Architektur und vielleicht auch Verbrechen

Gottfried Müllers „Vorläufige Höhepunkte der Baukunst“ zeigen eher Tiefpunkte im Hochbau

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Menschen nehmen Räume ein, sind Räume, die sich im Raum verschieben – wie ein dreidimensionales Bild im Anatomieatlas, das die verschiedenen Ebenen des menschlichen Körpers zeigt, da ist ein etwas artifiziell Nackiger in einen länglichen Quader eingesperrt. Also sind wir Geometrie, Meter hoch drei – diese Fleischfigürchen verschieben sich in anderen Räumen.
Stadt, Land, Zimmer. Dauernd ist Architektur um einen herum (oder Kulturlandschaft, auch gemacht). Dabei geht allerhand schief. Eigentlich fühlt man sich meist unbehaglich, kleines Quaderchen, das man ist, zwischen Steinwüsten oder an Vorgärten vorbei, wo einen Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Blumenfarborgien wie kläffende Hunde anfallen.

Nicht nur Ornament ist Verbrechen. Manche „Bausünde“ ist vielleicht mehr als das. Man kann Menschen auch mit Architektur umbringen. Warum bauen die (ArchitektInnen) so? Für welche Menschen, mit welchen ästhetischen Ideen wird da hantiert, dass da dann ein Monster vor einem steht?
Ist dem beizukommen? Nie. Kann man es verspotten? Schon. Verspottet Gottfried Müller, Architekturzeichner und seit 2010 Professor für Architekturdarstellung an der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen an der TU Dortmund, das einfach nur? Ich weiß nicht, ob er nur spotten will oder ob ihm Verzweiflung Zeichenstift und Tastatur führt. Jedenfalls sollte, was Müller bietet, Pflichtlektüre für ArchitekturstudentInnen sein.
Keines der Gebäude, das hier vorgestellt wird, existiert. Keine der Entwicklungen hat so stattgefunden – aber hat doch stattgefunden. 

Drei Abschnitte umfasst Müllers Buch. In der ersten Abteilung schildert und zeichnet er die „sieben Fassaden des Bankhauses Soleder“ vom Ursprung 1714, der 1878 Ferdinand Soleder nicht mehr genügte: 

Eng und muffig die Kontore, knarzend und abgewetzt die Böden. Selbst im Bureau des Bankiers blühte der Schimmel an der Stukkatur und im zweiten Hinterhof stank der Misthaufen und pickten die Hühner. Das konnte so nicht bleiben.

Also: „Bangen Herzens raffte“ Soleder „all seine Finanzkraft zusammen und wagte einen gewaltigen Neubau.“ Da ist er, der ängstlich-vorsichtige Privatbankier, der um sein Haus fürchtet. Doch sieh da, neue Fassade, neues Glück, Design bestimmt Sein, die Geschäfte kommen gar ins Rollen: „Man hielt die Bank plötzlich für weit erfolgreicher, als sie tatsächlich war, und genau diese Fehleinschätzung brachte den Erfolg.“ Was da so bloß veräppelnd daherkommt, zeigt eben genau die Verbindung von Architektur und Sein. Sein ist immer historisch. Perfid-nüchtern heißt es bei der Fassade von 1940: 

Im Jahre 1940 machte das Bankhaus Soleder satte Gewinne. Die preiswerte Übernahme jüdischer Besitzungen und das florierende Geschäft mit der Wehrmacht brachten traumhafte Renditen, sodass der anstehende Fassadenneubau spielend finanziert werden konnte.

Da ist allerdings schon der Wurm im Gebälk, der Untergang des Tausendjährigen Reiches in die Architektur eingeschrieben. Der Materialmangel bei Metallen macht die Fassade wirklich zur (bloßen) Fassade: „Daher bestand zum Beispiel das Dach nicht aus Kupfer, sondern aus grün gestrichenem Weißblech, bei den vermeintlich massiven Kalksteinquadern handelte es sich um Stuckarbeiten auf Beton.“ 

Abteilung II zeigt „Missratene Häuser“. Hier interviewt Müller erfundene Besitzer, Erbauer, Bewohner. Er macht eine Phantasiereise durch the late Bundesrepublik und lauscht, was sich so an Raummentalitäten, Scheidungsgezeter, Aufgeblasenheit, innerer Not abhorchen lässt.
Nur ein Beispiel. Das „Missratene Haus Nr.5“  ist ein 2003 erbautes Wohnhaus. Irgend so ein Flachbungalow, von dem man nicht weiß, wie man sich darin nicht sofort umbringen soll. Hier ‚interviewt‘ „GM“ Frau T. und Herrn T. Wir sind voll drin in ehelichen Ein- und Nichtverständnissen: Interviewer GM: „Warum wollen Sie Ihr Haus verkaufen?“ Herr T.: „Es ist zu klein.“ Return Frau T (ich stelle mir vor: wie aus der Pistole geschossen, vielleicht gar etwas empört, Nachhall vieler Zetereien, endlich mal vor Publikum): „Das stimmt doch gar nicht – wir fühlen uns hier nicht mehr wohl!“ Ehemann: „Du fühlst dich hier nicht mehr wohl – ich schon!“ Ehefrau: „Du bist ja nie da!“ 

Nein, Müller bleibt bei seinen Architekturleisten, er wird nicht zum Scheidungs- oder Eheberater. Vielmehr sitzt er, so denke ich´s  mir, da, halb erschrocken, halb erstaunt, manchmal gar defensiv. Es ist klar, hier wird nicht nur einfach gewohnt und geschlafen, gelebt. Das Haus müsste eine ‚cosy‘ Haut um einen sein, aber sie juckt halt nur neurodermitisch oder die Bewohner erzeugen sich, durchs Haus, durch sich oder beides, allergische Reaktionen. Da ruht weder auf Haus noch Beziehung ein Segen – und wer hat Schuld? Der flache Bungalow oder die Fleischquader?  

Abteilung III liefert nun endlich! was man von Höhepunkten der Baukunst erwartet. Platzhirsche der Architekturgeschichte hinterließen „Vergessene Varianten“, Lloyd Wright, Le Corbusier, Mies van der Rohe in Text und Bild und als Erfindung vorgestellt.
Und zum Schluss? Spielt Müller noch den Thomas Pynchon der Architekturzeichnung und -erzählung: Im „Nachwort“ möchte, so die „Fotokopie“ des Schreibens, der Birkhäuser Verlag, in dem dies brillante Buch erschienen ist, gerne ein „aktuelles Portraitfoto“. Problem. Das Schreiben ist zwar an Müller gerichtet, allerdings an eine „Agentur für Forschung und Abenteuer, Abteilung Bauwesen“ – nur „z.Hd. Herrn Gottfried Müller.“ Zurückgeschrieben wird vom „Kulturleiter“ „.i.A.“ – und der, wer immer nun wieder diese Luftfigur sein mag, schreibt zurück: 

Mit einem gefälligen Autorenportrait können wir leider immer noch nicht dienen, Herr Müller weigert sich kategorisch, sich ablichten zu lassen. Immerhin ist es uns gelungen, Gottfried Müller heimlich an seinem Arbeitsplatz zu fotografieren. Wir hoffen, das geht zur Not auch.

Neugierig, wie der stoppelhaarige Schädel und das Büro aussehen? 

Titelbild

Gottfried Müller: Vorläufige Höhepunkte der Baukunst. 16 Geschichten.
Birkhäuser Verlag, CH-4051 Basel 2020.
143 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783035620450

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