Vom Bär überrascht

Im Ökothriller „Unter Raubtieren“ von Colin Niel geben Löwe Charles und Bär Cannellito den Takt an

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu ihrem zwanzigsten Geburtstag bekommt Apolline von ihrem Vater „ein Mathews AVAIL. Der letzte Schrei unter den Compoundbögen, Hightech, leicht und kompakt, speziell für Frauen entworfen, mit zwei Cams statt nur einer wie beim Stinger [dem Modell, das sie bis dahin hatte].“ Doch damit nicht genug: Der Vater überreicht ihr auch einen Umschlag, drin eine Postkarte mit dem Foto eines Löwenmännchens „mit prächtiger schwarzer Mähne und intensivem gelbem Blick“. Mit ernster Miene erklärt Papa, dass der Löwe das eigentliche Geschenk sei, denn ihn würden sie gemeinsam jagen, in Südafrika. Und zwar nicht bei einer Trophäenjagd: „Ich spreche von free roaming, von der Trophäe eines wilden Löwen. Eines Wüstenlöwen, um genau zu sein.“ Er hätte seiner Tochter an diesem 17. März keine größere Freude machen können.

Keine Freude daran hat jedoch Martin, Ranger im Nationalpark Pyrenäen und in seiner Freizeit aktiv bei der Facebook-Gruppe STOP HUNTING FRANCE, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen wie Apolline an den Pranger zu stellen, gnadenlos und ohne Rücksicht auf Verluste. Als er das Foto entdeckt, auf dem eine Frau zu erkennen ist, die angeblich einen Löwen erlegt haben soll, kennt er nur noch eines: diese Frau ausfindig zu machen und sie für ihr Handeln büßen zu lassen.

Colin Niel ist ein trickreicher Erzähler. Er legt einen puzzleartig aufgebauten Roman vor, in dem die verschiedenen Figuren jeweils aus ihrer Perspektive erzählen, und zwar nicht linear. Der Autor springt vor und zurück, was dazu führt, dass die Leser:innen immer wieder viel mehr wissen als die Figuren, die gerade sprechen. Gleichzeitig verfolgen sie fasziniert die Reaktionen der Protagonist:innen und die Fortsetzung der Geschichte. Rasant erzählt Niel, der zu den großen Stimmen des französischen Roman noir gehört, die Geschichte des Löwen Charles – der selber auch zu Wort kommt –, von Apolline und ihrer Reise nach Südafrika, die so anders verläuft als gedacht, von Martin, der sich immer mehr in diffusem Aktionismus verliert. Er lässt aber auch Komuti zu Wort kommen, der in der Region zu Hause ist, in der der Löwe lebt, und dessen Familie sowie das ganze Dorf erfahren haben, was es heißt, wenn ein Löwe angreift, nämlich Verlust der eigenen Tiere, Hunger, Armut, was die Folgen der seit Längerem andauernden Dürre noch dramatisch verschärft. Auch Komuti will den Löwen töten, denn nur so hat er, dessen Familie in den Augen der anderen nie viel wert gewesen ist, eine Chance, seine geliebte Kariungurua zu heiraten. Mit dieser Tat könnte er – so seine Überzeugung und Hoffnung – ihren Vater umstimmen, der sie längst einem anderen versprochen hat. Und gleichzeitig seinem eigenen Vater dessen Schwäche vor Augen führen.

Gekonnt legt Niel erzählerisch Fährten, erhöht die Spannung immer wieder von Neuem und vermittelt quasi nebenbei zahlreiche Informationen zu Klimawandel, Jagdtourismus und fanatischem Naturschutz. Und das alles in einer bildreichen, farbigen und poetischen Sprache, die zusätzlich mitreißt.

Die eigentliche Hauptfigur ist jedoch der Bär Cannellito, den Martin unermüdlich sucht, denn er ist überzeugt,

dass ich der Einzige war, den Cannellitos Verbleib wirklich kümmerte, der letzte Bär mit ein bisschen Pyrenäenblut, der noch auf der Suche nach einem Weibchen durch diese Wälder streifte, finden würde er keins, weil die Jäger alle abgeknallt hatten. Sogar seine Mutter, die 2004 getötet worden war und mir so sehr fehlte, als wäre sie ein Familienmitglied gewesen. 

Die Begegnung mit dem Bären verläuft dann – so viel sei verraten – ein bisschen anders, als sich dies Martin ursprünglich vorgestellt hat.

Titelbild

Colin Niel: Unter Raubtieren.
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2021.
360 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783039250134

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