Auf der Suche nach sich selbst

Neel Mukherjees Roman „In anderen Herzen“ beschwört die Unvereinbarkeit von Moral und Macht in einem zutiefst gespaltenen Land

Von Justus MakollusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Justus Makollus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Supratik, ältester Enkelsohn des Patriarchen Prafullanath Gosh aus Kalkutta, beschließt eines Tages, auszubrechen. Auszubrechen aus der Welt des Konsums, des Überflusses, des Reichtums. Aus der Welt, die bis zu jenem Zeitpunkt auch seine Welt ist. Unter großen Mühen hat sich der Großvater zu Macht und Wohlstand gekämpft, hat ein kleines Imperium an Fabriken aufgebaut, dass einmal Supratik erben soll. Doch eben dieser kann mit der traditionellen Denkweise seiner Familie nichts anfangen.

Neel Mukherjees zweiter Roman In anderen Herzen (erschienen 2014, englisch: The Lives of Others) ist duchdrungen von der bengalischen Seele: In einer Sprache, die häufig ins poetische Idiom abgleitet, in einem Moment auf den Höhen abendländischer Dichtkunst verweilt und im nächsten auf dem harten dialektalen Boden des Slums aufschlägt, werden die Figuren des Textes körperlich und gewinnen so an Dichte und Fasslichkeit. Der Lautteppich eines Kalkuttaer Morgens dröhnt in den Ohren des Lesers, während sich bald darauf die Stille und atemberaubende Schönheit der Natur Indiens mit ihren pittoresken Formen und Farben ihren Weg vor das geistige Auge bahnen. Die Vielschichtigkeit dieses Landes wird durch die intensiven, sprachgewaltigen Schilderungen des Erzählers allgegenwärtig erfahrbar.

Es ist 1967. In Indien herrscht eine schreckliche Hungersnot. Der Regen lässt seit mehreren Jahren auf sich warten. Bauern sind gezwungen, ihr Hab und Gut zu verpfänden, ihre Ernten als Sicherheiten zu beleihen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Wer kann, geht in die Stadt, um nach Arbeit zu suchen. Doch nur für die wenigsten ist Platz in der Millionenstadt Kalkutta; eine bessere Zukunft bleibt für die meisten ein Traum:

„Äußerste Erschöpfung liegt auf ihren Gesichtern und in den Schatten unter ihren Augen, selbst wenn sie den Schlaf der Fast-Toten schlafen. Nur zehn Fuß trennen sie von der Welt extremen Reichtums. Drinnen-draußen: die Welt zerfällt immer und stets in diese zwei Kategorien.“

Die Goshs sind eindeutig drinnen. Ihr Haus, eine Metapher auf die indische Gesellschaft, hat vier Stockwerke, penibel aufgeteilt nach Ansehen und Einfluss ihrer Bewohner von oben nach unten. Dazu einen Garten, eine Garage mit drei Autos. Sie besitzen Schmuck im Wert von Millionen, teure Kleidung und Geld. Natürlich auch Macht, Einfluss und Freunde bei der örtlichen Polizei. Sie sind abgesichert, frei von Sorgen und damit auch unempfindlich für die Zeichen der Zeit. Revolten, Tumulte und Streiks bestimmen mehr und mehr den Alltag Indiens. Kommunisten und Sozialisten liefern sich einen erbitterten Kampf um die Deutungshoheit, während auf dem Land die Bauern von ihren Grundherren erbarmungslos ausgebeutet werden: „Wir sind dumme, ungebildete Leute, wir können nicht lesen, wir verstehen nicht viel, aber eines zumindest verstehen wir: Die Blutsauger sind noch immer da, ihre Hautfarbe hat sich geändert. Sonst nichts.“

Es ist ausgerechnet diese Welt, in die Supratik hineinflieht, da der ihm zugedachte Platz in der Hierarchie der Familie mehr Pflicht ist als Okkassion, mehr Last als Anreiz. Längst hat der Umbruch auch die Goshs ergriffen: die Firmen gehen pleite, Kinder und Kindeskinder verprassen den Wohlstand, immer im Glauben, dass ihr quasi gottgebenes Recht sie vor dem endgültigen Ruin bewahren würde. Sie sind mehr mit sich als mit dem Rest der Welt beschäftigt und merken so nicht, dass die Veränderung bereits in ihren eigenen Reihen begonnen hat.

Hier, bei den Bauern, fühlt Supratik sich zuhause. Hier spürt der junge Mann, dass nicht nur die Gesellschaft, sondern auch er selbst an dem Projekt einer allumfassenden Revolution wachsen kann, nötigenfalls auch durch phonetische Angleichung:

Keine schlechte Veränderung, oder, von Supratik zu Pratik? Dhiren sagte – Ganz und gar nicht schlecht. Vom ‚Glück verheißenden Symbol‘ zum bloßen ‚Symbol‘. Wer will schon Glück verheißend sein? Bescheuerter Jargon der bourgeoisen ****ser! Auch ich dachte – Nicht schlecht, dieser Gewichtsverlust des Namens. Ich könnte prächtig als Pratik leben, als reines Symbol.

Doch der Antagonismus von Tradition und Progression, von Individuum und Gemeinschaft ist in der Theorie weit leichter zu bewältigen als in der Realität. Schon bald steht auch Supratik vor den unüberwindbar scheinenden Brüchen und Rissen innerhalb seines Weltbildes: „Bedeutet das, dass es vom Ego, vom Selbst, kein Entkommen gibt? Nachdem wir Millionen von Malen Veränder dich selbst, veränder die Welt vor uns hin rezitiert haben, ist das der Erfolg – Scheitern?“

Indien zeigt sich auch 20 Jahre nach seiner Unabhängigkeit als zutiefst gespaltenes Land, dessen Identität noch längst nicht ausgeprägt ist. Gewaltige Kräfte zerren am sozialen Gefüge: der Selbsterhaltungstrieb der Konservativen steht der anarchischen Zerstörungswut der vor allem jungen, gebildeten Menschen gegenüber. Gerade diese wissen jedoch wenig um die eigentlichen Bedürfnisse jener Personen, zu deren Fürsprechern und Vormündern sie sich ernennen. Moralische Grundsätze stehen dem Pragmatismus eines bewaffneten Guerillakrieges gegenüber: Wo die Notwendigkeit zu Verrat, Raub und Mord besteht, kann dem Zweifel kein Recht eingeräumt werden. Die Welt, die Mukherjee hier heraufbeschwört, oszilliert immer in einem Licht der grausamen Bedürfnisse, die die Moralität vollends beseitigen.

Supratik und die Seinen werden von der Staatsmacht verfolgt, eingesperrt, unter entsetzliche Folter gesetzt und getötet. Doch das soziale Fundament Indiens bröckelt bereits erheblich. Der Funke der Revolte ist, einmal entzündet, nicht mehr zu löschen. So setzt er sich fort, dieser Prozess des Aufbaus inmitten des Zerfalls. Die Goshs sind unfähig, auf die neuen Zeichen zu reagieren, sie zu deuten und sich anzupassen. So sind sie dem Untergang preisgegeben.

In anderen Herzen ist durch seine durchdachte Konzeption und seine feinsinnig komponierten Figuren einer der stärksten Romane über Indien, das an großen Dichtern wahrlich keinen Mangel hat. Der Roman zeigt, welche gewaltigen Mächte am Werk sind, wenn es um die Gestaltung einer so banalen Sache wie dem eigenen Leben geht. Totale Kontrolle einerseits, der Drang nach Freiheit und Veränderung andererseits. Doch verliert sich dieser sehr gelungene Text nicht in reiner Revolutionsromantik. Stattdessen führt er die Gegensätzlichkeit von Ideologie und Realität anschaulich und eindringlich vor Augen.

Titelbild

Neel Mukherjee: In anderen Herzen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ditte und Giovanni Bandini.
Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
640 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783956140891

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