Streifzug durch die Oasen

Hanns-Josef Ortheil macht sich auch zum 65. Geburtstag selbst ein Geschenk mit „Was ich liebe und was nicht“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Oasen sind Räume oder Schutzzonen, die ich während eines Jahres oft mehrmals aufsuche. Mit ihnen verbinde ich lange zurückliegende Erlebnisse, an die ich mich gern erinnere“, heißt es beinahe programmatisch im neuem Band Was ich liebe und was nicht von Hanns-Josef Ortheil. Er lädt geradezu ein, am Leben des Autors und Professors für kreatives Schreiben teilzunehmen, ihn in privateste Bereiche zu begleiten, an Vorlieben und Abneigungen zu partizipieren.

Seine große Affinität zur Musik und seine Reiseleidenschaft nehmen einen großen Teil des Bands ein, dessen Tonfall zwischen lockerer Plauderei und ambitioniertem Essay changiert. Kinobesuche, Streifzüge durch Museen und Galerien werden intelligent unter die Lupe genommen. Ortheil offenbart allerdings auch manch unbekannte Facette aus seinem Leben – so z.B. seine Liebe zur Fotografie. „Das Fotografieren begann, weil ich nicht zeichnen konnte“, berichtet er über seine Anfänge. Heute drücken Fotos für ihn den Wunsch nach Nähe aus, das Verlangen, etwas nah an sich heranholen zu wollen. „Fotografieren ist eine libidinöse Eroberung der Zeit. Filmen und alte Filme anschauen ist eine Begegnung mit dem eigenen, bald für möglich gehaltenen Sterben.“

Weiterhin philosophiert er über die Kunst des Briefeschreibens, erklärt uns seine Abneigung gegen das Telefonieren und lässt uns wissen, dass Mails das ideale Kommunikationsmedium sind, um den Alltag zu organisieren. Es gibt in diesem schonungslos offenen Band allerdings auch allerlei Belanglosigkeiten. Wir erfahren, dass Ortheil bei Restaurantbesuchen weder Aperitif noch Mineralwasserflaschen goutiert und begleiten ihn beim Fliegekauf in einem Amsterdamer Textilgeschäft. Das liest sich an mancher Stelle schon etwas selbstverliebt, aber es ist (wie fast immer bei diesem Autor) wunderbar formuliert.

Aus der Generation der Nachkriegsgeborenen zählt Ortheil fraglos zu den versiertesten, vielseitigsten und produktivsten Autoren. Mit seiner sprachgewaltigen, im 18. Jahrhundert angesiedelten Künstler-Romantrilogie (1998-2000 erschienen) hat der gebürtige Kölner Kritik und Leser gleichermaßen fasziniert. Vieles aus den jüngeren Büchern entstammt Ortheils eigener Vita: das introvertierte Kind, das verstummte und erst im Alter von sieben Jahren richtig zu sprechen begann; das dann großes musikalisches Talent offenbarte, aber wegen chronischer Sehnenscheidenbeschwerden die angestrebte Pianistenkarriere aufgeben musste. „In der Einsamkeit des Westerwaldes habe ich auf dem elterlichen Bauernhof meines Vaters das Sprechen gelernt“, erklärte Ortheil einmal in einem Interview. Seine Mutter, die in der Nachkriegszeit vier Kinder verloren hatte, war irgendwann verstummt. Und mit drei Jahren stellte auch Ortheil das Sprechen ein. In der Figur des Johannes Catt aus Die Erfindung des Lebens (2009) spiegeln sich die überaus wechselvollen Kinder- und Jugendjahre des Autors, der überdies seit 2003 als Professor für kreatives Schreiben an der Uni Hildesheim tätig ist.

„Ich war geradezu besessen davon, in unserer hyperkommunikativen Zeit einen Roman über das Schweigen und die Stille zu schreiben“, berichtet Ortheil über seine Motive für den 2011 erschienenen Roman Liebesnähe. Ein Buch, das so ganz und gar nicht in unsere schnelllebige Zeit passte und das zudem eine völlig neue Dimension des zeitgenössischen Liebesromans eröffnete. Man meint, dieser Roman sei nicht geschrieben, sondern komponiert – mit einer ganz sanften, fast stillen Tonfolge.

Mit Liebesnähe hat Hanns-Josef Ortheil, der am 5. November seinen 65. Geburtstag feiert, nach Die große Liebe (2003), und Das Verlangen nach Liebe (2007) seine große Liebesroman-Trilogie abgeschlossen und ein flammendes Plädoyer für die Erotik der Stille vorgelegt. Der schönste, fantasievollste und emotionalste Liebesroman der letzten zehn Jahre.

In den stark autobiografischen Bänden Moselreise (2010) und Berlinreise (2014) hat Ortheil seine Kindheitserinnerungen und seine Reiseleidenschaft auf anspruchsvolle, aber auch unterhaltsame Weise vereint. Oasen und Schutzzonen, private Rückzugsgebiete sind bei ihm sehr häufig Thema. Immer dann mit besonderer Intensität, wenn er seine eigene Vita im Blick hatte.

Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Was ich liebe und was nicht.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.
366 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874166

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