Urbanität und Minorität

Die Anthologie „Flexen. Flâneusen* schreiben Städte“ wird ihren selbstgesteckten Ansprüchen nur zum Teil gerecht

Von Sarah MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Titel und Vorwort der Anthologie von Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann und Lea Sauer markieren einen dezidiert (literatur-)politischen Anspruch: Der Begriff des Flanierens soll korrigiert und erweitert werden – um die vielfältigen Weisen des ‚Umherwandelns in Städten‘, die vom traditionellen Bild des Flaneurs „mit Spazierstock und Zylinder auf den großen Boulevards“ verstellt werden. Flâneuserie = Flexen heißt die Formel, nach der die literarisch fixierte Stadterfahrung von „Frauen*, People of Colour und queeren Menschen“ zum Werkzeug wird, um Schnitte zu setzen in eine kulturgeschichtlich so stabile wie exklusive Aufteilung des Sinnlichen (Jacques Rancière) im urbanen Raum. Wie man auf der Homepage des Verbrecher Verlags nachlesen kann, ist diese als ‚Empowerment‘ und ‚Sichtbarmachung‘ apostrophierte Programmatik des 2019 erschienenen Bandes auf große und durchaus positive Resonanz gestoßen, sowohl in den einschlägigen Feuilletons als auch in Blogs und popkulturellen (Independent) Magazinen. Man kann in der Tat mit Gewinn durch das Textpanorama ‚flanieren‘; mit genauerem Blick auf die literarischen Realisierungen des politischen Programms muss die Würdigung allerdings ambivalenter ausfallen.

Bei 30 Textbeiträgen von überwiegend Nachwuchsautorinnen überrascht die qualitative wie formale Heterogenität nicht. Das Formenspektrum reicht von experimentellen Prosastücken bzw. Collagen (Gerhild Steinbuch, Sandra Burkhardt), über Lyrik (Ronya Othmann, Anna Hetzer), Essays (Anke Stelling, Anneke Lubkowitz, Sibylla Vričić Hausmann) und Reportage (Julia Lauter) bis hin zum den Band beschließenden Interview mit Lauren Elkin, die sich in ihrem 2018 auf Deutsch erschienenen Buch Flâneuse historischen Beispielen weiblicher Flanerie widmet (wie Virginia Woolf, Jean Rhys oder Holly Golightly). Es dominieren jedoch meist in erster Person Singular verfasste, narrativ-reflexive Prosastücke, die den angestammten Raum des Flaneurs – die moderne Metropole – verlassen und in den hybriden, trans- und multikulturellen, globalisierten und teils postkolonialen Großstädten wie Istanbul, Jakarta, Mumbai, Dublin, Sarajevo, Warschau, Beirut, Mexiko-Stadt, aber auch Berlin und Hamburg spielen. Hier flaniert bzw. flext nicht selten die Besucherin – als Auslands-Studierende, Stipendiatin, Touristin, als Sohn, der die Asche seines nach Deutschland emigrierten Vaters zur Beisetzung in die Türkei bringt. Die Flâneusen* bewegen sich von den Stadtzentren mit ihren Insignien der Globalisierung („Hipster“, Western-Union-Filialen, Burger-Bars, Sushi-Läden…) in die innerstädtischen Nischen- und Schwellenräume: in subkulturelle Bohème-Milieus, in noch nicht vollends gentrifizierte Viertel, in die „Peripherie Europas“, wo sich zeigt, „wie wir nicht leben wollen“. 

Insgesamt bereichern die Texte durchaus das flanierende Figurenarsenal der Literatur und insbesondere die überzeugendsten Prosastücke wie Nadire Y. Biskins Borderline oder Deniz Ohdes Dresden – Chemnitz (drei Männer) machen die semiotische Beobachtungskompetenz des Flaneurs literarisch fruchtbar, um dem urbanen Alltag soziale und rassistische Ungleichheiten und Mechanismen abzulesen. Dabei erhellen die Texte auch blinde Flecken der Flaneur-Forschung: Diese ist durchaus bemüht, der (historischen) Vielfalt von Flaneur-Figuren und -konzeptionen jenseits der großen Namen, allen voran Walter Benjamin, gerecht zu werden. So hat etwa Harald Neumeyer schon 1999 in seiner einschlägigen Monografie Der Flaneur: Konzeptionen der Moderne eine Minimaldefinition vorgeschlagen, die Flanerie als „ziel- wie richtungslose Bewegung durch den Zeit-Raum der Großstadt und eine damit verknüpfte prinzipiell für alle Erscheinungen offene Wahrnehmungsdisposition“ konzipiert. Die Texte in Flexen führen allerdings vor Augen, wie voraussetzungsreich eine derart „offene Wahrnehmungsdisposition“ ist. So ist die Erzählerin in Ohdes Text, der offenbar auf die rassistischen, als ‚Hetzjagden‘ diskutierten Übergriffe 2018 in Chemnitz rekurriert, geradewegs dazu gezwungen, ihre Umgebung und insbesondere die ihr begegnenden Männer auf ihr rassistisches Bedrohungspotential hin zu ‚lesen‘. Und auch andere Figuren sehen sich genötigt, ihre Ziele und Richtungen einzuschränken, Blicken auszuweichen, sich über Ängste hinwegzusetzen (etwa in Cornelia Manikowskys Abend im Sommer und Leyla Bektaş Güerita) und/oder Räume zu besetzen, in denen sie nicht vorgesehen sind (wie in Lauters Reportage über indische Aktivistinnen, für die das Flanieren zum Akt des Widerstands wird). Die dem Flaneur eigene Perspektive und Position des Außenstehenden ist für die minoritären Subjekte eben keine selbstgewählte. Sie sind, wie der jüdischen Passantin bei der Konfrontation mit einem Mahnmal bewusst wird (Judith Coffey), „nicht intendiert“ und daher niemals nur Subjekte, sondern immer auch Objekte von Blicken und Beurteilungen bis hin zu Ausgrenzung und Gewalt. Hierin liegt wohl auch die auf den ersten Blick irritierende Tatsache begründet, dass einige Texte nicht nur im öffentlichen urbanen Raum spielen, sondern auch in den ‚privaten‘ Innenräumen: Wohnungen, die zum Rückzugsraum oder gar zur „Zelle“ werden, die „mich schützt und einsperrt“ (Kamala Dubrovnik) oder in denen Ausgeschlossene zusammenfinden (Dinçer Güçyeter, Leona Stahlmann). Wie Anneke Lubkowitz mit Rekurs auf Charlotte Brontë formuliert, kommt hier eine andere Unsichtbarkeit als die des „flanierenden Literaten“ zum Tragen, kulturgeschichtlich verkörpert in der ‚rasend Eingesperrten‘, die „nicht nur ein Gegenbild zum Ideal der viktorianischen Frau darstellt, sondern auch zur Figur des Flaneurs, die sich in der gleichen Zeit zu entwickeln begann“.

Die derart „in der Dachkammer der Gesellschaft Eingesperrten“ sind vielfältig – und hier lässt der Band die Leserin etwas enttäuscht zurück: Trotz des explizit formulierten Anspruchs, Minorität in ihrer (intersektionalen) Diversität abzubilden, dominiert unterm Strich der problematisierende Blick auf Sexualität, Geschlecht und Gender. Texte wie Mirjam Aggelers Wenn du lächeln würdest, der die weibliche Erfahrung männlicher Übergriffigkeit im öffentlichen Raum thematisiert, fokussieren eng abgesteckte Sachverhalte wie das auch im Interview mit Lauren Elkin zur Sprache kommende Street Harrassment. Sie lesen sich streckenweise wie die Begleitlektüre zu mehr oder weniger aktuellen Kampagnen des fourth wave feminism oder Netzfeminismus, dessen instrumenteller Schwerpunkt auf das Internet bzw. Social Media sowie klar umgrenzte aktivistische Einsatzfelder (vgl. #aufschrei und #MeToo) zwar Breitenwirkung generieren, aber nicht unbedingt analytische Tiefe in puncto übergreifender sozioökonomischer Strukturen. 

Wieso das problematisch ist, führt der Band ebenfalls vor Augen: Während die zurecht hervorgehobene Unmarkiertheit des männlichen Blicks als Möglichkeitsbedingung einer distanzierten Beobachterposition erfolgreich dekonstruiert wird, gilt das weniger für das sozioökonomische Milieu der Figuren. Dündars Text Die Luders, der aus der Perspektive einer Clique unterprivilegierter, tougher weiblicher Teenager erzählt, bildet eine Ausnahme – ansonsten hat man es nicht selten mit jungen Akademiker- und Künstlersubjekten, digitalen Nomaden und flexibilisierten Existenzen zu tun. Gefälle im Subjekt-Objekt-Verhältnis bleiben bestehen, sodass man die Stadterfahrung etwa des männlichen Obdachlosen, der von Altersarmut betroffenen Pfandsammlerin, des illegalen Tagelöhners, der Frau mit Behinderung oder auch nur des Kindes in der urbanen Erwachsenenwelt vergeblich sucht oder weiterhin nur auf Objektseite findet. Interaktion findet nur im eigenen Milieu statt. Vielleicht weil, wie Katia Sophia Ditzler lapidar formuliert, die Flâneusen* die Erfahrung machen, dass man „niemals mit Leuten, von denen man sich zu sehr untersch[eidet], sei es charakterlich, sei es finanziell, auf einer Stufe sein“ kann.

Solche Erfahrungen des Getrennt-Seins mögen der Grund für ein weiteres Charakteristikum des Bandes sein: Ein Großteil der Texte präsentieren den urbanen Raum auch als Stimmungsraum, der seine Eigentümlichkeit durch das Zusammenspiel von räumlichen Strukturen und persönlicher Befindlichkeit erhält. So prägt den Band eine teils surreal-träumerische Stimmung à la Lost in Translation, eine gewisse erschöpfte Schwermut, die mit der Gleichzeitigkeit von „Freiheit und Heimatlosigkeit“ einhergeht und an deren Horizont der „Hunger nach dem anderen“, die Sehnsucht nach „echte[n] Freundschaften“ und Nähe aufscheint, wie sie die Erzählerfigur in Katharina Suckers Auf die andere Seite in der Achselhöhle eines Prostituierten findet: „Das T-Shirt dort war schweißgetränkt und roch scharf, aber es war mir egal“. Nicht wenige Texte enden mit solchen evokativen Stimmungsbildern oder lassen den Gedankengang in immer kürzer werdenden Sätzen ausklingen, ja geradezu verklingen: 

Noch nie hatte ich so viel Himmel und denke, das ist der beste Ort, um jemanden umzubringen oder Selbstmord zu begehen. (Bettina Wilpert)

Die Treppe knarzt unter meinen Schritten, wie es nur Altbautreppen können. Sie klingen dumpf und holzig. Und hallen trotzdem nach. Es ist genug für heute. Ich muss gehen. Und morgen wiederkommen. (Kamala Dubrovnik)

Das australische Visum kam. Ich buchte den nächsten Flug. Es war August. (Katia Sophia Ditzler)

Vielmehr verwandeln wir unseren Zorn in Energie. Wir laufen ihn weg. Schwitzen ihn aus. Wir machen mehr Schritte in kürzerer Zeit. (Svenja Gräfen)

Durch das Fenster schaue ich eine staubige Straße hoch, ein Junge läuft in unsere Richtung und für einen kurzen Moment habe ich den Eindruck, dass sich unsere Blicke kreuzen. Im Himmel hinter ihm braut sich was zusammen. (Leyla Bektaş)

Derartige Schluss-Passagen lesen sich wie Codierungen der Nachdenklichkeit, über die Roland Barthes in S/Z formuliert: „[D]ie Nachdenklichkeit (der Gesichter, der Texte) ist der Signifikant des Unausdrückbaren“ und stattet den Text mit „Innerlichkeit“ und „Tiefe“ aus. Spätestens an Stellen wie den zitierten kippt die Exploration des städtischen Raums in die Suggestion von Innerlichkeit. Städtische Räume geraten dann nurmehr zu Hintergründen für die evokative Entfaltung von (teils pathologischen) Psychodynamiken, etwa als Konsequenzen destruktiver Beziehungen, wie in Ditzlers Text, deren Protagonistin in Jakarta offenbar ihre Beziehung zu einem Partner mit „Cluster B-Persönlichkeitsstörungen“ verarbeitet, in Dubrovniks Hausnummer 29 über eine Frau, die aufgrund von Gewalterfahrungen in ihrer Beziehung die eigene Wohnung kaum mehr verlassen kann, in Lea Sauers Eine Überlebende, Eine Zeugin, Ein Bericht, dessen Erzählerin die ihr zugefügten und deutlich sichtbaren Verletzungen in den öffentlichen Raum trägt, wo sie jedoch von allen übersehen werden, oder auch in Stahlmanns Schaumnest, dessen Protagonistin so gern in St. Pauli lebt, weil ihr das übersexualisierte Umfeld ermöglicht, die eigene Asexualität unbehelligt zu leben: „Die meisten sehen in ihrem Desinteresse an Sex eine Abgeklärtheit, die ihr Wohnort zu bestätigen scheint […]. Muriel braucht kein einziges sexuelles Gefühl in diesem Viertel, das erledigt der Kiez für sie“.

Dagegen ist per se nichts einzuwenden – gemessen am selbstgesetzten literarpolitischen Programm, die Perspektiven auf Stadt und Stadterfahrung zu erweitern, verspielen die Tendenz zur Psychologisierung, die thematische Dominanz geschlechtlicher Machtverhältnisse und die stilistische Dominanz der Stimmungsevokation allerdings einen Teil des analytischen (historisch materialistischen oder semiotisch-gegenwartsdiagnostischen) Potentials des flanierenden Blicks auf die Stadt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Özlem Özgül Dündar / Mia Göhring / Ronya Othmann / Lea Sauer: Flexen. Flâneusen*schreiben Städte.
Verbrecher Verlag, Berlin 2019.
272 Seiten, 18 EUR.
ISBN-13: 9783957324061

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