Ein Leben zwischen Fakt und Fiktion

Über Thorsten Nagelschmidts autobiografischen Roman „Der Abfall der Herzen“

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mehr oder minder autobiografische Romane über die mehr oder minder wilde Jugend und die Zumutungen des Erwachsenenwerdens sind seit J.D. Salingers Klassiker Der Fänger im Roggen ein äußerst beliebtes Genre und führen uns über Benjamin Leberts Crazy bis hin zu Helene Hegemanns Axolotl Roadkill oder Clemens Meyers Trabanten. Nun erzählt auch der 1976 im eher beschaulichen Münsterland geborene Thorsten Nagelschmidt autobiografisch von jenem „Sommer, in dem unsere Welt in 1000 Teile zerbrach, die sich nie wieder zu einem Ganzen fügten.“

Nagelschmidts Ich-Erzähler Nagel ist Anfang 20 und lebt in jenem Sommer 1999 im westfälischen Rheine in einer WG mit Tommi und Richter. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und lebt ansonsten fürs Feiern und für seine Band. Es ist die Zeit nach der Wiedervereinigung und nach dem Kalten Krieg, es ist die Zeit von Pulp Fiction und Lola rennt, von The Cure, Joy Division, Punk, Grunge und Crossover. Es ist eine Zeit, in der alles möglich zu sein scheint, in der aber nichts passiert und in der schon vom „Ende der Geschichte“ die Rede ist.

Rund um Nagel und seine WG versammelt sich ein Kosmos von schrägen und kaputten Typen aus der linken Subkultur, die sich durch den Alltag schlagen, sich mit Faschos prügeln, sich ausprobieren und hemmungslos verschwenden. Als nach vielen Jahren Nagels Beziehung zu seiner Freundin Nina auseinanderbricht, droht er vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren. Seinen Schmerz und Frust bekämpft er vehement mit Alkohol und anderen rauschhaften Substanzen und trudelt und torkelt durch sein Leben: „Es lag etwas in der Luft, etwas durch und durch Destruktives“.

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Jahres 2015: Nagel ist nach Berlin gezogen und laboriert an einem Roman namens „Kuba-Krise“. Auf keinen Fall will er so ein „Erinnerungsding“ schreiben über Kleinstadt, Musik, Gewalt und Liebeskummer, über die Rebellion gegen „diese gepolsterte Welt aus Reihenhäusern, Schützenfesten und Verkehrsberuhigung“ – um dann genau dies doch zu tun. Systematisch recherchiert er die Vergangenheit, besucht seine in Deutschland verstreut lebenden alten Freunde und führt Interviews mit ihnen, um jenen Sommer 1999 und den Zeitgeist rund um die Jahrtausendwende zu rekonstruieren. Doch immer wieder stößt Nagel auf die Unzuverlässigkeit der Erinnerung, die sich stetig verändert, die ausblendet, rechtfertigt, schönfärbt, selektiert. Er sieht ein: „Wenn ich der Wahrheit näher kommen will, muss ich sie erfinden.“

Die Geschichte des Sommers 1999 selber wird von Thorsten Nagelschmidt in einem detaillierten Alltagsrealismus und ohne großen Spannungsbogen erzählt. Er führt den Leser durch die Kneipen- und kulturell angehauchte Undergroundszene des mittelgroßen Städtchens Rheine, nimmt ihn mit auf Trips nach Ibbenbüren, Osnabrück, Köln, Holland, Frankreich und Barcelona. Er erzählt vom Saufen und Kotzen, vom Musikhören und Quatsch reden, von Freundschaften und Flirts, von Eifersucht, Sex und schließlich eskalierender Gewalt. Es sind die schon vielfach beschriebenen typischen Irrungen und Wirrungen, Schmerzen und Hoffnungen, Abstürze und Aufschwünge einer Generation, die auf keinen Fall so werden will wie die Eltern, die aber ansonsten auch keinen Plan hat, wo es hingehen soll – so existentiell wie banal und letztlich auch in sich kreiselnd.

Seinen eigentlichen Reiz und eine dialektische Dimension gewinnt Nagelschmidts Roman erst durch die eingeflochtene Rekonstruktion der Vergangenheit im Jetzt, durch die Schilderung seiner Arbeit an dieser autobiografischen Erzählung. In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der oszillierenden Erinnerung daran verschwimmen die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion. „Seltsamerweise macht es großen Spaß, mir etwas auszudenken, seit ich mich für das autobiographische Schreiben entschieden habe.“ In diesem Sinne erscheint auch jede Autobiografie mehr oder minder als ein Produkt der Fantasie.

Titelbild

Thorsten Nagelschmidt: Der Abfall der Herzen. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
445 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973471

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