Wesentlich ein Religionskrieg, aber noch viel mehr

Herfried Münkler analysiert den Dreißigjährigen Krieg

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Herfried Münklers umfassende Darstellung des Dreißigjährigen Krieges hat Ähnlichkeit mit der Rotunde auf dem Schlachtberg bei Bad Frankenhausen: Während Werner Tübke den deutschen Bauernkrieg im monumentalen Rundbild vergegenwärtigt, bietet Münkler beeindruckendes Schlachtenkino. Darüber hinaus denkt er über Alternativen zu den historischen Entscheidungen nach und versetzt sich in die Protagonisten, um deren Motive besser zu verstehen. Seine Vergleiche der machtpolitischen, religiös-ideologischen und militärischen Verwicklungen damals und heute sind scharfsinnig. Die Sogkraft des Buches ergibt sich aus der gekonnten Zeitreise in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts mit gültigen Ortsterminen, Besuchen auf den Hinterbühnen der Macht und lebensprallen Biografien der wichtigsten Akteure ­ statt abstrahierter Figurenzeichnungen.

Die Argumentation überzeugt, weil sie sich wiederholt selbst auf den Prüfstand stellt und unterschiedliche Quellen und Zeugnisse in Anschlag bringt. Vertreter der disziplinären Forschung, die sich instruktiv zum Wesen des Krieges geäußert haben, kommen ebenso zu Wort wie Dichter und Autoren vor allem des Barock (Hans Jacob Christoffel v. Grimmelshausen, Andreas Gryphius, Friedrich von Logau, Georg Philipp Harsdörffer und andere). Ausgewählte Bildfolgen dienen als Fernrohr in die Vergangenheit (Jaques Callot und Hans Ulrich Franck), während die Flugblattpublizistik die polemische Medienschlacht wachruft, die den Krieg begleitete. Die Referenzen sind essentiell für die Tiefenbohrungen und die eigene Standortbestimmung. Die Verweise bremsen den Text zum Glück nicht aus, sondern fügen sich geschmeidig in den Präsentationsfluss. Münklers Buch ist kompakt, es ist Zeitpanorama, Geschichtserzählung und Konfliktdeutung aus politiktheoretischer Perspektive in einem.

Warum eine weitere Untersuchung des Dreißigjährigen Krieges? Der Krieg war lange das große Trauma der Deutschen, er ist es aber nicht mehr. Dennoch besitzt er nach wie vor transepochale Bedeutung, wenn man ihn – das die starke Grundthese Münklers – „für hochgradig aufschlussreich als Paradigma und Analysefolie für einige Kriege der Gegenwart und vor allem die der Zukunft“ hält. Seine strukturelle Beschaffenheit rechtfertigt es, ihn wie ein Spiegelkabinett vor die aktuellen Brandherde in der Ostukraine, im Vorderen Orient oder an den großen Seen in der Subsaharazone in Afrika zu stellen. Dabei ist die 30 Jahre andauernde, bislang längste kriegerische Gewaltserie in deutschen Landen „alles andere als ein eindeutig zu charakterisierender militärischer Konflikt, seinem Wesen nach war er phasenabhängig ein Religionskrieg, Hegemonialkrieg und Verfassungskonflikt“. Nach heutigem Verständnis würden wir ihn auch als Bürgerkrieg bezeichnen, zu dem die Überlagerung der unterschiedlichen, aber eng verzahnten Konfliktebenen führte. Seine Geschichte ist nicht zuletzt die Geschichte beständiger Gewichtsverlagerung zwischen mehreren Konfliktebenen, die im Kriegsverlauf immer enger miteinander verwachsen sind.

Wie bekommt Münkler die Materialfülle in den Griff, wie navigiert er ohne Ermüdung und mit Umsicht durch 30 Jahre Kriegsgeschehen und wie schafft er es, den unzähligen Ständevertretern, kaiserlichen Gesandten, Fürsten, Kriegsleuten, Klerikern und Diplomaten individuelle Gesichter zu geben? Es handelt sich hier immerhin um Akteure, deren (Nicht-)Handeln den Krieg verursachte und deren Einsätze zum Teil so kompromisslos waren wie ihre Motive fragwürdig, ihre Allianzen wandelbar und ihre Taktiken radikal, mithin Personen, die in den meisten Fällen in Interessenskonflikten standen, über die längst nicht immer üppige Informationen vorliegen und die sich kurz gesagt eindeutiger Festlegung entziehen. Münklers Vorgehen ist planvoll und der Präsentationsmodus grundsätzlich chronologisch, wobei der Text zwischen szenischer Beschreibung, narrativem Bericht und analytischer Deutung oszilliert. Dass der Autor sein Wissen und seine Thesen mit Füllfeder in Form gebracht hat (ein einjähriges Fellowship ermöglichte eine Schreibklausur), merkt man dem Buch an, und zwar positiv. Die präzise Terminologie ist dem analytischen Anliegen verpflicht, doch es entsteht zugleich ein gut lesbares Narrativ. Anders als ein durch unzählige Begradigungen zugerichteter Computertext ist Münklers Manuskript vielleicht nicht von ungefähr so ausführlich. Insbesondere der Stil, den so etwas wie eine beherzte Dynamik und populäre Energie auszeichnen, bindet den Leser und die Leserin intensiver als für diese Textsorte üblich an den Text; der wie ein spannender historischer Roman anmutet.

Es gibt Punkte, die mehrmals vorkommen, allerdings stets mit neuen Aspekten verknüpft werden. Dabei handelt es sich nicht um Redundanzen, sondern um einen Effekt der Darstellung, die alle registrierten Vorgänge in einem Territorium, an einem Machtzentrum oder in einer Reichsstadt mit zeitgleich oder zu anderer Zeit, vielleicht auch anderswo stattfindenden Entwicklungen engführen will: damit Kausalitäten und wechselseitige Beeinflussungen erkennbar werden, die auch später und überregional, ja länderübergreifend wirksam sind. Es ist eine der Leistungen des Buches, Episoden und Ereignisstränge dieses facettenreichen Krieges zu identifizieren und sie zugleich auf das Gesamtgeschehen zurückzubeziehen. Das Resultat der durch Vor- und Rückverweise und Wiederaufnahmen gekennzeichneten Präsentation ist das Kompaktwerk und ein geschärftes Bewusstsein für das komplexe Geflecht der Geschichte.

In der Einleitung bemisst Münkler unter den Punkten „Historische Zäsuren und antiquarisches Interesse“ und „Der Dreißigjährige Krieg und wir“ den Bezug der Vergangenheitsorientierung des Buches zur Gegenwart: Hat es einen Nutzen für das Begreifen der Herausforderungen unserer Zeit? Sicherlich gibt es keine unmittelbaren Verbindungslinien zwischen uns und dem Krieg zwischen 1618 und 1648 (auch wenn dieser Krieg für uns so zentral ist, weil er in den Territorien geführt wurde, die heute Deutschland ausmachen); der Konnex liege aber genau darin, dass der Krieg die „Blaupause“ für die Kriege unseres Jahrhunderts abgibt.

Sieben Großkapitel orientieren sich am Kriegsverlauf, den sie zeitlich und ereignisbezogen fein ausdifferenzieren. Der erste Blick geht erwartungsgemäß nach Prag, wo der Fenstersturz am 23. Mai 1618 − übrigens die zweite von (bislang) drei „Defenestrierungen“  in der Moldaustadt − den Krieg auslöste (aber nicht die Ursache war). Aufgebrachte böhmische Adelige stürmten die Prager Burg, um gegen die Aushöhlung der ständischen Rechte durch die katholischen Herrscher aus dem Hause Habsburg zu protestieren. Vor allem die Rücknahme des 1609 von Kaiser Rudolf II. ausgestellten Majestätsbriefes, der die Protestanten den Katholiken gleichstellte und ihnen die Religionsfreiheit zusicherte, erregte ihren Unmut. Mit diesem Akt der Auflehnung gegen die obrigkeitliche Bevormundung nahm die heillose Serie kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen konstanten und immer neuen Konfliktparteien ihren Lauf.

Die anschließenden Kriegsphasen verteilen sich folgendermaßen: der böhmisch-pfälzische Krieg (2. Kapitel), der niedersächsisch-dänische Krieg (3. Kapitel), das italienisch-polnische Zwischenspiel (4. Kapitel), dann der schwedische Krieg (5. Kapitel), der in einen nicht endenden Krieg (6. Kapitel) übergeht. Dieser ist durch den Zusammenbruch der schwedischen Herrschaft in Oberdeutschland und den Kriegseintritt Frankreichs gekennzeichnet. Das 7. Kapitel beobachtet die Jahre bis zum Friedensschluss in Osnabrück und Münster, thematisiert aber auch das zeitgleiche Ringen zwischen den nördlichen Nachbarn des Reichs, Schweden und Dänemark, die um die Vorherrschaft im Ostseeraum konkurrieren (dänisch-schwedischer Krieg). Das Augenmerk richtet sich auf den langen Weg zum Frieden, der erst 1648 erzielt wird und mit der Westfälischen Ordnung ein dauerhaftes, alle Seiten einbindendes Vertragswerk erhält. Im 8. Kapitel schließt sich der Kreis, wenn Münkler erneut emphatisch auf den Dreißigjährigen Krieg als historisches Fallbeispiel der Eskalation machtpolitischer und ideologischer Interesse verweist.

Die „Kontinuitätslinien bis zur Gegenwart“, die Münkler identifiziert, sind so einleuchtend, dass seine These vom Dreißigjährigen Krieg, der sich für Strukturanalogien zu den militärischen Auseinandersetzungen unserer Zeit eigne, vollkommen plausibel erscheint. Der Krieg sollte Gegenstand aufmerksamer Betrachtung sein, weil er als Prototyp für nur schwer zu beendende, katastrophale, alle Einhegungen und völkerrechtlichen Vereinbarungen missachtende, gewaltentfesselte Konflikte und Eskalationen gelten kann. Dieses Fazit ist das bestechende Analyseergebnis Münklers. Viele Beobachtungen wie die sich an Wallensteins Tod anschließende strukturelle Veränderung des Kriegsgeschehens, die Auswirkungen auf die Heeresorganisationen und die Dienstverhältnisse der Militärs hatte, oder dass der Dreißigjährige Krieg die Militärdoktrin Deutschlands nachhaltig bestimmte, indem er zu der Überzeugung führte, Deutschland dürfe nicht noch einmal zum Schauplatz eines diffusen, asymmetrischen Krieges mit sehr unterschiedlich motivierten Akteuren, Machtpositionen und Interessenslagen werden − all diese wertvollen Einsichten versteht Münkler in eine Gesamtschau zu integrieren.

In der heutigen post-heroischen Gesellschaft Mitteleuropas gilt nolens volens, dass der Frieden nur ein möglicher Aggregatzustand gesellschaftlicher Ordnung ist, denn Kriege finden wieder (oder weiterhin) allenthalben statt. Damit sie nicht vollkommen die Tagesordnung bestimmen und da, wo sie wüten, begrenzt werden können, fordert der Realist Münkler, das Nachdenken über die militärisch-strategischen Herausforderungen nicht den Sicherheitsberatern, Heeresbeauftragten und militärischen Befehlshabern zu überlassen. Entsprechend will er die zum Teil überausführlichen Darstellungen der großen Schlachten auch als einführende Übung in militärisch-strategisches Denken verstanden wissen.  „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618-1648)“ kümmert sich beinahe pragmatisch um die geschichtlichen Voraussetzungen der Kriege des 21. Jahrhunderts. Es ist lehrreich, kurzweilig, politisch und sogar militärisch aufschlussreich. Es überzeugt nicht zuletzt deshalb, weil es sich von der selbstreferenziellen Eigenlogik der Wissenschaft abstößt und statt einer antiquarischen eine Geschichtsforschung der ‚realen Langzeitwirkung‘ absolviert.

Titelbild

Herfried Münkler: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618-1648.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017.
974 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783871348136

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