung.
Hentrich & Hentrich Verlag, Leipzig 2025.
826 Seiten , 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783955657024

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Oren Kessler: Palästina 1936. Der Große Aufstand und die Wurzeln des Nahostkonflikts.
aus dem Englischen von Norbert Juraschitz.
Carl Hanser Verlag, München 2025.
384 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783446282902

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