Neues aus Felsenburg

Heidi Nenoff erhellt den Kontext von Johann Gottfried Schnabels utopischem Roman

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Wunderlichen FATA einiger Seefahrer, besser bekannt unter dem Titel Insel Felsenburg, gehören zu den folgenreichsten Romanen des 18. Jahrhunderts. Ursprünglich erschienen sie zwischen 1731 und 1743 in vier Bänden und wurden jahrzehntelang immer neu aufgelegt. Über den Verfasser, der unter dem Namen Gisander publizierte, wusste man lange Zeit nur sehr wenig. Erst im 19. Jahrhundert fand man heraus, dass sich hinter dem Pseudonym ein Autor namens Johann Gottfried Schnabel verbarg, der im Duodezfürstentum Stolberg im Harz nicht nur als Hofbalbier und Kammerdiener des Fürsten wirkte, sondern auch die Zeitung Stolbergische Sammlung Neuer und Merckwürdiger Welt-Geschichte herausgab. All das warf offenbar nur wenig ab, denn Schnabels Romane waren wohl auch ein Zuverdienst zum kargen Lohn am Fürstenhof.

Wunderliche FATA einiger Seefahrer gilt bis heute als einer der wichtigsten Romane der Aufklärung. Als solcher ist das Buch häufig behandelt worden – im Kontext der utopischen Literatur wie der Robinsonade  oder der Emanzipation des bürgerlichen Individuums im Roman. So lässt sich der literaturgeschichtliche Ort dieses Buches bestimmen, aber bei der Interpretation ausschließlich mit diesen Ansätzen zu operieren, hat auch einen deutlichen Nachteil: Sie nehmen Schnabels Roman ausschließlich retrospektiv in den Blick, als Teil eines der linearen Narrative, die vor den Wunderlichen FATA beginnen (und sei es mit Daniel Defoe) und auf ein Ziel zuführen, das dann das Eigentliche, das voll Entwickelte sein soll. Das ist nicht falsch, aber ein wesentlicher Teil ihres zeitgenössischen Horizontes kommt gar nicht in den Blick – etwa ein großer Teil der damaligen theologischen und juristischen Dimensionen, die im Roman am Beispiel der fiktiven Inselgesellschaft verhandelt werden. Das führt zu Unschärfen, die eher von Forschungsarbeit zu Forschungsarbeit abgeschrieben, statt einer genaueren Prüfung unterzogen werden. So wurde immer wieder behauptet (auch vom Rezensenten), dass in den Wunderlichen FATA die Frage des Naturrechts verhandelt werde – aber nicht gefragt, welches der konkurrierenden Konzepte des Naturrechts im 17. und frühen 18. Jahrhundert denn gemeint sei. Oder, dass es sich bei der utopischen Gesellschaft der Insel um eine pietistische Gemeinschaft handle.

Insofern ist Heidi Nenoffs Leipziger Dissertation mehr als willkommen. Geschult an einschlägigen Arbeiten zur utopischen Literatur, namentlich von Wilhelm Voßkamp und ihrem Betreuer Ludwig Stockinger, arbeitet sie die theologischen und naturrechtlichen Diskurse der Zeit heraus, die in Schnabels Roman verhandelt werden. Ihr Verfahren ähnelt demjenigen des New Historicism, wie ihn Stephen Greenblatt in den 1980er-Jahren entwickelte, ohne dass sie es so benennt: Sie arbeitet die zeitgenössischen Kontexte des Romans heraus, namentlich in nicht-literarischen Texten wie theologischen, juristischen und philosophischen Traktaten. Deren zentrale Fragen zirkulieren nun auch im literarischen Text, ohne dass sich dieser aber im diskursiven Gehalt erschöpfen würde. Diese Nähe ist kein Wunder, denn Nenoffs Arbeit ist wie die Greenblatts von Michel Foucaults Diskursbegriff geprägt, was zwar gleich zu Anfang erwähnt wird, allerdings nur in einer Fußnote. Der Begriff des Diskurses macht Nenoffs Arbeit methodisch anschlussfähig für einen Gutteil der aktuellen Germanistik, en detail reflektiert wird er nicht. Überhaupt hätte die Arbeit ihren methodischen Standort innerhalb der aktuellen Literaturwissenschaft deutlicher bestimmen dürfen.

Die Stärke der Studie liegt aber ohnehin anderswo: nämlich in der Erhellung der zeitgenössischen Kontexte, die Nenoff mit stupender Belesenheit bis ins Detail zu erklären vermag. Ein Beispiel wäre ihre Diskussion des Naturrechts, auf das sich zwar zahlreiche Gelehrte beriefen und postulierten, der Mensch solle im Einklang mit der von Gott geschaffenen natürlichen Ordnung leben. Das aber konnte völlig gegensätzliche Dinge bedeuten: War beispielsweise der Mensch vor oder nach dem Sündenfall gemeint? Verhalten sich Menschen von Natur aus gut zueinander oder drohen Anarchie und Mord? Hier – wie auch in der Frage des Liebesideals erweist sich der Leipziger Jurist und Philosoph Christian Thomasius (1655–1728) als Schnabels wichtigste Bezugsgröße. Thomasius hält es für unmöglich, den Zustand vor dem Sündenfall wieder zu erreichen, plädiert aber für den Gebrauch der Vernunft und das größtmögliche Maß von persönlicher Freiheit und Gleichheit in der menschlichen Gesellschaft – auch gegen eine orthodoxe lutherische Theologie, die diese Freiheiten einer unbedingten kirchlichen Dogmatik unterordnen will.

Überhaupt, so zeigt Nenoff, findet der Roman insgesamt zu einer vermittelnden Position zwischen Pietismus und lutherischer Orthodoxie. Es handelt sich nicht um eine pietistische Inselgesellschaft, sondern um eine lutherische, die sich aber von allzu orthodoxen Auslegungen der Religion abgrenzt. Aus der prinzipiellen Fehlbarkeit des Menschen nach dem Sündenfall, wie sie Thomasius beschreibt, ergibt sich aber auch, warum die Inselgesellschaft letztlich scheitern muss – weil mit dem Menschen, wie er nun einmal im Naturzustand ist, auf Dauer keine perfekte Staatsform durchzuhalten ist. Dietrich Grohnert, einer der besten Kenner des Romans, hatte das in seiner Studie Aufbau und Selbstzerstörung einer literarischen Utopie (1997) einem angeblichen anthropologischen Pessimismus Schnabels zugeschrieben. Nenoff zeigt dagegen, dass dieser Pessimismus nicht im Widerspruch zu, sondern vielmehr im Einklang mit den religiösen und naturrechtlichen Auffassungen steht, an denen sich Schnabel orientiert.

Durch ihre genaue Lektüre kann Nenoff zahlreiche Irrtümer und Unschärfen der bisherigen Forschung korrigieren: Sie zeigt, dass sich die vier Bände als kohärentes Ganzes mit innerer Folgerichtigkeit verstehen lassen, nicht als aus einem Guss konzipiertes zweibändiges Werk mit nachgeschobenen Fortsetzungen, wie es bisher hieß. Selbst die Gespenster- und Alchemiediskurse, die von der bisherigen Forschung  meist als Fremdkörper verstanden werden, die das Gefüge des Romans sprengen, fügen sich in ihrer Deutung folgerichtig in den Text. Dieser erzählt vom unabwendbaren Verfall einer utopischen Gesellschaft, die relativ gesehen dennoch weit attraktiver erscheint als das reale Europa des frühen 18. Jahrhunderts. Das war es doch, was die Wunderlichen FATA für zeitgenössische Leser attraktiv machte. Dass sie wenige Jahrzehnte später als Jugendlektüre galt, als die sie in autobiografischen Texten von Johann Wolfgang von Goethe bis Karl Philipp Moritz auftaucht, und von einem breiten erwachsenen Publikum nicht mehr gelesen wurde, ist eine andere Geschichte. Indem Nenoff zeigt, wie belesen Schnabel gewesen sein muss, korrigiert sie zudem frühere Klischees der Schnabel-Forschung, die ihn als armen Hofbalbier zeichnete, der im abgelegenen Stolberg auch von den literarischen und philosophischen Diskurses seiner Zeit abgeschnitten sein musste.

Nenoffs Studie hat also insgesamt große Verdienste. Sie lässt aber auch Wünsche offen. So zeigt sie zwar, wie Schnabel seinen Roman dezidiert an zeitgenössische Formen wie die utopische Satire, den Schelmenroman oder die bukolische Erzählung anschließt – nicht aber, warum er sich überhaupt der Form des Romans bedient. Erst um 1700 wechselt die utopische Erzählung nämlich gewissermaßen das Medium – vom Traktat, das die utopische Gesellschaft im Überblick schildert, ohne ihren Bewohnern individuelle Züge zu verleihen, hin zu einer Form, in der einzelne Figuren mit Identifikationspotenzial das utopische Territorium sukzessive erleben. Was hat es mit dieser „Individualisierung des Utopischen“ auf sich und wie hängt sie mit dem Phänomen zusammen, das Ian Watt in seiner klassischen Studie „the rise of the novel“ genannt hat, also dem Aufstieg der realistischen Erzählung aus dem Leben bürgerlicher Protagonisten gegenüber den galanten Romanen der Zeit um 1700? Warum gerade die autobiografische Form – ist sie nur dem Aufstieg des Pietismus und der sich dort bildenden Selbstbeobachtungsliteratur geschuldet? Warum überhaupt ein utopischer Roman – was ist der spezifische Mehrwert eines fiktionalen Textes gegenüber, sagen wir, Thomasiusʼ Schriften? Um diese Fragen fundiert zu beantworten, hätte es aber einen methodischen Ansatz gebraucht, der über den strikt zeitgenössischen Horizont hinausgegangen wäre, und dann hätten sich vielleicht andere wichtige Erkenntnisse für Nenoff nicht erschlossen.

Am bedauerlichsten ist aber, dass es für LeserInnen abseits großer Bibliotheken schwierig geworden ist, die Erkenntnisse der Studie am Originaltext zu überprüfen. Die meisten Textausgaben der Wunderlichen FATA umfassen nur den ersten der vier Teile. Der Roman als Ganzes ist nach dem 18. Jahrhundert nur zweimal wiederaufgelegt worden – 1973 im Hildesheimer Olms Verlag als Faksimile des Originals und 1997 in einer hervorragenden modernen Edition von Günter Dammann, Markus Czerwionka und Robert Wohlleben. Letztere bietet auch die bis heute beste Einführung in den Roman und macht zahlreiche Quellen sichtbar, die Nenoffs Arbeit nun ergänzt. Beide Ausgaben sind längst vergriffen. Könnte man nicht Schnabels bevorstehenden Geburtstag – der sich im November zum 325. Mal jährt – zum Anlass nehmen, die Wunderlichen FATA wieder ganz im Druck zugänglich zu machen? Zweitausendeins, übernehmen Sie!

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Heidi Nenoff: Religions- und Naturrechtsdiskurs in Johann Gottfried Schnabels Wunderliche FATA einiger Seefahrer.
Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2016.
451 Seiten, 33,00 EUR.
ISBN-13: 9783960230106

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