Die Verwundbarkeit infrastruktureller Einrichtungen
(Historische) Infrastrukturforschung auf dem Vormarsch
Von Lina Schröder
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Diskussion um Infrastruktur und ihre Verwundbarkeit ist aktueller denn je. Hackerangriffe führen die Verletzlichkeit einzelner Infrastruktureinrichtungen vor Augen. Es mag daher kaum verwundern, dass nun auch die Vulnerabilität von Infrastruktur fächerübergreifend zum Gegenstand der Forschung wird. In der Geschichtswissenschaft ist die Infrastrukturforschung mit keiner Tradition gesegnet. Bereits 2012 hielt Dirk van Laak in seinem Aufsatz Unter Strom bezüglich der historischen Aufarbeitung der Entwicklung der Elektrizität zutreffend fest, dass die klassische Geschichtswissenschaft vor materiellen wie energetischen Substraten der historischen Interaktion oft zurückgescheut und sie gern der Wirtschafts-, vor allem aber der Technikgeschichte überantwortet habe. Die Erforschung der in vielen Fällen auch an technische Aspekte gekoppelten Infrastruktur erfuhr so in der Folge insgesamt eine eher stiefmütterliche Behandlung, zumal sie aufgrund ihrer Komplexität und ihrer Pfadabhängigkeit eigentlich einen interdisziplinären, epochenübergreifenden Zugang benötigt.
Der gewählte Ansatz des fächer- und epochenübergreifend arbeitenden Darmstädter Graduiertenkollegs KRITIS ist daher geradezu vorbildlich. Vorliegender, gelungener Sammelband entstammt diesem Zusammenhang als Resultat einer im Juli 2017 durchgeführten Tagung. Die insgesamt sechs flüssig geschriebenen Aufsätze spiegeln einmal mehr die grundsätzlichen Schwierigkeiten wider, denen insbesondere der Infrastrukturhistoriker begegnet: Wie beispielsweise die Darmstädter Mediävisten Gerrit Jasper Schenk und Stephanie Eifert zurecht in ihrem Beitrag hervorheben, nehme die Infrastruktur-Geschichte (ISG) in der Mediävistik noch immer die Rolle des Außenseiters ein, als Ursache geben sie ein nach wie vor fehlendes theoretisches Fundament an. Diese Tendenz zeigte sich bereits in den vergangenen Jahren bei der ersten Erarbeitung der Zusammenhänge von ‚Infrastruktur und Macht‘. Die hierzu wegweisende Habilitationsschrift van Laaks (Imperiale Infrastruktur, 2004) fand mit Beiträgen von Jens Ivo Engels (u.a. 2015), Gerrit Jasper Schenk (u.a. 2015) und Birte Förster (u.a. 2015), welche allesamt in der Regel die Epoche der Neueren und Neusten Geschichte fokussieren, ihre Ergänzung. Dabei wurde selbst in ein- und demselben Fachzweig kontinuierlich auf differente Theorieansätze und unterschiedliche Begrifflichkeiten zurückgegriffen. Auch fünfzehn Jahre danach hat sich nichts geändert – noch immer verfügt die ISG über kein einheitliches Konzept, naturgemäß muss auch das nächste Thema, ‚Infrastruktur und Kritikalität‘, mit dieser begrifflichen Vielfalt umgehen.
Auch wenn Engels im vorliegenden Band zurecht feststellt, „dass klare Grenzziehungen zwischen technischen Systemen und ihrer gesellschaftlichen Umwelt kaum sinnvoll sind“, fokussiert sein Beitrag gezielt die sogenannte „technische Infrastruktur“. Dabei geht er davon aus, „dass Infrastrukturen der unterbrechungslosen Grundversorgung einer Gesellschaft oder anderer technischer Systeme dienen.“ Schenk und Eifert trennen hingegen in ihrem Aufsatz zwischen einer Infrastruktur im Allgemeinen und einer „Transport- und Verkehrsinfrastruktur“ im Speziellen für das Mittelalter, zu letzterer zählen sie z.B. Straßen, Brücken, Wasserwege und Hafenanlagen. In diesem Zusammenhang verstehen sie Infrastruktur als „pfadabhängiges, netzwerkartiges Phänomen der longue durée“, diese müsse im Rahmen einer „mittelalterlichen ISG“ untersucht werden. Auch der Soziologe Andreas Folkers rückt die an die Infrastruktur geknüpfte Daseinsvorsorge in den Vordergrund, außerdem differenziert er „Infrastrukturen der Kritik“ und „öffentliche Infrastrukturen“. Alexander Fekete, Professor für Risiko- und Krisenmanagement (TH Köln), spricht wiederum in seinem Beitrag von der „Infra- und (Supra)struktur“, letztere bezieht er auf die Entdeckung und Nutzung der natürlichen „Suprastruktur“ Himmelszelt und Sternbilder – für ihn zählen außerdem natürliche Flussläufe, klimatische Systeme und die Untergrundstabilität per se zur Infrastruktur. Seine Betrachtungsweise widerspricht der Einschätzung van Laaks, der Infrastruktur als „Kulturleistung“ (2001) klassifiziert. ‚Kritische Infrastrukturen‘ definieren die Darmstädter Herausgeber Jens Ivo Engels (Prof. für Neuere und Neuste Geschichte) und Alfred Nordmann (Prof. für Philosophie) in ihrem Vorwort schließlich als „Einrichtungen der Daseinsvorsorge, die zugleich lebenswichtig für unsere Gesellschaft sind und sie daher im Fall einer Störung auch vital gefährden.“
Bezüglich des Konzeptes der Kritikalität wird ebenso mit differenten Sichtweisen argumentiert. Dabei sei, so Engels und Nordmann im Vorwort, ein Konzept dringend erforderlich, denn es bedürfe präziser Begriffe, wenn es erstens um die Priorisierung bestimmter Versorgungssysteme und zweitens um das Verhältnis zwischen Infrastruktur und der sie betreffenden Gesellschaften gehe. Einig sind sich die Autoren des Sammelbands darüber, dass Kritikalität ein Ergebnis gesellschaftlicher Zuschreibung ist. Darüber hinaus sehen die Herausgeber auch hier einen Bezug zur Diskussion von Infrastruktur und Macht, denn Kritikalität verleihe Deutungs- und Handlungsmacht. Diese insgesamt sehr moderne Sichtweise führt Engels in seinem anschließenden Beitrag aus. Nach der Darstellung verschiedener Perspektiven auf Kritikalität (System- versus Konsequenzbasiert) folgt schließlich ein eigener Interpretationsvorschlag, nämlich Kritikalität als „relevante Relationen“ zu begreifen: Mit diesen soll nicht die Bedrohungsperspektive im Vordergrund stehen, stattdessen aber die Verknüpfungen verschiedener Infrastrukturzellen untereinander. Als Beispiel führt er u.a. die vormalige Verbindung von Telegraphenmasten mit dem Eisenbahnnetz an: Durch diese konnten Zugverspätungen schneller gemeldet und defekte Masten zügiger repariert werden. Fällt das Eisenbahnnetz aus, kann dies somit eo ipso Auswirkungen auf den Telegraphieverkehr nach sich ziehen. „Die Relevanz – und damit die Kritikalität – einer Komponente oder einer Infrastruktur drückt sich folglich in der Zahl und der Bedeutung ihrer Relationen aus“, so Engels. Gerade aus heutiger Perspektive scheinen diese Überlegungen sinnvoll, da immer mehr Infrastrukturzellen an ein- und dieselbe „strukturell gekoppelte Nachbarzelle“ (Lina Schröder, 2017), nämlich an die digitale Datenverarbeitung über Strom, geknüpft sind. Fällt diese Nachbarzelle aus, versagt nicht nur eine Netzwerkzelle ihren Dienst, sondern viele, und das in ganz unterschiedlichen Bereichen. Im Falle gezielter Zerstörungsintentionen einer Infrastruktur eine enorme Vereinfachung!
Dies war im Mittelalter anders: Bei Windstille konnte die Windmühle zwar kein Getreide mahlen, aber unabhängig davon war im Spital die Versorgung der Patienten dennoch möglich. Schenk und Eifert leiten daher aus mediävistischer Perspektive Kritikalität aus einer unmittelbaren Bedrohung ab: Am Anfang stehe eine Krise, im Rahmen derer dann eine Kritikalitätszumessung erfolge. Diese führte in der Konsequenz zu einer Krisendiagnose und schließlich zur Krisenbewältigung. Die Krise definieren sie dabei in ihrem Aufsatz als „eine Latenzperiode, in welcher die Entscheidung über den Ausgang eines Prozesses im Gegensatz zur Charakterisierung des Geschehens als Katastrophe noch nicht gefallen ist.“ Während die Krise grundsätzlich das Potential eines guten Ausgangs in sich berge – möglicherweise gerade durch entsprechende infrastrukturelle Maßnahmen nach einer erfolgten Kritikalitätszumessung – sei dies bei der Katastrophe nicht (mehr) möglich. Aber auch Engels Ansatz lässt sich nach Meinung der Rezensentin für das Mittelalter anwenden, denn in dieser Epoche müssen Infrastrukturzellen ebenso stets in einen direkten Zusammenhang mit den damaligen Nachbarzellen analysiert werden (vgl. Zellenmodell Schröder, 2017). Wie dann die Relationen aussehen, bleibt für jeden Einzelfall zu untersuchen.
Mit der begrifflichen Findung selbst ist die Kritikalitätsforschung in Bezug auf Infrastruktur noch längst nicht erschöpft, denn aus den Darstellungen ergeben sich eo ipso weitere Fragen nach den eigentlichen Mechanismen: Wann ist rückblickend tatsächlich welche Infrastrukturzelle kritisch geworden? Welche Erfahrungen wurden gemacht? Welche Organisationsformen sind hieraus gewachsen und inwieweit lässt sich das Konzept der Kritikalität auch auf andere gesellschaftliche Zusammenhänge anwenden? Diesen Fragestellungen widmen sich die anderen vier Beiträge. Andreas Folkers bezieht sich dabei auf die erste Frage. Da er Infrastruktur einmal mehr mit der Daseinsvorsorge in Verbindung bringt, führt ihn dieser Begriff zunächst zu Ernst Forsthoff (1938). Dieser verstehe darunter die Versorgung mit u.a. „Wasser, Gas und Elektrizität […] die Bereitstellung der Verkehrsmittel jeder Art, die Post, Telephonie und Telegraphie, die hygienische Sicherung.“ Forsthoffs und auch Folkers Infrastrukturverständnis ist damit zweifellos ein sehr Modernes. Resümierend hält der Autor am Ende fest, dass im frühen 20. Jh. Infrastruktur vor allem kritisch für die Kriegsführung gewesen sei, Mitte des 20. Jhs. dann im Sinne der Lebenswichtigkeit (= öffentliche Infrastruktur), und dass Ende des 20. Jhs. bzw. zum Beginn des 21. Jhs. sich die Kritikalität von Infrastruktur auf die Systemwichtigkeit beziehe. Alexander Fekete macht in seinem Beitrag in Form einer, wie er schreibt, „essayistischen Aufarbeitung“, die Relevanzbewertung und Ohnmachtserfahrung hinsichtlich infrastruktureller Einrichtungen zum zentralen Thema. Bezüglich ersterer sei zwischen den zwei Beurteilungszeitpunkten „ex-ante (= Vermutung)“ und „ex-post“ zu unterscheiden, die Zuschreibung von Kritikalität lasse sich möglicherweise hierbei sowohl aus einem Machtdiskurs heraus, wie auch als eine Art Ohnmachtserfahrung interpretieren. Bereits bei Folkers wurde deutlich, dass Infrastrukturzellen zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Funktionen erfüllten und ihnen damit eine differente Bedeutung zukam. Anhand der Stadtmauer hebt Fekete den, in diesem Fall dreifachen, Funktionswechsel exemplarisch hervor: 1. die Mauer als Abgrenzungs- und Schutzwerk, 2. die Mauer als Markierungsinstrument differenter Entwicklungsbereiche sowie 3. die Mauer in ihrer Funktion als Abgrenzung von Sicherheitszonen und Zugängen zu Dienstleistungen und Infrastruktur. Solche Funktionswechsel müssen von der Forschung unbedingt mitberücksichtigt werden, so Fekete zutreffend. Die aus den Ingenieurwissenschaften stammenden Autoren Thomas Münzberg und Sadeeb Simon Ottenburger diskutieren den Prozess der Entscheidungsfindung, nämlich wer wann zur Abwehr von Gefahren was und wie zu entscheiden hat – aktuell werde dies in Deutschland im bestehenden Gefahrenabwehr- und Katastrophenschutzrecht geregelt. Ihrer Einschätzung nach wird den Entscheidungsmechanismen bis dato von der Forschung in keiner ausreichenden Weise Bedeutung zugemessen. Da die Herausgeber zu Beginn darauf verweisen, dass gerade auch die Deutungshoheit eine wichtige Rolle spielt, kann den Autoren an dieser Stelle nur beigepflichtet werden.
Dieser Aspekt leitet zwanglos zur letzten Frage über, nämlich inwieweit dem Kritikalitätskonzept auch in anderen Bereichen Relevanz zukommt. Sebastian Haumann präsentiert hier mit dem Schlagwort „kritische Rohstoffe“ einen weiteren Schlüsselbegriff. Darunter versteht er Rohstoffe, welche „essentiell für die Aufrechterhaltung von Produktionssystemen und zugleich ihre potentielle Schwachstelle“ sind. Auch hier gehe es um eine erhöhte gesellschaftliche Vulnerabilität, auch hier habe sich im Laufe der Geschichte die Zuschreibung immer wieder geändert. In Anbetracht dessen, dass Infrastrukturzellen immer wieder zur Sicherung von Ressourcen durch die verschiedenen Obrigkeiten eingesetzt worden sind – z.B. in Form von Burganlagen, welche den Wald als Ressource oder gar Abbaugebiete schützen sollten – bedeuten Haumanns Überlegungen für die ISG insgesamt eine wichtige Erkenntnis. Alfred Nordmann resümiert in seinem Schlusswort, Kritikalität sei insgesamt ein „promiskes Konzept“, basiere vor allem auf gesellschaftlicher Wahrnehmung, sei bezüglich ihrer Prognose stets an ein Bezugssystem geknüpft und werde in den meisten Fällen von den Menschen selbst verursacht. Gerade letzter Punkt spricht nach Meinung der Rezensentin einmal mehr für die Etablierung einer interdisziplinär und fächerübergreifend arbeitenden ISG, denn nur mit einer solchen lassen sich diese Prozesse nachhaltig untersuchen und langfristig für den aktuellen Umgang nutzbar machen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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