Geister, Gesellschaft, Grausamkeiten

André Mumot durchlebt „Geisternächte“ in der Berliner Großstadt

Von Marius MigendaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marius Migenda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem zweiten Roman betritt André Mumot eine Zwischenwelt aus Mystik-Thriller und pointierter Gesellschaftsstudie: Geisternächte (2018) schildert das Schicksal eines Berliner Szenegängers und seiner Schwester, die sich gegen die aktuelle politische Lage auflehnen und dafür einen hohen Preis zahlen.

„Der Tag, an dem Jakob Bechstein ins Koma geprügelt wird, ist einer der schönsten des Sommers.“ Es ist dieses paradoxe Moment, das Mumot stetig in seine Erzählung einfließen lässt, welches den Leser immer tiefer in einen Sog zieht. Mit dem Überfall auf Jakob wird eine Kette von Geschehnissen ausgelöst und es entwickeln sich zwei Handlungsstränge, die immer weiter miteinander verstrickt werden. Während Jakobs Schwester Kathi und sein Geliebter Kenan Akyüz versuchen, die Täter ausfindig zu machen, um sich an ihnen zu rächen, möchte Sophie Kramer den Tod ihres Stiefbruders Finn und das daraus resultierende Familiendrama zwischen ihrer Mutter Irena und ihrem Stiefvater Robert bewältigen. Durch erzählerische Montagen und Überblendungen werden die parallelen Erzählstränge fast filmisch zusammengeschnitten.

Kathi Bechstein wirft ihren Kopf hin und her, verdreht die Augen, und jemand räuspert sich angespannt. Die Mücke lenkt ab. Sie ist kein hilfreicher Geist von der anderen Seite. Ein verdammter Plagegeist ist sie, nichts weiter. Es geht ja schnell, kurz die Finger gelockert und zugeschlagen. Damit Ruhe ist. Manchmal muss man einfach zuschlagen. / Und noch mal, und noch mal. Jakob Bechstein ist nach wie vor erstaunt, über jeden einzelnen Schlag, und die Empörung über das, was ihm passiert, ist schlimmer als der Schmerz.

Die ganze Erzählung wirkt durch diese Montagetechnik wie ein organisches Ganzes. Auch wenn sich die Figuren an unterschiedlichen Orten befinden und zunächst in keiner Verbindung miteinander zu stehen scheinen, werden sie durch Mumots Erzähltechnik in eine zusammengehörige Welt gesetzt.Der Wechsel der Figurenperspektive wird geschickt durch eine Geistermetaphorik gespiegelt: Ebenso wie Kathi Bechstein zwischen der realen Welt und der Geisterwelt wechselt, verändert sich auch der Erzählfokus. Die Motivik, die Mumot für die Gestaltung seiner Geisterwelt verwendet, ist stark durch die nordische Mythologie geprägt. Sophies Glasauge und ihre in Vogelgestalt auftauchenden Erscheinungen erinnern an den einäugigen Gott Odin, der mithilfe seiner beiden Raben über die Welt wacht und als Gott der Toten gilt. An diesen Stellen wird Mumots Inspirationsquelle ersichtlich, übersetzte er doch 2017 Neil Gaimans Werk Norse Mythology ins Deutsche.

Dadurch entwickelt sich eine thrillerhafte Spannung, die den ganzen Roman über andauert, jedoch lediglich der Zündstoff der eigentlichen Erzählung über die Gesellschaft und ihre Strukturen ist. Denn auch wenn Mumot die Geschehnisse mit allerhand mystischen Elementen auflädt, scheint es ihm um etwas anderes zu gehen.

Besonders das zunächst stereotyp anmutende Figuren-Ensemble bereichert die Erzählung. Kathi Bechstein als gescheiterte Schauspielerin, die ihren Unterhalt mit Werbespots verdienen muss, und Jakob Bechstein, der linke, homosexuelle Rebell, der allen Widrigkeiten trotzt und sich gegen das Unrecht in der Welt zu Wehr setzt, bieten dem Leser Identifikationspotentiale. Auf der anderen Seite stehen die Antagonisten in Person des rechtspopulistischen Autors Arvid Schönfeld und dessen Gehilfe Probst Hein, die in ihren radikalen Ideologien so verfangen sind, dass sie nicht nur predigen, sondern auch über Leichen gehen.

Je detaillierter die Figuren eingeführt werden, desto vielschichtiger und glaubhafter erscheinen sie. Sie verlassen ihren Stereotypus, um ein realitätsnahes Bild abzugeben. In dieses Figurengeflecht bettet Mumot die aktuelle politische Situation des Landes ein. Der gesellschaftliche Diskurs um Flucht und Vertreibung, Willkommenskultur und Fremdenhass bildet den Stützpfeiler des Romans. Wer sich als Leser mit den Figuren auseinandersetzt, sei es mit den Protagonisten oder den Antagonisten, befasst sich mit den gesellschaftlichen Strömungen, Ängsten und Hoffnungen, die aktuell in den Medien verfolgt werden können.

Immer wieder verwendet Mumot das Motiv der Umkehrung. So bestätigt sich anfangs stets das Bild, das die Stereotypisierung der Figuren uns aufzuzwingen versucht. Jakob Bechstein wird zunächst als liebenswerter, lebensfroher junger Mann beschrieben, bevor der Leser erfährt, dass er in eine Erpressung verwickelt ist. Kathi Bechsteins schauspielerisches Talent wird nahezu oscarreif dargestellt, bevor offenbart wird, dass sie lediglich in einem Werbespot mitspielt und schon lange keine wirklich anspruchsvolle Rolle mehr übernommen hat. Kurz bevor die Figur jedoch vom Stereotyp der gescheiterten Schauspielerin aufgefressen wird, reflektiert sie ihre eigene Rolle ironisch und entgeht damit einer zu starken Banalisierung. „Ich könnte doch wirklich mal eine Kommissarin spielen oder wenigstens ne Gerichtsmedizinern. Dafür bin ich genau der Typ. Für so kaputte, traumatisierte Frauen, die … was weiß ich … Alkoholprobleme haben oder sich gerade scheiden lassen oder so.“

Auf diese Weise übt der Roman Kritik an einer aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung. Allzu vorschnell werden Urteile über Menschen gefällt, und aufgrund mangelnder Reflexionsfähigkeit lassen sich Vorurteile und gesellschaftlich gefestigte Bilder nur schwer auflösen. Eben solche Klischees bricht Mumot durch seine Erzähltechnik auf.

Auch wenn die Figuren Kathi und Jakob Bechstein sowie ihre Gegenspieler Arvid Schönfeld und Probst Hein hinsichtlich ihrer Beweggründe beleuchtet werden, wäre eine bloße Konfrontation der Figuren recht eintönig. Hier setzt der zweite Erzählstrang um Sophie Kramers Familie ein.

Sophie und ihre Eltern, die eine gebrochene Familie repräsentieren, bewegen sich außerhalb des politischen Kontextes. Sie verdeutlichen die Schattenseiten der kleinsten Einheit der Gesellschaft, der Familie. Sophie flüchtet sich in eine Geisterwelt, um den Tod ihres Bruders bewältigen zu können, während die Eltern sich anschreien, betrügen und auseinanderleben. Sie stehen stellvertretend für die unmittelbaren Probleme eines Menschen, wenn man ihn autonom von der politischen Gesellschaft betrachtet.

Die Unabhängigkeit der beiden Erzählstränge ist Stärke und Schwäche des Romans zugleich. Die Erzählung rund um Sophie Kramer, ihre Eltern und den Tod von Finn ist der tragische Höhepunkt des Romans. Die Umstände, die zum Tod des gerade zwölfjährigen Jungen führen, sind schockierend, und die Tat selbst wird in aller Brutalität und Grausamkeit geschildert. An dieser Stelle überzeugt Mumots Erzählung durch das Erzeugen einer bedrohlichen, nahezu horrorhaften Atmosphäre.

Zwölf Jahre alt ist Finn Kramer […] Der Schlag trifft ihn am Kopf und er fällt vom Sofa wie ein nasser Sack. […] Er ist direkt aufs Gesicht gefallen. Er macht ein würgendes Geräusch. Es könnte sein, dass er erstickt. Es könnte auch sein, dass er Blut am Hinterkopf hat, aber es ist zu dunkel, um das zu erkennen.

In diesem Erzählstrang entfaltet sich die gesamte Spannung des Romans, überschattet dabei jedoch die Erpresser-Story rund um Jakob und Kathi Bechstein.

Betrachtet man Geisternächte als reinen Thriller, in dem die beiden Protagonisten einer Verschwörung der beiden Antagonisten auf die Schliche kommen, würde man aufgrund der Banalität der Erzählung schnell vergessen, was gerade gelesen wurde. Ist man aber bereit, die oberflächliche Thrillererzählung als Anstoß zum Nachdenken zu nehmen, kommt das zunächst verborgene erzählerische Potential des Romans zum Vorschein. Mumots Geschichte  ist eine Diskussion der Gesellschaft, angefangen beim Einzelschicksal eines Kindes, über die Familie und schließlich hin zu ihren prägenden ideologischen Strömungen. Durch das Zusammenspiel von filmisch dynamischer Erzähltechnik  und einem starken Aktualitätsbezug gelingt es Mumot, einen kritischen Blick auf eine sich spaltende Gesellschaft zu werfen. Sprachlich und erzählerisch erzeugt Geisternächte einen starken Sog, der den Leser immer weiter in die Tiefen der Figuren und der Gesellschaft zieht, bis die verborgenen Abgründe zusehends deutlich werden. Die teils drastischen Gewaltschilderungen und die unterschwellige, aber immer stärker werdende Horroratmosphäre ergänzen den Plot und erzeugen so ein stimmiges Gesamtwerk. Der Roman richtet sich an alle, die einen spannenden Thriller lesen wollen, der zugleich die aktuelle Gesellschaft durchblickt, und die dabei eine Vorliebe für das Mystische und Düstere haben. Lediglich zum Ende hin fällt die Spannung zu abrupt ab. Die Figuren gehen ohne ersichtliche Entwicklungen aus den dramatischen Ereignissen hervor und der Roman bricht seine düstere Atmosphäre zu schlagartig auf. Aber vielleicht ist es genau das, was der Titel dem Leser bereits zu suggerieren versucht. Geister suchen die Menschen in der Nacht heim, aber sie verblassen im Angesicht der Realität ebenso schnell, wie sie aufgetaucht sind.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Andre Mumot: Geisternächte. Roman.
Eichborn Verlag, Köln 2018.
414 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783847906476

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