Einbruch in den Mikrokosmos

Edna O’Brien verbindet in „Die kleinen roten Stühle“ Weltgeschichte und private Geschichten

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Aufregung im kleinen Dorf Coonoila an der irischen Westküste ist groß, als eines Tages ein Fremder auftaucht, ein bärtiger attraktiver Mann, der sich als Heiler und Sexualtherapeut aus Montenegro ausgibt. Dr. Vladimir Dragan heiße er, genannt Vuk, was Wolf bedeutet. Man ahnt schnell, dass manches nicht so ist, wie es den Anschein macht oder machen sollte. Neben großer Skepsis, die Dragan im Dorf erfährt, werden ihm aber auch viel Sympathie und Wertschätzung entgegengebracht, insbesondere von Frauen. Er muss ein stattlicher Mann sein, einer, der die Frauen zu nehmen weiß, der ihnen das verloren gegangene Selbstwertgefühl zurückgibt, sie bestätigt in ihren Wünschen, ihrem Begehren. Fidelma ist eine von ihnen, die sich einlullen, verführen lässt. Blind vor Verliebtheit gibt sie sich ihm hin – dass sie endlich Erfüllung erlebt, versteht sich von selbst. Weit weg ist plötzlich ihr Mann, der ihr bis dahin Geborgenheit und Sicherheit gegeben hat. Alles gibt sie auf, vor allem aber sich selbst.

Denn dass alles anders ist, weiß die Leserin schon sehr früh. Vuk, der Wolf, ist ein Wolf im Schafspelz. Zwar wollen das die Leute im Dorf lange nicht zur Kenntnis nehmen, auch nicht, als sich Mujo bei einem großen Fest weigert, „Tabletts zu tragen, weil der Mann an Tisch siebzehn ein böser Mensch ist“. Mujo weiß, wer dieser Mann ist. Doch sein Wort zählt nichts. Trotzdem wird sein Versteckspiel Dragan nicht mehr lange schützen, wird der Kriegsverbrecher, der sich auch als Dichter ausgibt, erkannt, verhaftet und weggeführt.

Fidelma bezahlt vielfach für ihr Handeln. Sie ist schwanger – wie sehr hat sie sich ein Kind gewünscht, doch ihr Mann Jack konnte ihr diesen Wunsch nicht erfüllen. Sie verliert das Kind bei einem brutalen Übergriff dreier Männer, die sich an ihr für Vuks Handlungen rächen. Sie wird verstoßen – vom Dorf und von Jack.

Damit beginnt der zweite Teil des Romans, der in London spielt, wohin Fidelma geflohen ist. Sie befindet sich auf der untersten Stufe der Gesellschaft, bei den Obdachlosen, angewiesen auf Zuwendungen von Hilfswerken und barmherzigen Menschen, in einer Umgebung, die so ganz anders ist als die geliebte Heimat. Doch Fidelma ist stark geworden, sie kämpft – für sich und für Gerechtigkeit.

Es braucht nicht viel Spürsinn und Hintergrundwissen, um zu erkennen, dass Radovan Karadžić als Vorlage für die Figur von Dr. Vladamir Dragan diente. Im Roman gibt es unzählige Bezüge und Anspielungen, die auf den serbisch-kroatischen Kriegsverbrecher verweisen. Zahlreichen Interviews ist zu entnehmen, dass Edna O’Brien im Rahmen ihrer Recherchen in Den Haag beim Internationalen Gerichtshof war:

Mein Eindruck am Gerichtshof in Den Haag war der: Die ganze Sprache dort ist leblos, sie kommt niemals an den Kern des Menschlichen heran. Mein Eindruck war, dass dieser Mann immer lügen würde […]. Es ist nicht so, dass es reine Lüge wäre, aber diese Scharade des Gerichtshofes – eine Person bezeugt etwas, die Verteidiger fragen, der ganze Übersetzungsapparat dazu –, das macht es alles sehr abstrakt im Vergleich zu der menschlichen Agonie, zu den unmenschlichen Grausamkeiten, die da passiert sind. Man fühlt das Blut nicht dabei, nur die Fakten, um die es gerade im Moment geht.

In Die kleinen roten Stühle wagt die Autorin den Versuch, dieser Kaltblütigkeit des einen die Emotionen der anderen entgegenzusetzen. Fidelma ist seinem Charisma ausgeliefert. In naiver Offenheit erzählt sie dem angeblichen Therapeuten und Heiler, wie sehr sie sich ein Kind wünscht. Sie geht so weit, ihn in einem Brief direkt um ein Kind zu bitten. Da die meisten im Dorf – zumindest die Frauen – sich ebenso vereinnahmen lassen, hat Fidelma keine Chance, gewarnt zu werden und sich zu retten. So bleibt sie letztlich jene, die büßt für das Versagen der Gemeinschaft.

Das alles wird zwar hautnah erzählt, O’Brien weicht auch vor gewalttätigen Szenen nicht zurück, trotzdem erreicht es die Leserin nur bedingt. Zu absehbar sind die Entwicklungen, zu offensichtlich wird – nicht zuletzt wegen der Erzählweise aus verschiedenen Perspektiven – angekündigt, was geschehen wird (dazu gehören auch Namen wie Vuk und Fidelma). Auch vermag die Aufteilung des Romans in drei Teile nicht zu überzeugen: Nach dem ersten Teil im irischen Dorf und dem zweiten in London fährt Fidelma im dritten Teil nach Den Haag, besucht Vuk, der selbstverständlich keine Reue zeigt und schon gar keine Gefühle ihr gegenüber, kehrt zum sterbenden Jack zurück und findet letztlich nach Hause, zu sich, zurück. Doch die Erzählform und die Sprache bleiben in den verschiedenen Teilen die gleichen. Die Unterschiede der Handlungsorte wirken sich nicht auf das Erzählen aus. Es ist nicht erstaunlich, dass in zahlreichen positiven Besprechungen des Romans vor allem auf den ersten Teil eingegangen wird.

O’Briens Engagement ist dort erkennbar, wo sie aufzeigt, wie sich Manipulationsprozesse abspielen, wie überzeugend ein Kriegsverbrecher auftreten kann, der weiß, wie er für sich einnehmen kann. In diesen Szenen lässt sich nachlesen, wie Gewaltstrukturen und Machtausübung funktionieren, wie aussichtslos es ist, sich dagegen aufzulehnen, wenn der Mann der Stärkere ist. Den Preis dafür bezahlt die Frau mit ihrem Körper und ihrer Seele in doppelter Weise. Dass sexuelle Gewalt im Krieg eingesetzt wird, ist längst bekannt. Im Roman wird auch Fidelma mehrfach missbraucht und in der Folge als Aussätzige aus ihrem Dorf vertrieben. Ein Schicksal, das viele im Krieg vergewaltigte Frauen erleben.

Titelbild

Edna O'Brien: Die kleinen roten Stühle. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Kathrin Razum und Nikolaus Stingl.
Steidl Verlag, Göttingen 2017.
340 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783958293694

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch