Musik und Literatur

Skizze einer Forschungslandschaft

Von Andreas KäuserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Käuser

Im Roman Panikherz von Benjamin von Stuckrad-Barre spielt der Rockmusiker Udo Lindenberg eine gewichtige Rolle, die sowohl autobiografisch wie auch poetologisch begründet ist. Dass die Pop- und Rockmusik für das Genre der Popliteratur, zu der Stuckrad-Barre gehört, einige Bedeutsamkeit hat, ist bekannt; dass diese Rockmusik wesentlich durch  den elektrisch verstärkten Klang ihre medienkulturelle Relevanz besitzt, ist ebenfalls nicht zu bestreiten, abgesehen vom anerkannten literarischen Wert der Songs Lindenbergs. Zu klären ist, abgesehen vom autobiografischen Wert Lindenbergs für die Existenzkrise von Stuckrad-Barre, die poetologische Funktion, die Lindenberg als Figuration und Figur im Roman einnimmt. Hintergrund ist die Frage, warum mit solcher Relevanz und in welcher Form der Klang der Musik in neuere literarische Werke insbesondere der Prosa integriert wird und wie diese relevante Funktion literaturwissenschaftlich zu erklären ist. Denn auch Sven Regener oder Marcel Beyer orientieren ihre Romane jeweils anders am musikalischen oder musikähnlichen akustischen Klang etwa der Stimme oder akustischer Phänomene und Dokumente, wie dies vorher schon Franz Kafka, Thomas Mann und Thomas Bernhard getan hatten. Skizziert werden die wissenschaftlichen Herangehensweisen und neueren Fragehorizonte, mit denen die medienkulturelle Bedeutung von Musik als Klang, die diese für literarische und insofern musikalische Prosa hat, erklärt und erforscht werden kann. Ebenfalls bedeutend ist die Frage, wie und in welchen Formaten der unsichtbare und nur hörbare Klang versprachlicht und vermittelt, visuell oder grafisch medialisiert werden kann.

Musik wird derzeit von einem gewichtigen Teil der Wissenschaft weniger als autonome „absolute“ (Carl Dahlhaus) Musik behandelt, wie dies Puristen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis Theodor W. Adorno immer wieder gefordert hatten, indem sie das „Material“ oder die „Technik“ der Musik, also Notenschrift, Partitur, Harmonielehre etc. ins Zentrum von Musiktheorie und -ästhetik rückten. Musik wird vielmehr – oft abseits der etablierten Musikwissenschaft – eingebettet in diverse Diskursformationen und medienkulturelle Zusammenhänge, die vor allem auch den sozialen und mitunter politischen Gehalt oder Symptomwert der Musik hervorheben und als „Konstellationen“ untersuchen (Stockhammer 2017, Mrozek 2019). Diese interdisziplinäre Perspektive als wissenschaftliche Heuristik entspringt insofern diversen intermedialen Referenzen und Affinitäten, was jüngst zwei Handbücher dokumentieren (Gess/Honold 2017; Nicklas 2019). Es scheint außerdem, dass dies kein defizitärer Mängelbefund ist, sondern dass etwa neurologisch – physiologische Erforschungen der Hörens oder die Soundstudies der Medienwissenschaft (Morat 2017) oder schließlich die theoretische und feuilletonistische Aufwertung der Pop- und Rockmusik – etwa in den Arbeiten von Diedrich Diederichsen – den Erkundungen über Musik ganz neue Felder erschlossen und zur „Kunstmusik“ (Lubkoll 2008, 197f.) nobilitiert haben, was früher als „electronic noise“ (John Lennon, George Harrison) gegolten hatte.

Würde man etwa Adornos Diktum, dass Musik nur als autonome auch ein wissenschaftsadäquates Untersuchungsfeld darstellt und alle heteronomen Beimischungen nur ein „Ausfransen“ auch der Musiktheorie bewirken, so müsste dieser interdisziplinäre Zugriff eher als Manko und Regression gelten, entsprechend der Abwertung von populärer Musik durch Adorno. Ergebnis dieser Erweiterungen, die auch begriffshistorische und definitorische Voraussetzungen und Konsequenzen einschließen, ist die Neubestimmung von Musik als Klang, so dass die Autonomie der Musik nunmehr als „Autonomie des Klangs“ (Hindrichs 2014, 7) bestimmt wird, was indessen keine überzeitliche „Ontologie“ (Hindrichs 2014, 7) der Musik darstellt, sondern medien-, begriffs-, und wissenschaftshistorisch sehr genau verortet werden kann (Klein 2014). Der Klang fremder Kulturen wie derjenige des afrikanischen Blues oder früherer Epochen wie der Gesänge Hildegard von Bingens ist verschwunden und erhält erst durch medientechnische Reproduzierbarkeit ein phonografisches „Sein“ (Hindrichs 2014, 14).

Diese Medienvergessenheit kennzeichnet viele soziologische und philosophische Arbeiten, die dem Sound oder der musikaffinen Resonanz im gleichnamigen Buch von Hartmut Rosa gewidmet sind, ohne deren mediale Abhängigkeit gebührend und vor allem methodisch  zu berücksichtigen. Fasst man Literatur als Medium auf, so stellt der literarische Text eine solche historisch genau situierte Verschriftlichung und Vertextung des Klangs dar, etwa in vielen Varianten der sogenannten Popliteratur. Auch dem Literaturnobelpreisträger Bob Dylan wird man nur gerecht, wenn man seine Never Ending Tour von Konzerten und Neuinterpretationen des eigenen Werks seit 1988 als performativen Akt und so als Realisierung und Inszenierung von Musik als Klang berücksichtigt. Seit Johann Wolfgang von Goethes Tonlehre und Johann Gottfried Herders musiktheoretischen Überlegungen wird das intermediale Verhältnis von Musik und Literatur bedacht (Schanze 2009).

Diese begriffliche Veränderung impliziert auch, dass Musik als Sprache und im Notentext exklusive handwerkliche und technische Fertigkeiten zur Musikhervorbringung durch professionelle Musiker benötigte, die Instrumente sowie die Stimme beherrschen und vor allem die Notenschrift lesen und schreiben können. Das Verhältnis von Sprache und Musik wurde und wird deswegen intensiv diskutiert von E.T.A. Hoffmann über Friedrich Nietzsche, Adorno bis zu Albrecht Wellmer (Wellmer 2009), weil es in eine neue diskursive und semiotische Ordnung getreten ist. Die Eigenständigkeit der Notenschrift inklusive der entsprechenden Lese- und Schreibkompetenz sowie der Übersetzbarkeit von Musik in Klangrede ist nicht mehr gegeben in der populären und elektronischen Musik, die im Extremfall durch Computer hervorgebracht wird, wodurch die Koppelung von Sprache und Musik gleichsam digital und elektronisch ersetzt wird. Musik als Klang drängt die musikalische Textkompetenz der Notenschrift zurück, inklusive der entsprechenden Harmonielehren oder der Erweiterung von acht auf zwölf Töne in der Zwölftonmusik der Schule Arnold Schönbergs. Als Klang ist Musik nicht mehr nur „Klang-Rede“ (Nikolaus Harnoncourt, Klein 2015, 12), sondern macht Erkundungen über Musik und Schrift als Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notationen (Ratzinger, Urbanek, Zehetmayer 2019) erforderlich.

Verliert Musik so ihren der Sprache angeglichenen Textstatus, den Notenschrift und  Partitur in der europäischen Kunstmusik gesichert hatten, so hat dies auch weitreichende wissenschaftstheoretische und kulturhistorische Folgen, was bereits Max Weber in Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik von 1921 und Georg Simmel zum Rhythmus am Beginn des 20. Jahrhunderts in anthropologisch-ethnologischer und soziologischer Perspektive analysiert haben (Kalisch 2016). Hatten die phonografischen Aufzeichnungen Erich Moritz von Hornbostels (dessen diesbezügliches Phonogramm-Archiv von Tonmaterial afrikanischer Musik noch heute in Berlin existiert) seit 1904 eine mediale Aufzeichnung der fremden Klänge indigener Völker Afrikas ermöglicht und geliefert, so hatte dies die ethnologischen Folgen einer Relativierung eurozentristischer Musikvorstellungen zur Folge. Dass diese Anerkennung und zuvörderst Kennung der Musik Afrikas später zur „schwarzen“ Musik Amerikas beitrug, sei nur am Rande vermerkt zu den Ursprüngen der noch späteren Pop-, Jazz-,  und Rockmusik.

Wird Musik weniger vom Text und seiner Bedeutung her verstanden, sondern stärker vom Klang und seiner Hörbarkeit, dann hat die Veränderung und Erweiterung des Gegenstandsgebiets auch eine interdisziplinäre Erweiterung der Epistemologie der Musik zur Folge, die den linguistic hin zum anthropological turn erweitert, insofern es nun weniger um die Semantik der Musik als Text, sondern um die Hörbarkeit der Musik als Ton geht (Lévi-Strauss 2004, 90ff.). Gegenüber dem Takt gewinnt der Rhythmus, gegenüber der Harmonie die Melodie an Bedeutung. Musik wird eher vom Körper etwa im Tanz als vom Intellekt in der Lektüre der Noten bestimmt; das „Hör-Wissen“ (Morat 2017) ist nicht nur ein Vorgang ständiger Sound-Berieselung, sondern ein ernst zu nehmender Gegenstand diverser Forschungen. Der Vorgang beginnt im späten 18. Jahrhundert durch die Aufwertung der Instrumentalmusik gegenüber der  Identifizierung von Sprache und Musik in der Klangrede der Vokalmusik und wird von Autoren wie Jean-Jacques Rousseau und Herder reflektiert und zum Theoriemodell.

Herder ist für Hellmuth Plessner der Begründer einer anthropologisch fundierten Medienästhetik, die für seine umfassende philosophische Anthropologie einige Bedeutsamkeit hatte und deren Aktualität durch die neuerliche Publikation seiner Vorlesung an der Universität Göttingen von 1961 bekräftigt wird (Plessner 2019; vgl. auch Herrmann 2019). Insbesondere geht es dabei um den „gestischen Charakter der Musik“ (Adorno 1997b, 10), also die Verkörperungsleistung, die diverse Gesten wie Musizieren und Dirigieren als mimisch-nachahmendes Verhalten für die körperlose und immaterielle „Voluminosität“ als „raumhafte“ Eigenschaft vom „Klangcharakter“ (Plessner 2019, 237) einnehmen. Musikalische Gesten können sowohl diejenigen der DirigentenBilder (Stollberg/Weißenfeld/Besthorn 2015), wie diejenigen der auf- und ausführenden Musiker als „Ausdrucksgebärde“ (Klein 2015) sein.

„Musik machen“ (Adorno 2001d, 13) als gestische Hervorbringung durch Stimmen oder Instrumente ermöglicht dabei den performativen Charakter von Musik im Klangereignis des Konzerts oder in Medien wie Schallplatte und CD (Eggers/Grüny 2018). Dem Klavierspielen als Inkarnation moderner bürgerlicher Musikkultur sind dabei bemerkenswerte Arbeiten gewidmet, die die Klavierzerstörung (Schmidt 2013) oder die Archäologie der Tastatur (Haffke 2019) behandeln. Wissenschaftshistorisch und anthropologietheoretisch sind hierfür das „Auge-Hand-Feld“ (Plessner 2019, 45ff.; Klein 2015) grundlegend sowie die Stimme (vgl. die Arbeiten von Sibylle Krämer u.a.) beziehungsweise das synästhetische Verhältnis von Sehen und Hören, visueller  und akustischer Wahrnehmung als Basisoperation und Kulturtechniken jeder Medienästhetik (Schnell 2000).

An diesen performativen Anwendungen und medialen Applikationen in der Hervorbringung von Musik wird deutlich, dass ein Verständnis des gestischen Charakters von Musik als subjektiver oder emotionaler „Ausdruck“ (Eggers/Grüny 2018; Klein 2015) zu kurz greift und um die Darstellungsleistung musikalischer Gestik erweitert werden muss. So wird auch eine Herleitung der modernen Beziehung von Literatur und Musik möglich: der literarische Text, insbesondere Prosa stellt das gestische Potenzial der Musik dar sowie das dadurch problematisch gewordene Verhältnis von Musik und Sprache, welches insbesondere seit der Emanzipation von Klang, Ton und Instrumentalmusik virulent und relevant geworden ist. Der musiktheoretische Diskurs ist dieser Problemlage integriert, so dass er als eingezogener Diskurs zu gelten hat, der über eine eigene Literarizität und Narration verfügt, die etwa im Genre des Essays als Noten zur Literatur (Adorno) zutage tritt und musikanalog verfährt. Diese Angleichung literarischer Verfahren an den Gegenstand Musik lässt sich am musikkritischen Feuilleton beobachten und nachweisen, welches seit E.T.A. Hoffmann, Nietzsche und Adorno ein Subgenre musikalischer Prosa darstellt und in Arbeiten von Nicola Gess oder beispielsweise zu Goethe (Schanze 2009) untersucht wurde.

Die gleichsam oberflächliche und äußerliche, entäußernde Gestik der Musik, die im Klavierspielen oder Dirigieren und Singen zutage tritt, wird überboten durch einen „imaginären“ (K. Ludwig Pfeiffer) Aspekt von Musik als Medium, der sich etwa in literarischen Imaginationen von Musik niederschlägt und insbesondere eine für die moderne Literatur typische Affinität zwischen Roman und Musik darstellt. So hat Michail Bachtin den „polyphonen Roman“ mit seiner die Musik imitierenden „Stimmenvielfalt“ (Bauer 2005, 124ff.)  als innovative und für die Moderne kennzeichnende Poetik und Praxis des Romans herausgestellt. Beginnend in der Romantik bei E.T.A. Hoffmann wird die Musik Leitkunst und Leitmedium für Thomas Mann, Franz Kafka oder Thomas Bernhard (Diller 2011), um nur einige zu nennen, deren Stil und Schreibweise musikanalog verfahren. Dies können im literarischen Prosatext imaginierte Dirigenten oder Musiker sein wie in Denis Diderots von Goethe übersetztem Le Neveu de Rameau oder Hoffmanns von Robert Schumann vertonten Kreisleriana oder Dialog sowie „Stimmen- Rede- und Sprachenvielfalt“ (Bauer, 2005, 125) in Manns Doktor Faustus.

Dabei eröffnet die Frage, wie und warum die körperzentrierte Produktion und Rezeption von Musik durch Klang, Stimme und Geste in den literarischen Text der Prosa gelangt, weitreichende musiktheoretische wie romanpoetologische Perspektiven. Findet Musiktheorie  im Medium von Text und Diskurs statt, dann ist zu fragen, wie dieser Diskurs aussieht, dann, wenn Musik als körperzentrierter Klang von Text und Sprache entkoppelt wird und in welchen Formen diese Vermittlung von Klang und Text als Medialisierung von Musik in einem zweiten Schritt stattfindet. Dies erklärt die gestiegene Relevanz diverser intermedialer Verhältnisse in der derzeitigen Wissenschafts- und Medienkultur, inklusive des besonderen Verhältnisses von Musik und Literatur. Medialisierung bedeutet auch den Übergang von Musik als Ausdrucksgebärde (Klein 2015) des Subjekts zu kollektiven Darstellungsformen der Musik, seien dies nun Konzerte oder Romane.

Insbesondere die „soziale Rolle“ in Analogie zum Schauspieler (Plessner 2019, 138ff.) bietet dabei ein Erklärungsmodell an, insofern der abstrakte und körperlose Klang eine „Figuration“ erhält, die der Individualisierung der Prosa als Form der Individualität im Roman (Clemens Lugowski) konform ist und korrespondiert. Romanpoetologisch gesehen gelangen die diversen Figuren des Musikers ins Personenensemble des Romans und repräsentieren dort musikalische Phänomene wie Klang oder Tanz, die Gestik des Dirigenten oder die Stimme der Sänger. So gelangt auch der Rockmusiker Udo Lindenberg in Benjamin Stuckrad-Barres Roman Panikherz, wo er eine über das Autobiografische hinausgehende romanpoetologische Rolle spielt und die Funktion der Resonanz zum Ich des Erzählers einnimmt. So wird die rhetorische Redefigur der Figuration kombiniert mit der individuellen Figur oder Person als Romangestalt, was mit Adorno gegen Eckel (Eckel 2015) erweiternd eingewendet werden kann. Redefiguren werden dabei zu den charakteristischen Stimmen und Redeweisen der epischen Protagonisten wie etwa Adrian Leverkühn und sein Widerpart Serenus Zeitblom in Manns Doktor Faustus. Der „Name“ der musizierenden „Person“, welcher „tönt“ und klingt, ist dabei die einfachste und wirkmächtigste musikanaloge sprachliche Geste im Roman (Plessner 2019, 135–137) wie Kreisler oder in der Musik wie Mozart oder den Beatles.

Im Entwurf von „Typen musikalischen Verhaltens“ (Adorno 1997a, 178) aus der Einleitung in die Musiksoziologie von 1962 sind diese Personen individualisierbare „Menschen“ und insofern romanaffine oder prosafähige Typen mit entsprechenden Gesten und Redefiguren wie der bildungsbürgerliche Experte oder der dilettierende Jazz- und Rockmusiker, der keine Noten lesen kann. Ist die Typologie musikalischen Verhaltens auch eine über den „gestischen Charakter der Musik“ (Adorno 1997b, 10), so verweist Adorno auf die Nähe zum epischen Theaterkonzept Bertolt Brechts wie auch dessen Filmexperimente, womit die intermediale Beziehung von Musik und Literatur auch methodisch hervorgehoben wird: „Das konkrete Einheitsmoment von Musik und Film liegt in der Gestik.“ (Adorno 1997b, 77) und erfordert  für Musiktheorie  konsequenterweise eine „konkrete Physiognomik“ etwa der „gesellschaftlichen Gestik der Musik von Chopin“ (Adorno 1997c, 18/19) oder der „Maske“ der musizierenden „Person“ (Plessner 2019, 135). Dieser Ansatz stellt aber sowohl für die Theorie wie für die Musik eine hohe Affinität zu literarischen Darstellungsweisen heraus in der konvergenten Musikalisierung der epischen Literatur sowie in der Literarisierung der Musik-Theorie, die im Schreiben und im Stil von Adornos Musikdiskurs evident ist.

Soll die Einleitung in die Musiksoziologie in das Gesamtkonzept der Frankfurter Schule einleiten, dann sind offenbar die methodischen Probleme der Musiksoziologie auch solche einer Gesellschaftsanalyse insgesamt. Ähnlich wie für Plessner hinsichtlich der Sprache ist dabei das „Vermitteln“ (Plessner 2019, 69) als Medialisierung einer „Vermittlung von Musik und Gesellschaft“ als methodisches Problem (Adorno 1997a, 418) zentral. Dass diese besondere Stellung der Musik innerhalb einer allgemeinen Gesellschaftstheorie noch heute gilt, belegt der musikaffine Begriff der Resonanz in der Gesellschaftstheorie von Hartmut Rosa, der indessen das Resonanzpotential diverser sozialer Medien nur beiläufig oder gar nicht berücksichtigt und insofern auch das Methodenproblem der Medialisierung und Vermittlung für eine soziale Theorie anders als Plessner und Adorno nicht sieht. „Aller Musik […] eignet unabdingbar ein kollektiver Gehalt: jeder Klang allein schon sagt Wir.“ (Adorno 1997c, 18); dies markiert den gesellschaftlichen Wert einer sozialen Kohäsion und insofern die theoretischen Implikationen dieser Musikvorstellung etwa im intermedialen Verhältnis zum literarischen Text.

Wird Musik als Klang Leitkunst  für die literarische Prosa der Moderne, dann schließt dies noch eine andere Lücke dieses epochalen Wandels. Denn der Visualisierungsbedarf, der für den körper- und unsichtbaren Klang als Leitmedium entsteht, kann von der Schrift des Textes ergänzt werden. Der Notentext hatte auch diese Funktion erfüllt, Musik in ein analoges Verhältnis zur sichtbaren Schrift zu übersetzen, eine Leerstelle, die dann entsteht, wenn Notenschrift und Musik als Klang nicht mehr kompatibel sind. Wird in der Moderne aus der ut pictura poesis die ut musica poesis (Eckel 2015), dann entsteht ein Bild- und Visualisierungsbedarf, der nicht mehr von den bildenden Künsten oder der Mimesis-Lehre gedeckt wird. Für diesen Visualisierungsbedarf ist das intermediale Verhältnis von Klang und Prosa eine prominente und hilfreiche Relation, da der literarische Text in all seinen Facetten eine grafische, schriftliche und insofern auch visuelle und optische Funktion erhält und Ergänzung erfüllt. Auch die gestische Verkörperung des Klangs stellt ja eine solche Visualisierungsleistung dar, auch dann, wenn es sich um imaginäre oder imaginative, aber eben bildproduzierende Verfahren, Formen und Bilder als images und nicht pictures handelt. Hatte der Notentext die Sichtbarkeit der Musik gewährleistet, so erfüllt diesen medialen Modus der Visualisierung der literarische oder diskursive Text dann, wenn Musik als Klang definiert wird und erscheint oder real wird. Wird die moderne Musikkultur vom Klang oder Sound beherrscht, dann steigert dies den Bedarf an erläuternden Textsorten, die die Unsichtbarkeit des Klangs kompensieren oder mimisch imitieren.

Als Klang geschieht oder ereignet sich Musik primär im Machen oder Spielen von Musik, also einer an die Aufführung gekoppelten und nur dort realisierten Klang- und Tonerzeugung durch Instrument, Stimme und musikalisches Handwerk sowie deren mediale Aufzeichnung und Reproduktion. Dass Musikhervorbringung und Widergabe, Emergenz und Reproduktion getrennt werden müssen, sieht man an den unterschiedlichen Interpretationen derselben Partituren, die den Musikmarkt beherrschen. Daran zeigt sich auch die Engführung einer Musikdefinition als Klangerzeugung: Der Text, die Partitur bleibt gleich, die Interpretation differiert und dominiert, zumal die „Kenner“ und Experten, die die Partitur lesen können, stetig abnehmen; das vom „Blatt lesen“ gehörte früher zur weit verbreiteten Kulturtechnik etwa im Rahmen der bürgerlichen Kultur des gemeinsamen Singens in Chören oder der Familie. Aber auch in der Pop- und Rockmusik wird der Anteil von Musik als Handwerk oder téchne zurückgedrängt, indem die Musik wesentlich elektrisch oder elektronisch verstärkt hervorgebracht wird und auch der Anteil der Partitur als verschriftlichte Musik reduziert wird: Dies fördert eine Differenzierung des Klangs etwa durch immer genauere Improvisationen und andere Interpretationen, aber auch durch beständige Mediendifferenzierung in „Studios für neue Musik“, welche Klang immer genauer analysieren und reproduzieren.

Man könnte erwarten, dass diese beständige Klangdifferenzierung durch fortschreitende mediale Differenzierung eine Differenzierung und Konzentrierung des Hörvermögens oder des Hör-Wissens (Morat 2017) zur Folge hat, also die durch diverse Soundmaschinen und Medien wesentlich beförderte „Regression des Hörens“ (Adorno) medientechnisch behoben wird, indem die älteren Medien wie Schallplatte ebenso wenig verschwinden wie die historische Aufführungspraxis. Also könnte es sein, dass an die Stelle des kulturtechnisch obsolet gewordenen „Kenners“ des Musikers als Handwerker, der Noten lesen kann und vom Blatt singen kann, der „HörTyp“ des genauen und konzentrierten Hörenden oder Lesenden getreten ist, um Adornos musiksoziologische Typologie ein wenig anzupassen an die derzeitigen Gegebenheiten. Leser von Romanen oder musikalischer Prosa dokumentieren eine anthropologische Verschiebung (Adorno); der Konzertbesucher goutiert das Musik-Machen als ein poetisches Vermögen im Musik-Hören, was eine weitere Referenz zwischen Musik und Literatur darstellt: Das Schreiben von Literatur ist ein kreativer Akt ebenso wie das Musizieren im Konzert, so dass Schriftsteller und Musiker im Akt und Prozess der Herstellung von veränderlichen Produkten zueinander finden, auch indem beide eine Rolle dabei einnehmen, die durchaus verschieden ist vom Autor als eigenem Ich oder dem Autor, dessen Partitur interpretiert und nachgespielt wird.

Sowohl der Akt der poetischen Herstellung wie der Akt der performativen Darstellung bringen Musiker und Schriftsteller im „Machen“ zusammen. Wird eine Musikkultur, die vom Klang beherrscht wird, auf das Hören reduziert, so generiert dieselbe Musikkultur das Genre der musikalischen Prosa, um den Akt des Lesens (Wolfgang Iser) auch für Musik aufrecht zu halten. Verklanglichung oder Oralisierung von Literatur im Hörbuch oder in Poetry Slams ist ein konvergenter Vorgang, der durch die digitale Plattform ermöglicht wird, die nicht ein analoges Verhältnis von Musik und Literatur wie in der Klangrede oder im Gesamtkunstwerk generiert, sondern ein digitales zwischen Klang und Prosa, welches konvergente Relationen zulässt. So können ältere Medien wie Schallplatte oder Studios für elektronische Musik ihre ausdrücklichen Klangqualitäten im digitalen neueren Medium aufbewahren und reproduzieren. Ebenso tritt das alte Medium der Schrift als Basis des literarischen Texts in ein konvergentes Verhältnis zum Klang, den der Text nur bedingt mimetisch nachahmen kann, den er aber mimisch und gestisch im Akt des Schreibens imitieren kann, so dass ein Verhältnis von Mimesis und Alterität (Michael Taussig) das neu geordnete Verhältnis von Musik und Literatur als Relation von Klang und Prosa kennzeichnet.

Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie, Gesammelte Schriften 14, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997 (Adorno a)

Adorno, Theodor W./Hanns Eisler: Komposition für den Film, Gesammelte Schriften Bd. 15, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997 (Adorno b)

Adorno, Theodor W.: Klangfiguren, in: Gesammelte Schriften 16, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt 1997 (Adorno c)

Adorno, Theodor W.: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Nachgelassene Schriften 1.2., hg. v. Theodor W. Adorno – Archiv, Frankfurt a. M. 2001 (Adorno d)

Bauer, Matthias: Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung, 2. Auflage, Stuttgart, Weimar 2005

Diller, Axel: „Ein literarischer Komponist?“ Musikalische Strukturen in der späten Prosa Thomas Bernhards, Heidelberg 2011  

Eckel, Winfried: Ut musica poesis. Die Literatur der Moderne aus dem Geist der Musik. Ein Beitrag zur Poetik der Figuration, Paderborn 2015

Eggers, Katrin/Grüny, Christian (Hg.): Musik und Geste. Theorien, Ansätze, Perspektiven, Paderborn 2018

Gess, Nicola/Honold Alexander (Hg.): Handbuch Literatur & Musik (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie Bd. 2) Berlin/Boston 2017

Haffke, Maren: Archäologie der Tastatur. Musikalische Medien nach Friedrich Kittler und Wolfgang Scherer, Paderborn 2019

Herrmann, Britta (Hg.): Anthropologie und Ästhetik. Interdisziplinäre Perspektiven, Paderborn 2019

Hindrichs, Gunnar: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin 2014

Kalisch, Volker (Hg.): Musiksoziologie (Kompendien Musik Bd. 8), Laaber 2016

Klein, Richard: Musikphilosophie zur Einführung, Hamburg 2014

Klein, Tobias Robert: Musik als Ausdrucksgebärde. Beiträge zur kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Erforschung der Körperkommunikation, Paderborn 2015

Lévi-Strauss: Claude: Sehen, Hören, Lesen, Frankfurt 2004

Lubkoll, Christine: Art. „Kunstmusik“, in: Butzer, Günter/Jakob, Joachim (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar 2008, S. 197–198.

Morat, Daniel/Netzwerk „Hör-Wissen im Wandel“ (Hg.): Wissensgeschichte des Hörens in der Moderne, Berlin/Boston 2017

Mrozek, Bodo: Jugend, Pop, Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019

Nicklas, Pascal (Hg.): Literatur und Musik im Künstevergleich. Empirische und hermeneutische Methoden, Berlin/Boston 2019

Plessner, Helmuth: Philosophische Anthropologie. Göttinger Vorlesung vom Sommersemester 1961, Berlin 2019

Ratzinger Carolin/Urbanek, Nikolaus/Zehetmayer, Sophie (Hg.): Musik und Schrift. Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notationen, Paderborn 2019

Schanze, Helmut: Goethe-Musik, Paderborn 2009

Schmidt, Gunnar: Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur, Berlin 2013

Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart/Weimar 2000

Stockhammer, Robert: 1967. Pop, Grammatologie und Politik, Paderborn 2017

Stollberg, Arne/Weißenfeld, Jana/Besthorn, Florian Henri (Hg.): DirigentenBilder. Musikalische Gesten – verkörperte Musik, Basel 2015

Wellmer, Albrecht: Versuch über Musik und Sprache, München 2009