Durch Dichterfeste zur nationalen Einheit

Rainer Noltenius gibt mit „Dichtung, Fest und Alltag“ am Beispiel von Schiller und Freiligrath eine anschauliche Darstellung der Zeit zwischen März-Revolution und Reichsgründung

Von Rüdiger ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rüdiger Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hinter dem Buchtitel verbirgt sich die Darstellung der Geschichte der deutschen Gesellschaft zwischen der 1848er Revolution und der Reichsgründung 1871. Das Verfahren der Geschichtsschreibung ist ungewöhnlich. Der Autor verfolgt einen sozialpsychologischen Ansatz anhand der öffentlichen Ehrungen von Friedrich Schiller und von Ferdinand Freiligrath, die durch zeitgenössische Zeugnisse gut dokumentiert sind. Noltenius hatte das Glück, das gesammelte Material zur dreitätigen nationalen Schillerfeier 1859 (hundertster Geburtstag), das sich in Marbach befindet, und an die Belege für die Spenden zur Hilfe für Ferdinand Freiligrath 1867 – die „Freiligrath-Dotation des Deutschen Volkes“ – mit 1200 Zeugnissen, die in Detmold liegen, heranzukommen.

Für die Sozialgeschichte der 23 Jahre vor der Reichsgründung war das ein einzigartiges Quellenmaterial: Säkulare Feste zur öffentlichen Selbstrepräsentation, Einblicke in die soziale Herkunft der Teilnehmer (Teilnehmerinnen fehlen), deren Motive für ihr Engagement, ihre Ansichten über Politik und Dichtung, über Sehnsüchte für den Nationalstaat und dessen Verfassung, über soziale Gerechtigkeit. 178 Schillerfeste und 23 Feste für Freiligrath sind von der Forschung dokumentiert.

Die Huldigungsgedichte und Reden und ihre Verfasser

Aus diesem Material wählt Noltenius Huldigungsgedichte und Reden von acht Autoren aus, deren Einstellung zur nationalen Einheit, zu den Dichtern und zur literarischen Kunst analysiert wird. Die sozialen Unterschiede dieser Acht geben Gelegenheit, im Anschluss an die biographische Skizze auf den Stand der Person und deren Geschichte im 19. Jahrhundert einzugehen. Bei Gisbert Freiherr von Vincke, dem Oberpräsidenten der preußischen Provinz Westfalen, ist es der deutsche Adel, bei Wilhelm Raabe das Bildungsbürgertum, bei dem Studenten Franz Leibing die Entwicklung der deutschen Universitäten nach Wilhelm von Humboldt, bei dem Hamburger Klempnermeister Lehmann das deutsche Handwerkertum, bei Ludwig Pfau im Pariser Exil die Arbeiter. Mit den Reden von Rudolf Gottschal und Julius Rodenberg über Freiligrath werden die unterschiedlichen Fraktionen bürgerlicher Politik in der Phase der Entstehung der politischen Parteien vorgeführt, Karl Grün gibt Gelegenheit, auf die Kämpfe der Fraktionen der Arbeiterbewegung, in der Publizistik etwa die Kritik von Marx an Karl Grün, und auf die Geschichte des Sozialismus einzugehen.

Die Initiativen der Festveranstaltungen, die „Soziologie der Feiern“, erweitern und ergänzen dieses Bild der sozialen Schichten und politischen Kämpfe. Die Initiative Barmer Kaufleute für die Freiligrath-Sammlung nutzt der Autor, um auf das rheinische Handelsbürgertum einzugehen. Die Darstellung der Freiligrath-Feier Heidelberger Arbeiter gibt Einblicke in die Bildungspolitik und das Selbstverständnis des sich formierenden Proletariats. Erweitert wird der soziale Aspekt der Vereine durch eine Skizze der verschiedenen Arten von Vereinen, vom Gesangsverein über literarische Vereine bis zum Turnverein, die an der Vorbereitung und Durchführung der Feiern zu den genannten Autoren beteiligt waren. 

Zu dieser Rezeptionsgeschichte gehören natürlich auch die Porträts der beiden geehrten Dichter. Mit Schiller und Freiligrath erfasst Noltenius nicht nur zwei Repräsentanten von apolitischer Kunst und zugleich politischer Dichtung, sondern in deren Rezeption auch den mit der Industrialisierung zunehmenden Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat.

Die Geschichte der Schillerfeiern und Schillergesellschaften macht die politische Bedeutung als Oppositionsbewegung im Vormärz anschaulich, die sich nach der gescheiterten Revolution 1848/49 fortsetzte und in die politischen Bestrebungen für die nationale Einigung, für einen deutschen Staat mit liberaler Verfassung einmündeten. Den preußischen Behörden war das Schillerfest 1859, „das größte Fest, das in Deutschland jemals zu Ehren eines Dichters gefeiert wurde“, suspekt. Noltenius zeigt am Bespiel des Berliner Festes, das die Behörden argwöhnten, „das Fest sei eine Demonstration der Liberalen oder gar der Demokraten“.

Ebenso war die Freiligrath-Dotation eine politische Demonstration gegen die preußische Regierung, ein „Affront des Bürgertums gegen den rein obrigkeitlich-militärischen Weg zur Reichsgründung“.

Zum Kampf gegen die Obrigkeiten kamen die Fraktionskämpfe. Bei der Huldigung Schillers brachen gesellschaftliche Gegensätze auf. Beim Leipziger Schillerfest zerstritten sich die Fraktionen des Schillerkultes schon während der Vorbereitungen; „die Interessenunterschiede zwischen Klein- und Großbürgertum“ drohten die gemeinsame Planung zu sprengen. Denn die politische Situation hatte sich nach 1849 verändert. Besonders das Großbürgertum, das sich auf die Seite des Adels und der preußischen Regierung stellte, gehörte jetzt zu den Kritikern der Volksbewegung und ihrer „Volksfeste“. Die beschworene „concordia“ aller Deutschen lief Gefahr, zu zerbrechen. Das verstärkte sich bei den Festen für die Freiligrath-Sammlung. Ein Eckpunkt zur Einschätzung der Schiller-Euphorie 1859 liegt in der Erkenntnis, dass die deutschen Intellektuellen sich nach 1871 vom politischen Schillerkult abwandten. Das steht schon in Prawers Aufsatz von 1950.

1859 aber ist Schiller der große Dichter, der Prophet, der Heros, der Führer, der Fürst im Dienst der deutschen Nation und ihrer Einheit und Einigkeit, „zum Messias, Christus und zweiten Schöpfer ernannt“. Die Sehnsucht nach Erlösung durch einen neuen Heiland war im 19. Jahrhundert groß. Bei Freiligrath ist es die Fortsetzung revolutionärer Haltungen nach 1848.

Sozialpsychologische Aspekte

Die Interpretationen der Gedichte eröffnen die sozialpsychologische Erklärung der Gesellschaftsbilder und der Motive von politischen Bestrebungen. Das ist möglich durch die Äußerungen zur Rolle der literarischen Kunst in der Politik, einem Hauptthema der Gedichte, wie es zum Beispiel die viel zitierten Verse in einem Gedicht von Freiligrath ausdrücken: „Der Dichter steht auf einer höhern Warte, / Als auf den Zinnen der Partei“. Oder wie beim Begriff des „poetischen Realismus“, der suggeriert, Poesie und soziale Wirklichkeit zusammenzuführen. Zu Recht weist Noltenius auf den solidarisierenden Vorgang des gemeinsamen Gesangs hin.

Bei der psychoanalytischen Sozialpsychologie wird vorwiegend auf „die projektive Idealisierung“ abgehoben. Die Projektionen betreffen die Errichtung von neuen „Führern“, von Repräsentanten des Über-Ichs. Der Kampf gegen Autoritäten lässt sich fallweise zutreffender als politischen Kampf verstehen. Die rheinischen Kaufleute in der preußischen Provinz Westfalen begehrten nicht einfach gegen die Autorität der Berliner Regierung auf, sondern es war der Kampf der ökonomisch viel weiter industrialisierten Kaufmanns- und Gewerbe-Bourgeoisie am Rhein gegen das wirtschaftlich zurückgebliebene Kernland Preußen.

Dichtung, Dichter und politische Geschichte

Diesen Kampf um die Rolle der Literatur in der Gesellschaft spiegeln die Huldigungsgedichte. Noltenius akzentuiert die Bilder von Autorität, Phantasien über Führungspersönlichkeiten. Angesichts der fortschreitenden Industrialisierung ist auffällig, dass nicht Erfinder und Unternehmer, nicht Politiker und auch nicht Philosophen, sondern „Dichter zu den verehrten Idolen der Nation“ wurden.

Die in diesen Kategorien entworfene und erzählte deutsche Geschichte des dritten Viertels des 19. Jahrhundert ist gelungen und ragt unter den Geschichtsbüchern hervor. Die Verbindung von materieller sozialer und politischer Entwicklungen mit sozialpsychologischen Aufschlüssen ist fast einzigartig in der Geschichte der Historiographie. Diesem Bild wird relativ geringer Raum gegeben.

Der Vorzug dieser Geschichtsdarstellung ist eine Anschaulichkeit. Dazu tragen auch die Abbildungen bei, die manchmal schlagender noch als der Text, die Massenbewegung der Schiller-Feste veranschaulichen. Noltenius hat seltene Bilder aufgespürt und aus dem Schlaf in den Archiven aufgeweckt. Vom Hamburger Festumzug zur Hundertjahrfeier Schillers z. B. gibt es eine vierzehn Meter lange Bildsequenz von Lithographien des Festumzuges, die die Stände darstellen. Diese Bilder, von denen der Zug der Klempner ausgewählt wurde, sind von einer bestechenden Genauigkeit der Einzelheiten.

Noltenius‘ Geschichtsbuch ist auch wichtig, weil immer noch eine umfassende Darstellung der Lebenswege aktiver Vormärzler und Revolutionsbegeisterter, Männer wie Frauen, nach dem Scheitern der Revolution fehlt. Freiligraths Biographie wäre mit der Fontanes zu vergleichen, der als ausgebildeter Soldat im März 1848 auf einer Berliner Barrikade auf preußisches Militär schoss und in einer abenteuerlichen Flucht über Hausdächer und Hinterhöfe seiner standrechtlichen Erschießung entkam. In einem Anfall von Geschichtsmystik begann er ein Drama über Karl Stuart, weil er exakt 200 Jahre nach der Hinrichtung Charles I. Stuart in der englischen Revolution die Hinrichtung des preußischen Königs 1849 erwartete. Verständlich, dass er das Drama dann abbrach. Fontane wich als Zeitungskorrespondent nach England aus – wie Freiligrath –, und in dem Gedicht Archibald Douglas 1859 vollzog er öffentlich seine Unterwerfung unter den siegreichen deutschen Adel.

Die biographischen Skizzen sind Beiträge zu dieser noch fehlenden umfassenden Geschichte revoltierender und revolutionärer Kämpfer nach 1848.

Die Methodik der Geschichtsschreibung

Die Art der Quelleninterpretation und Geschichtserzählung greift methodische Neuansätze seit Ende der 1960er Jahre auf. Der gesellschaftsgeschichtliche Ansatz folgt der Bielefelder Schule um Koselleck und Wehler. Die Sozialgeschichtsschreibung hat sich international durchgesetzt.

In den Literaturwissenschaften führte das zum Versuch eines Neuansatzes, weg von der Dominanz des literarischen Kunstwerks zur Kommunikationstheorie. Hans Robert Jauß hatte 1970 mit seinem Suhrkamp-Bändchen „Literaturgeschichte als Provokation“ die Diskussion über literarische Rezeptionsforschung angestoßen. Noltenius beginnt daher sein Buch mit theoretischen Erörterungen über Erwartungen des Lesepublikums, über „‚die faktische Pluralität verschiedener Erwartungsfolien‘“ und demonstriert das an dem Vergleich von Reaktionen auf Schillers Gedicht „Die Glocke“ 1799. Caroline Schlegel, ihre Freundinnen und Freunde fielen bei der Lektüre vor Lachen fast von den Stühlen – dagegen hält Noltenius die national begeisterte Würdigung von Schillers Ballade durch den Lehrer Bernhard Endrulat 60 Jahre später, dem die „concordia“ als Symbol deutscher staatlicher Einigkeit erschien. Neu war auch der Rückgriff auf Freuds Psychoanalyse bei der sozialpsychologischen Interpretation der Texte. Das kurze Kapitel über Freuds Thesen zu den wechselnden Identifikationen der Lesenden mit den Figuren eines literarischen Werkes, die regulierende Funktionen für die Psyche haben, war neu und ist immer noch gültig.

Zur Kritik   

Noltenius‘ Geschichtsbuch ist auch vier Jahrzehnte nach seinem Ersterscheinen aktuell und regt zur Diskussion an. Die langen Ausführungen zur Kommunikationstheorie hätten gekürzt werden sollen. Das Beste zur Rezeptionstheorie steht auf den vier letzten Seiten des Gesamttextes im Kapitel „der Leser als Produzent“.

Noltenius hätte auch ohne den Aufwand der Rezeptionstheorie darauf hinweisen können, dass die Jenaer FrühromantikerInnen eine Auffassung von Dichtung vertraten, die von Schillers Literatur in der Balladenzeit in den 1790er Jahren himmelweit geschieden war. Die Idylle der Familie in der „Glocke“ befriedigte aber Sehnsüchte nach einer heilen Welt gegen das „feindliche Leben“ ‚draußen‘ des sich rasant ausbreitenden Konkurrenzkapitalismus.

Zu kritisieren ist auch, dass Frauen in Noltenius‘ historischer Darstellung fast völlig fehlen. Das liegt zwar an dem Quellenmaterial, ist aber damit nicht entschuldigt. Nur Caroline Schlegel wird namentlich genannt. Für die zweite „erweiterte“ Auflage hätte der Autor ein Kapitel über Frauen als Schriftstellerinnen und als Festteilnehmerinnen einfügen sollen. Die gesellschaftspolitische Rolle von Frauen war in der Publizistik des 19. Jahrhunderts stark. An Dichterinnen wie Louise Aston, Emma Herwegh oder Hedwig Dohm, die zwar erst 1871 zu publizieren begann, deren Biographie aber für die deutsche Frauenemanzipation wichtig ist, hätte Noltenius gesellschaftliche Veränderungen darstellen können.

Kleinere Beanstandungen: Noltenius redet von sich selbst meist im Pluralis Majestatis. „Ich“ statt „Wir“ wäre angemessener gewesen. Störend ist die generelle Abkürzung der Vornamen auf den Anfangsbuchstaben. Ganz scheint Noltenius seinem sozialgeschichtlichen Ansatz selbst nicht zu trauen, denn mehrmals werden wichtige Analysen, Argumentationen und Erkenntnisse in die Fußnoten, ins Kleingedruckte, verbannt.

Es war richtig, das Buch neu aufzulegen. Denn in der gegenwärtigen Situation der Geschichts- und Literaturwissenschaften sind Anstöße, die von der Methode und Quelleninterpretation dieser Geschichtsschreibung ausgehen, sehr aktuell.

Titelbild

Rainer Noltenius: Dichtung, Fest und Alltag. Zur Psychologie und Soziologie des Lesens.
Herder Verlag, Freiburg 2025.
322 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783534642120

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