Familie geht an die Substanz

Haruki Murakami beschreibt die Grenzsituation einer Frau, die nicht mehr schläft

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das herkömmliche Ehemodell – der Mann verdient das Geld, die Frau führt den Haushalt und betreut die Kinder – garantiert das Fortbestehen einer Familie, eine Gewähr für das Glücklichsein ihrer Mitglieder bietet es nicht. Haruki Murakami schildert in der im japanischen Original in den 1990er Jahren entstandenen kürzeren Erzählung Schlaf die Depression einer Hausfrau, die ihren Lebensrhythmus ganz den Bedürfnissen ihres Mannes, eines erfolgreichen Zahnarztes, und des Sohns im Grundschulalter angepasst hat. Der gleichförmige Takt dieser Mittelklasse-Existenzweise verhindert es, dass sie eigenen Interessen nachgehen kann – vor allem die ausgedehnten Lektürestunden ihrer Studienzeit fehlen der namenlosen Protagonistin. Während Mann und Sohn mit der Monotonie des Alltags – manche nennen es Normalität – scheinbar völlig zufrieden sind, fühlt sie sich von Belanglosigkeit vereinnahmt.

Eines Tages gerät sie an ihre Grenzen. Nachdem ihr im Traum eine seltsame unheimliche Gestalt, die an das Fabelwesen „Mottenmann“ erinnert, begegnet, findet sie keinen Schlaf mehr. In Kombination mit Lew Tolstoi, lange entbehrten Schokoladenrationen, stetig zugeführtem Cognac und einigen nächtlichen Auto-Ausflügen entdeckt sie die Möglichkeit, die der Mangel an Schlafbedürfnis bietet: Ein zweites, vor der Familie verborgenes eigenes Leben. Dazu gehört es auch, dass sie im Schwimmbad etliche Bahnen macht, zugleich aber nur „kurze Grußworte“ austauscht, wenn sie Bekannte trifft und sich generell aus dem Sozialeben zurückzieht: „Ich wollte mit niemandem etwas zu tun haben. Ich hatte keine Zeit mehr für sinnloses Gerede“. Selbst bei der Familie funktioniert sie nur noch auf der Oberfläche, leistet ihren Dienst mechanisch ab, ist geistig jedoch abwesend. Während die Frau den Zustand als durchaus befreiend empfindet, bemerkt die Umgebung offenbar nichts von der Veränderung. Ein Arzt, den sie freilich nicht aufsucht, hätte wohl Schlaflosigkeitsneurose und Depression diagnostiziert.

Der Autor echot in der Erzählung ebenso treffende wie allgemeingültige Erkenntnisse einer Frau in der Ehefalle, die ihren seelenruhig schlafenden Mann betrachtet:

Das Muttermal unter seinem Auge sah ungewöhnlich groß und gemein aus. Auch die Art der geschlossenen Augen war irgendwie ordinär. Die Augenlider waren schlaff und sahen wie verfärbte Fleischlappen aus. Wie ein Idiot schläft er, dachte ich. […]  Wie hässlich sein Gesicht beim Schlafen ist. Widerlich. Es muss früher anders gewesen sein.

Der Grund für die Entfremdung, die hier dargestellt wird, liegt schon Jahre zurück, als der Zahnarzt bei einer Einmischung seiner Mutter in Familienbelange nicht für seine Frau Position bezogen hatte. Der Sohn wiederum gerät ganz nach dem Vater und sieht leider der ungeliebten Schwiegermutter ähnlich.

Murakami begleitet seine Protagonistin und ihr Dasein mit Sympathie. Das Kind erkrankt an Durchfall, der Mann wartet mit dem Gesprächsthema Zahnstein auf. Die schlaflose Heldin, die an der Universität Literatur studiert und eine Abschlussarbeit zur neuseeländisch-britischen Schriftstellerin und Meisterin der modernen Kurzgeschichte, Katherine Mansfield (1888–1923), geschrieben hat, leidet an „Boreout“, chronischer intellektueller Unterforderung und an Isolation. Am Ende steht eine beängstigende Szene zwischen Alptraum und Psychodrama.

Der schmale Band ist sehr ansprechend mit Illustrationen von Kat Menschik ausgestattet. Ein schönes Geschenk – zum Beispiel für eine Braut.

Titelbild

Haruki Murakami: Schlaf. Erzählung.
Übersetzt aus dem Japanischen von Nora Bierich.
DuMont Buchverlag, Köln 2018.
80 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783832161361

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