Kein Raum für Gespenster

Wilfried Nippel erzählt eine knappe „äußere Biografie“ von Karl Marx

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wollte man spielerisch-mimetisch ein dem Sujet angemessenes Motto für Wilfried Nippels Büchlein über Karl Marx formulieren, landete man womöglich bei: „Die Nachgeborenen haben Marx nur verschieden interpretiert. Es kömmt drauf an, ihn zu historisieren.“ Diese Anlehnung an Marx’ berüchtigte elfte These über Feuerbach liegt deswegen nahe, weil Nippel, emeritierter Professor für Alte Geschichte, seiner Monografie in der ehrwürdigen Reihe „Wissen“ des C.H. Beck Verlages einen spezifischen Ansatz zugrunde legt: Nippel ist es ausschließlich um die „‚äußere‘ Biographie“ von Marx zu tun, „nicht um seine intellektuelle Entwicklung“. Geboten werde ein „knapper Lebensabriss“, der sich darauf konzentriere, „wie Marx von seinen Zeitgenossen wahrgenommen werden konnte“. Da diese Zeitgenossen Marx aber vor allem als Politiker und Journalisten, hingegen kaum als Wissenschaftler zur Kenntnis nehmen konnten, erfährt das Lesepublikum des Jahres 2018 nichts darüber, weshalb Marx in die Geistesgeschichte eingegangen ist.

Insofern wäre auch eine Anlehnung an die (weit seltener zitierte) achte Feuerbach-These plausibel: „Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.“ Nippel rückt gleichsam die Theorie hinter die menschliche Praxis und lässt Mysterien gar nicht erst aufkommen. Zu dem Preis, dass die Theorie dieses Denkers – die doch weit mehr als alle seine menschlich-praktischen Tätigkeiten für seinen immensen Nachruhm und nicht zuletzt den Gang der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert verantwortlich ist – nicht allein entmystifiziert wird, sondern kaum zur Sprache kommt. Wieso das „Gespenst des Kommunismus“, das Marx und sein Freund, Mäzen und Ko-Autor Friedrich Engels in ihrem Manifest der Kommunistischen Partei beschworen, eine solch welterschütternde Wirkung entfalten konnte, wird kaum begreiflich, wenn nicht auch das Innenleben eines ebenso komplexen wie wirkmächtigen Theoriegebäudes und die – trotz aller Sperrigkeit der zahlreichen weitschweifigen wirtschaftstheoretischen Passagen – stilistische und polemische Brillanz der Marx’schen Texte beleuchtet werden. Weil die Zeitgenossen beispielsweise eine Kategorie wie die der „Entfremdung“ nicht mit Marx verbinden konnten (die Pariser Manuskripte, in denen der Begriff eingeführt und entwickelt wird, wurden erst später publiziert), erhalten Nippels Leser*innen auch keine Information darüber. Auch andere zentrale Konzepte wie „Dialektik“, „Historischer Materialismus“, „Kapitalismus“ oder „Kommunismus“ werden allenfalls gestreift, aber nicht erläutert oder gar ausgelegt. Mag dies in der gegenwärtigen Publikationsflut anlässlich des 200. Geburtstages von Marx ein veritables Alleinstellungsmerkmal sein: Für ein Buch, dass sich qua Format an ein größeres Lesepublikum richtet, ist der Verzicht darauf, in das Denken eines Denkers einzuführen, ein eher enigmatischer Ansatz.

Nippel weist selbst ganz am Ende seines Buches darauf hin, dass Marx nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, anders als von vielen prophezeit, keineswegs zum „toten Hund“, sondern zu einem „Klassiker“ geworden sei – „den man einerseits historisieren, in und aus seiner Zeit verstehen kann“, bei dem man aber andererseits auch „Fragen aufgeworfen und Probleme diskutiert findet, die sich immer wieder neu stellen“. So ist es. Diese zweite Option aber wird freimütig aufgegeben. Das führt dazu, dass Nippel ein Buch zu einem „Klassiker“ vorlegt, bei dem weitgehend das ausgespart bleibt, was ihn zum „Klassiker“ macht.

Es ist ohne Zweifel korrekt, dass einzelnen Texten, worauf Nippel immer wieder kritisch hinweist, in späteren Editionen „eine wissenschaftliche Bedeutung zugeschrieben wurde, welche der Autor selbst nicht beansprucht hat“. Aber ist diese Bedeutung damit nichtig? Ist der Rang eines Textes abhängig von der Intention seines Verfassers oder den Rezeptionsmöglichkeiten der Zeitgenossen? Können sich Texte nicht aus ihren historischen und pragmatischen Kontexten lösen und ein geradezu gespenstisches Eigenleben entfalten? Hätten alle von Marx verfassten Schriften einzig die semantischen Potenziale, die von zeitgenössischen Lesern bemerkt werden konnten, müssten 2018 keine Bücher über diesen Autor publiziert werden.

Zugestanden: Der Ansatz der ‚äußeren‘ Biografie wird konsequent durchgehalten und auf der Basis großer Sach- und Detailkenntnis ausgeführt. Alle gelieferten Informationen sind profund, die nüchterne Prosa ermöglicht eine unangestrengte Lektüre. Es ist durchaus zu begrüßen und wohltuend (und nebenbei natürlich der durch das Format der Reihe vorgegebenen Knappheit geschuldet), dass mit manchen biografischen Fragen und rezeptionsgeschichtlichen Mythen aufgeräumt und kurzer Prozess gemacht wird. Nicht minder wohltuend ist, dass Nippel sich aller Emphase enthält und auf unkonkrete Elemente etwa des Manifestes hinweist, die freilich maßgeblich für dessen utopische Wucht verantwortlich waren.

Die Knappheit fordert aber nicht allein beim Theoriegebäude Opfer, sondern auch beim Anliegen einer ‚äußeren‘ Biografie: Marx wird mit zahlreichen anderen Personen in Verbindung gebracht, die aber allesamt schemenhaft oder auf ihren Namen reduziert bleiben. Wer etwa David Ricardo ist, von dem sich Marx die Idee des „ehernen Lohngesetzes“ entlehnt habe, wird nicht erläutert. Mag der große britische Nationalökonom womöglich einer größeren Leserschaft zumindest dem Namen nach bekannt sein, dürften beispielweise Georg Weerth deutlich weniger Leser*innen kennen – dass dieser aber nicht nur Journalist, sondern einer der schillerndsten Vormärz-Dichter war, bleibt ungesagt. Und wieso wird eigentlich ein gewisser Michael Bakunin erwähnt, wenn dessen nicht ganz folgenlose politische Theorie dem Autor keinen Nebensatz wert ist? Die Liste ließe sich ergänzen. Wenn die anderen Figuren aber bloße Statisten sind, die keinerlei Zeitkolorit entwickeln dürfen, bleibt auch die Erzählung über den Protagonisten etwas blass.

Während die Lebensstationen zwar jeweils kurz, aber doch relativ kleinteilig rekapituliert werden, kommen die großen Denkzusammenhänge kaum zur Sprache. Süffisant bemerkt der Verfasser, Marx’ philosophisches Hauptwerk, Das Kapital, sei zwar sofort zur „Bibel des Sozialismus“ erklärt worden, es handle sich dabei aber um „eine Altar-, keine Lesebibel“. Nippels Ansatz, schwierige Texte nur in „extremer Vereinfachung“ anzureißen und ihren Autor zwar nicht zur Altar-, wohl aber zur Museumsfigur zu machen, zementiert das, was er kritisiert: Anreize, sich mit Marx’ Schriften zu befassen, liefert diese Überblicksdarstellung nicht. Marx zu historisieren ist nicht verwerflich. Es dabei zu belassen, wird der Bedeutung des Gegenstandes schwerlich gerecht. Es ist nicht damit getan, einen Denker auf seine zeitgenössischen Wirkmöglichkeiten einzuschränken. Es kömmt drauf an, ihn – zu welchem Ende auch immer! – stets aufs Neue zu lesen.

Titelbild

Wilfried Nippel: Karl Marx.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
128 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783406714184

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch