Oscarverleihung in Zeiten des Wandels

Zwei sehr unterschiedliche Rassismus-Dramen und eine mexikanische Netflix-Produktion im Rennen um den „Besten Film“

Von Dominik RoseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Rose

Wenn am kommenden Sonntag, den 24. Februar, in Los Angeles die 91. Oscar-Verleihungen stattfinden werden, könnte tatsächlich Geschichte geschrieben werden. Noch nie hat ein fremdsprachiges Werk den Hauptpreis als „Bester Film“ gewinnen können, und nun geht das von Alfonso Cuaron in spanischer Sprache gedrehte Familiendrama Roma mit gleich zehn Nominierungen ins Rennen. Der Film erzählt in poetischen Schwarz-Weiß-Bildern aus der Perspektive eines Hausmädchens die autobiografisch gefärbte Geschichte einer wohlhabenden Familie im Mexico-City der frühen 1970er Jahre. Roma, beim Filmfestival in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, ist mit seinen kunstvollen Einstellungen, die eine nahezu meditative Ruhe ausstrahlen, aber auch ein riskanter Tipp. Zum einen ist ungewiss, ob sich alle Juroren auf das reduzierte Erzähltempo einlassen, zum anderen ist der Film eine Netflix-Produktion – und der Streamingdienst (und eben auch Filmproduzent) wird in großen Teilen Hollywoods als Bedrohung angesehen. Immerhin, Netflix hat Roma international zusätzlich zu seinem Streamingangebot auch in die Kinos gebracht – aus taktischen Gründen, um seine Oscarchancen zu wahren. In den Kategorien „Beste Regie“ und „Beste Kamera“ (für beides zeichnet Alfonso Cuaron verantwortlich) dürfte Roma klarer Favorit sein, ebenso wie in der Sparte des „besten fremdsprachigen Films“, in der ihm Pawel Pawlikowskis Cold War noch am ehesten gefährlich werden könnte. Der ebenfalls nominierte deutsche Beitrag Werk ohne Autor, der hierzulande in den Feuilletons aufgrund seines simplifizierenden Umgangs mit der deutschen Geschichte stark kritisiert worden ist, gilt als chancenlos.

Die größten Hauptkonkurrenten von Roma sind womöglich zwei US-Produktionen, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen. Spike Lees grimmiger, auf wahren Begebenheiten beruhender Genremix BlacKkKlansman, in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, verknüpft auf satirische Weise die wahre Geschichte eines afroamerikanischen Polizisten, der mit Unterstützung eines weißen Kollegen in den 1970er Jahren gegen den Ku-Klux-Klan ermittelt, mit einer bitteren Bestandsaufnahme des aktuell grassierenden Rassismus unter Präsident Trump, der in den gewaltsamen Neonazi-Ausschreitungen in Charlottesville im August 2017 seinen vorläufigen Höhepunkt fand. In allen relevanten Hauptkategorien nominiert, fehlen dem Film jedoch wegweisende Auszeichnungen bei den Golden Globes oder den Gilde-Preisen der Filmindustrie, die alljährlich als Stimmungsbarometer für die Oscars angesehen werden. Gute Chancen hat Spike Lee dennoch für sein „adaptiertes Drehbuch“ – die Academy setzt gern eine politische Botschaft und könnte zudem endlich einen der streitbarsten schwarzen Filmemacher auszeichnen. Außerdem hat BlacKkKlansman auch Chancen auf eine Auszeichnung für den „besten Schnitt“, der dem Film zusammen mit dem poppigen Soundtrack seinen coolen, an das Blacksploitation-Genre angelehnten Rhythmus verleiht. Das nostalgische Drama Green Book, das ebenfalls auf historischen Ereignissen beruht und von der ungewöhnlichen Freundschaft eines schwarzen Jazz-Pianisten (Mahershala Ali) und seines proletarischen Chauffeurs (Viggo Mortensen) handelt, die in den 1950er Jahren durch die rassistisch geprägten Südstaaten touren, hat mit dem Golden Globe in der Komödiensparte sowie dem Preis der Produzentengilde im Vorfeld gleich zwei wichtige Auszeichnungen bekommen. Von einigen Kritikern als Miss Daisy und ihr Chauffeur-Verschnitt verschmäht, ist der Film andererseits sehr populär und passt mit seiner positiven Botschaft einer die Rassenkonflikte überwindenden Freundschaft sehr gut in eine Zeit, in der die USA durch politische Konflikte tief gespalten sind und sich nach einer versöhnlichen Geschichte sehnen. Dennoch, in seiner konventionellen und etwas schlichten Machart wäre Green Book, dem zudem auch eine Nominierung in der wichtigen Regie-Sparte fehlt, ein überraschender Sieger, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Academy seit 2015 verstärkt für neue, auch internationale Mitglieder geöffnet hat, um den Altersschnitt zu senken und mehr Diversität zu erreichen – eine demografische Entwicklung, die mutmaßlich auch 2017 dem kunstvollen Arthouse-Film Moonlight zum Sieg über einen klassischen Kandidaten wie La La Land verholfen hat. All das macht Roma, seinen Chancen-„Handicaps“ zum Trotz, zu einem guten Oscar-Tipp. Für Green Book könnten allerdings zwei andere Preise herausspringen: Mahershala Ali gilt als Favorit für den besten Nebendarsteller, außerdem könnte das „originale Drehbuch“ ausgezeichnet werden – zwar tritt der Film hier unter anderem gegen Oscarfavorit Roma an, aber Drehbuchautor Cuaron hat ja noch in einigen anderen Sparten große Siegchancen, weshalb die Academy vermutlich die Preise salomonisch verteilen wird.

Das britische Kostümdrama The Favourite, ebenso wie Roma für zehn Preise nominiert, sollte auf den ersten Blick ebenfalls zu den großen Favoriten zählen, jedoch ist fraglich, ob die extravagante Studie des weiblichen Machtkampfs um die gemütskranke Queen Anne (Olivia Colman) am englischen Königshof des frühen 18. Jahrhunderts nicht eher wohlwollenden Respekt als leidenschaftliche Unterstützung erfährt. Bei den Golden Globes und den Gildepreisen hatte das neue Werk des gefeierten Arthouse-Regisseurs Yorgos Lanthimos jeweils das Nachsehen. Seine edlen „Kostüme“ und die prunkvolle „Ausstattung“ haben vermutlich die besten Oscarchancen, das mit einer ausgeklügelten Charakterstudie und geschliffenen Dialogen auftrumpfende „originale Drehbuch“ wäre ebenfalls preiswürdig – allerdings muss es sich gegen starke Konkurrenten wie Green Book oder Roma durchsetzen. In den Schauspielkategorien sind gleich alle drei Hauptdarstellerinnen aus The Favourite nominiert – wobei nur Olivia Colman als Hauptdarstellerin, Rachel Weisz und Emma Stone jedoch als Nebendarstellerinnen ins Rennen gehen. Eine taktische Entscheidung der Produktionsfirma, damit nicht alle drei Kandidatinnen gegeneinander antreten müssen. Zwar haben Colman und Weisz bei der Verleihung der British Academy den Heimvorteil genutzt und gewonnen, bei den Oscars sind sie jedoch eher in einer Außenseiterposition. Als „beste Hauptdarstellerin“ dürfte nach sechs erfolglosen Anläufen endlich Glenn Close als betrogene Ehefrau an der Seite eines berühmten Schriftstellers in The Wife ausgezeichnet werden. Ihre Rolle ist zwar im Vergleich zu Colmans skurriler Queen Anne eher unscheinbar angelegt, aber Close gilt allgemein als „überfällig“, was den Ausschlag geben dürfte. In der Kategorie der „besten Nebendarstellerin“ zeichnet sich hingegen keine klare Favoritin ab. Eine Auszeichnung für die mexikanische Schauspielerin Marina de Tavira als verlassene Ehefrau könnte schon früh am Abend auf einen Siegeszug von Roma hindeuten, viele Experten prognostizieren hingegen – analog zu Glenn Close Favoritenrolle – eine Art „Karrierepreis“ für die bislang zwar mehrfach nominierte, jedoch immer leer ausgegangene Amy Adams als Dick Cheneys Ehefrau in der Politsatire Vice. Mein Tipp ist jedoch die in den USA sehr populäre Regina King, die sich vor allem als Seriendarstellerin einen Namen gemacht hat und nun für ihre Rolle in If Beale Street could talk, der Adaption eines Romans von James Baldwin, prämiert werden könnte (der Film hat ebenfalls gute Chancen für seine gefühlvolle „Filmmusik“, die sich allerdings unter anderem gegen den bombastischen Soundtrack von Black Panther durchsetzen muss). Den Golden Globe hat King für ihre Leistung bereits erhalten. In der Sparte des „besten Hauptdarstellers“ galt lange Zeit Christian Bale als Favorit, der sich in Vice einmal mehr als Schauspielchamäleon erweist und sich optisch auf erstaunliche Weise dem ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney angleicht. Doch Rami Malek, bislang vor allem aus der Serie Mr. Robot bekannt, hat ihm mit seinem Porträt Freddy Mercurys in Bohemian Rhapsody wohl den Rang abgelaufen. Alles andere als ein Sieg Maleks wäre eine große Überraschung, zumal sich sein Film auch als weltweiter Kassenschlager erwiesen hat. Für Vice, der nach mäßiger Kritiker- und Publikums-Resonanz für viele Experten überraschend in allen relevanten Hauptkategorien nominiert wurde, könnte am Ende immerhin der Preis für das „beste Make-up“ herausspringen.

Am Beispiel von Bohemian Rhapsody, der schwachen Kritiken zum Trotz für insgesamt fünf Preise einschließlich dem für den „besten Film“ nominiert worden ist, zeigt sich das Dilemma der Academy, die seit Jahren mit sinkenden Einschaltquoten zu kämpfen hat und im Vorfeld sogar eine neue Kategorie des „besten populären Films“ erwogen hatte, um wieder ein größeres Publikum zu erreichen. Zwar wurde dieser Plan vom internen Gremium abgeschmettert – ebenso wie die krude Idee, die Verleihung einzelner Preise in die Werbepause zu verlegen und so die Show zu kürzen, die nach internen Protesten jedoch verworfen wurde –, allerdings zeigt sich in diesem Jahr mit den Nominierungen von Blockbustern wie dem Marvel-Actionfilm Black Panther und eben Bohemian Rhapsody, die in früheren Jahren wohl kaum als Kandidaten für die Hauptkategorie in Frage gekommen wären, der angestrengte Wille, sich mit der Nominierungsauswahl dem Geschmack des breiten Kinopublikums anzunähern. Auch A Star is born, Bradley Coopers Remake über den Aufstieg einer Sängerin (gespielt von Lady Gaga), ist ein großer internationaler Kassenerfolg, dem viele Experten eine frühe Favoritenrolle zugesprochen hatten. Nachdem der Film jedoch in den wichtigen Sparten „Regie“ und „bester Schnitt“ überraschend nicht in die engere Auswahl gekommen ist, darf er sich allenfalls Hoffnungen auf Preise für den „besten Filmsong“ (Shallow von Lady Gaga) und eventuell den „besten Ton“ machen – allerdings tritt er dort gegen einen noch populäreren Musikfilm an: Bohemian Rhapsody.

Zum enttäuschenden Abschneiden des Kritikererfolgs First Man in den Hauptkategorien dürfte sein gemessen an den hohen Produktionskosten schwaches Einspielergebnis an den US-Kinokassen beigetragen haben – zum US-Kinostart des Dramas um die legendäre Weltraummission von Neil Armstrong gab es von konservativer Seite aus einige Angriffe auf den Film, der seinen Gegnern nicht patriotisch genug erschien. Es wäre der technisch beeindruckenden Regiearbeit von Damien Chazelle zu wünschen, wenn First Man zumindest in den Kategorien „bester Tonschnitt“ und „visuelle Effekte“ ausgezeichnet würde – allein aufgrund der meisterhaft in Szene gesetzten Weltraumszenen. Während es in der Kategorie des „besten Animationsfilms“ mit Spider-Man: Into the Spider-Verse einen klaren Favoriten gibt, ist die Sparte des „besten Dokumentarfilms“ hart umkämpft: Eine Auszeichnung für RBG, eine Hommage an die 85-jährige, liberale Richterin am Obersten Gerichtshof der USA, Ruth Bader Ginsburg, wäre eines jener politischen Statements, denen die Academy selten widerstehen kann. Mit dem hochgelobten Adoleszenz-Porträt Minding the Gap über eine Gruppe junger Skateboarder sowie dem bereits mit einigen Preisen ausgezeichneten Free Solo über den in der Szene berühmten Freikletterer Alex Honnold stehen in filmischer Hinsicht allerdings aufregendere Konkurrenten bereit. Die beeindruckenden Naturaufnahmen und nervenaufreibenden Szenen des sich ungesichert dem gefahrvollen Aufstieg des El Capitan-Felsens stellenden Honnold könnten Free Solo am Ende den Oscar bescheren.

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