Meisterwerk mit Hausfrau
Hiroko Oyamada bewegt in ihrem hyperrealen Text „Das Loch“ Tiere und Kinderfiguren durch eine kaleidoskopartige Kulisse
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHiroko Oyamada (*1983) erhielt für das Werk Ana, in deutscher Übersetzung Das Loch, bereits 2014 den renommierten Akutagawa-Preis. Oyamada zählt zu den zeitgenössischen japanischen Schriftstellerinnen in der Tradition der literarischen Literatur. Dies birgt das Risiko, keine Erfolge auf einem Bestsellermarkt zu erzielen, der Ratgeber oder tröstende, wahlweise „herzerwärmende“ Inhalte bevorzugt. Ana ist ein individuell gestalteter Roman, der sich durch eine überzeugende Sprachlichkeit und faszinierende Szenensequenzen auszeichnet. Die Schilderungen haben Sogwirkung, Sinneseindrücke sind unmittelbar nachzuvollziehen: Hitze, grelles Licht, das penetrante Zirpen der Zikaden im Spätsommer, Gerüche am Flussufer. Bei Das Loch handelt es sich um einen kafkaesken Entwurf mit Elementen der japanischen Phantastik – manche Passage wirkt wie die zeitgemäße Überschreibung einer Geschichte von Hyakken Uchida (1989-1971). Auch sind Ähnlichkeiten zu Yôko Ogawa und ihrem exquisiten Moratoriums-Psychodesign zu beobachten. Wenn Ogawas Welt weiblicher Innerlichkeit und ihrer Distanz zu Forderungen der sozialen und biologischen Realität vor drei Dekaden Ausdruck verlieh, gelingt Oyamada nun eine aktuelle Version, die die Gegebenheiten der Jahrtausendwende echot.
Ein Umzug auf das Land
Die Geschichte beginnt mit dem Umzug eines Ehepaars von der Stadt aufs Land. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive von Asa (Asahi), der Frau. Ihre Schwiegereltern überlassen dem jungen Paar ein zur Vermietung gedachtes Haus auf dem Grundstück der Familie Matsuura. Asa zieht mit Muneaki dort ein und gibt ihren Job als freie Mitarbeiterin einer Firma auf. Man erfährt, dass die Tätigkeit sie ohnehin nicht erfüllt hat und im Unterschied zu den Festangestellten wurde sie deutlich schlechter entlohnt. Hier hebt die Autorin – wie etliche Verfasser von Prekariatsliteratur zuvor – auf den Wandel der japanischen Arbeitskultur im Kontext der in den 2000er Jahren unter Premierminister Koizumi durchgeführten neoliberalen Reformen ab; die Mutter ihres Ehemanns Muneaki hatte früher einen wesentlich besseren Eintritt ins Berufsleben. Mit der Verlagerung des Wohnsitzes wechselt die Ich-Figur ins Hausfrauendasein, ohne konkrete Pläne für die Zukunft. Weder geht sie die Suche nach einem Job an, noch erwägt sie ernsthaft die Schwangerschaft. Die abgelegene, wenig erschlossene Umgebung bietet kaum Abwechslung, so dass sie nach der alltäglichen Frühstückszubereitung für den Gatten und dem Einkauf im einzigen Supermarkt am Ort in Langeweile verfällt.
Der Großvater mit dem Schlauch
Wie in einem guten Horrorfilm beginnt die Hauptperson, transferiert in ein fremdes Milieu, sich mit dem Unbekannten auseinanderzusetzen. Sie bemerkt, wie spärlich sie über die Familie ihres Mannes informiert ist, als sie eine Banktransaktion für die Schwiegermutter durchführen soll und noch nicht einmal deren Telefonnummer weiß. Auch der betagte Großvater erscheint Asa etwas merkwürdig:
Die Sonne brannte ungewöhnlich stark. Kein Wind wehte, die Luft stand. Vor dem Haus war der Großvater; er sprengte den Garten. Er trug einen großen Strohhut auf dem Kopf und hielt einen blau schimmernden Wasserschlauch in der Hand.
Seltsam ist nicht nur das stete Wässern des Gartens in sengender Hitze, sondern sein Gebaren. Er spricht nicht, hebt bloß den Arm und öffnet den Mund zu einem Lächeln mit viel Zähnen. Der Weg zum Konbini, in diesem Fall ein 7-Eleven-Shop, führt am Fluss entlang. Asa trifft auf keinen Menschen und macht Bekanntschaft mit der hochsommerlichen, irgendwie absonderlichen Natur:
Durch das Schilf sah ich einen großen grauen Vogel starr im Wasser stehen, eine Reiherart, kein Zugvogel. An manchen Stellen war das Wasser von einem trüben Blau, dann von einem stillen Grün, oder pechschwarz, wenn es den Himmel reflektierte. Die trockenen Halme verbreiteten einen Geruch nach gerösteten Fasern. Mitten auf dem Weg lag ein großer tiefschwarzer, feucht schimmernder Hundehaufen, auf dem sich zwei silbrige Fliegen niedergelassen hatten. Fliegen ernährten sich von Hundekot, aber wie muss es sich anfühlen, wenn man Hände, Füße und Gesicht dort hineingräbt und davon isst? Auch die Fliegen rührten sich nicht. Vielleicht waren sie tot.
Im Bann des ruralen Metabolismus
Während ihres Ganges durch die Landschaft hat die Heldin das Gefühl, sie würde „lauter Dinge“ unter sich zertreten, „Insekten, ihre Kadaver; Tiere, Müll, Pflanzen, Exkremente (…).“ Da erblickt sie auf dem Pfad ein schwarzes Lebewesen – eventuell ein Hund: „Der Schwanz war lang und geschwungen, die kaum sichtbaren Ohren rund.“ Die Kreatur besitzt ein borstiges Fell, stramme Oberschenkel auf stelzenförmig dürren Waden, scheint aber insgesamt feist zu sein. Die Wanderin folgt der Gestalt zum Deich und zur Uferböschung hinunter; plötzlich fällt sie in ein Loch. Das Schilf befindet sich dadurch auf Brust- und Gesichtshöhe, wodurch sie sieht, wie ein „Schnellkäfer aus dem Grün“ hervorspringt – ein gestreifter schwarzer Käfer von länglichem Körperbau.
Oyamada führt ihre Protagonistin und die Leser auf der Spur des Wesens mitten hinein in das Geschehen und in perfekt illustrierte, wechselnde Perspektiven. Es sind gleichsam die einer photographischen Linse, die nach Weitwinkelaufnahmen kleinste Details im Zoom in den Fokus nimmt. Der Blick richtet sich auf den Rhythmus von Farbabfolgen, registriert Fliegen auf dem Hundehaufen, die Musterung eines Chitinpanzers, rote und schwarze Ameisen oder einen nagerartigen Bewohner in der Erdwand des Lochs.
Es gelingt der Autorin ausgezeichnet, die hyperreale Atmosphäre zu verdichten, um dabei das Bild eines metabolischen Ganzen entstehen zu lassen. Die ländliche Natur erfährt zwar Störungen durch das Eindringen des Homo sapiens – seine Anwesenheit zeigt sich anhand des in der Gegend verstreuten Mülls –, manifestiert sich jedoch in Gestalt mannigfacher biologischer Agenten und bemächtigt sich auch des Menschen: Asa wird von dem rätselhaften Tier ins Dickicht gelockt, scheinbar in eine Falle. Auf die Interdependenz allen Seins und den zwangsläufigen Materiewandel verweist die Motivkette „Tod, Exkremente, Auflösung und Absorption“. Der Mensch steht in der Erzählung zwischen Biosphäre und Technosphäre, letztere versinnbildlicht vor allem durch das Handy des Ehemanns, den man dem abstrakten System der Firmenwelt und dem ihm zugrundeliegenden Austausch menschlicher Arbeitskraft gegen Geld zuzuordnen hätte. Die Schwiegertochter hat sich diesem Funktionskreis entzogen, zumindest temporär; sie tritt, freigesetzt von der Verwertung ihres Körpers im kapitalistischen Kreislauf und ausgestattet mit freier Zeit, zum ersten Mal in engen Kontakt mit dem organischen Metabolismus. Es gilt, ihre Position neu zu bestimmen.
Das schwarze Tier, der Wiedergänger und die Kinder
Jenseits von gezielten Überlegungen, lässt Asahi sich treiben und erlebt im ruralen Refugium eine Reihe von merkwürdigen Begegnungen. Zum einen ist da das rätselhafte schwarze Tierwesen, zum anderen die Nachbarin Sera mit ihrem vermutlich an ADHS leidenden kleinen Sohn sowie der Mann mittleren Alters, der sich, von Kindern im Konbini als „Lehrer“ (sensei) adressiert und scheinbar wohnhaft in der Fertigbauhütte im Garten, als Erstgeborener der Matsuuras ausgibt – wieder ein neuer Fakt für die ahnungslose Frau. Im Verlauf der Geschichte ist zu erfahren, dass die Schwiegermutter möglicherweise schon vor Muneaki einen Jungen geboren hat: Ein Familiengeheimnis. In Anbetracht der ungewöhnlich diffusen Hintergründe der beschriebenen Personen, könnte man Sera und die Figur des Bruders als Geister Verstorbener betrachten. Eventuell kam das ältere Kind bereits als Schüler ums Leben und war seinerseits ein problembehafteter Sohn. Sogar in der Gestalt des „Lehrers“ verteidigt er seine Hikikomori-Philosophie.
Das schwarze Tier meint offenkundig einen Psychopomp, d.h. einen Seelenführer, der Asa in die Zwischenwelt geleitet. Szenen mit ihm sind partiell unterwartet komisch, was die exzellente deutsche Übersetzung auch zum Ausdruck bringen kann. Dass der Text jenseits seiner Beschwörung des Unheimlichen eine erheiternde Dimension entfaltet, liegt an der Kunst der Autorin, die offenbar auf Kafka (bei Oyamada: ein bissiger Käfer) und Hyakken (das plumpe Fabeltier) anspielt. Würde man das Fabeltier kudan aus Hyakkens gleichnamiger Geschichte als literarisches Vorbild sehen, wäre es der einschlägigen Konvention nach hier korrekt als Huftier charakterisiert, vielleicht ein Avatar der Protagonistin, also eine Repräsentation ihrer Person. Während Hyakkens Exemplar eher schüchtern bis indigniert ist, zeichnet sich Oyamadas Version durch seine effiziente Kompaktheit aus; zudem fühlt es sich in Erde und Schlick fraglos wohl. Hyakkens Kurzgeschichtensammlung beinhaltet die Referenz auf vormoderne japanische Ideenwelten, in denen Zauberfüchse den erschrockenen Helden Illusionen vorgaukeln, um diese grob zu täuschen. Oyamada wartet mit dem Tanuki auf, einem ebenfalls magisch begabten Marderhund aus der vormodernen Ideenwelt.
Ausgesprochen beiläufig, doch umso wirkungsvoller, portraitiert sie des Weiteren die Kinder als Manifestationen des Limbus. Die Schar Manga lesender Volksschüler im Konbini, die Asa den Zutritt zum Bankautomaten versperrt, sieht wahrscheinlich nur die Protagonistin. Sie drängt sich ihr sozusagen auf, weil sie doch gelegentlich über eine Schwangerschaft nachdenkt, obwohl für sie die Vorstellung des Muttermilchspendens und die anstrengende Betreuung eines Babys Depressionen auslöst. Der Sturz ins Loch symbolisiert die Ausweglosigkeit ihrer Lage: Um eine Daseinsberechtigung zu erlangen, muss die junge Frau irgendwann die ihr vom Biokosmos zugedachte Rolle akzeptieren.
Asas charakteristische Eigenschaft ist ihre selbst eingestandene Unwissenheit, mehr noch der Umstand, dass sie sich nicht daraus befreien möchte. Offenbar ist sie schon früh einer gewissen Resignation anheimgefallen. Ihre Passivität stellt teilweise eine Minimalresistenz gegen normative Forderungen an das Humansubjekt im System Japan dar. Resignativ verhält sie sich zudem in Hinsicht auf Muneaki, von dem sie sich kaum mehr viel erwartet, zumal ihr Mann sich außerhalb des ihn vereinnahmenden Berufslebens vorzugsweise der Handy-Kommunikation widmet. Seine Interaktion mit Freunden, die ihr nicht vertraut sind, stellt ein immer wiederkehrendes Motiv im Text dar. Sollte er ähnliche solipsistische Züge entwickeln wie der missratene ältere Bruder, der sich seiner familiären und sozialen Pflichten entledigt hat?
Die Reduplizierungen der Hausfrau
Geplagt vom schlechten Gewissen, nicht nützlich zu sein, gerät Asa in eine missliche Situation, zunächst deshalb, weil sie – in erster Linie den Verhältnissen geschuldet – unter einem geringen Selbstwertgefühl leidet und keine eigene Verantwortung übernimmt; sie sucht, natürlich auch bedingt durch die fehlenden Finanzen des jungen Ehepaars, bei den Schwiegereltern gewissermaßen Zuflucht und gerät in Abhängigkeit. Ihr zukünftiges Leben folgt, so suggeriert es der Text, auf diese Weise dem traditionellen Modell der ländlichen Großfamilie, wie es für ein Japan im 20. Jahrhundert, d.h. in der Shôwa-Ära, prägend war. Entfernt erinnert die unfreiwillige Übernahme aufoktroyierter Pflichten in einem dörflichen Kollektiv an Abe Kôbôs Suna no onna („Die Frau in den Dünen“). In Abes berühmtem Roman, der eine existenzialistische Allegorie auf die Zwangsvergesellschaftung des Menschen beabsichtigt, sieht sich ein Stadtmensch von den Einwohnern eines Küstendorfs dazu genötigt, in einem Wohnloch Sand zu schaufeln. Bei Oyamada zwingt die stagnierende Wirtschaft die junge Frau aus der Heisei-Ära in das alte Rollenmodell von Hausfrau und Mutter. Ohne Zweifel geschieht dies nicht zuletzt deshalb, weil sie nach keinen Alternativen Ausschau hält und halbwegs schon den endgültigen Platz gefunden hat: Asas Bestimmung ist die Verwurzelung in einem ihr zugedachten Pflanzloch – als weiterer Schilfhalm in der Landschaft am Fluss. Auf biopolitischer Ebene erfüllt sie so jenseits individuellen Strebens eine wichtige kollektive Aufgabe in einer demographischen Krise der Leistungsnation: Sie und ihre kommenden Kinder ersetzen die Gestorbenen, die sich ihr augenscheinlich in wechselnder Pflanzen-, Tier- und Menschengestalt offenbart haben, und tragen zum Fortbestand des Lebens bei.
Oyamadas raffinierte Konstruktion, die sich auf indigene Ideen, literaturhistorische Beiträge und Entwicklungen der Zeitgeschichte stützt, knüpft auf der letzten Seite an den Ausgangsentwurf an. Die Protagonistin berichtet nämlich davon, dass sie beim Antrittsbesuch im Hause Matsuura fälschlicherweise eine Ähnlichkeit zwischen zwei Damen der Familie anmerkt, die nicht verwandt sind: Ihrer Schwiegermutter und deren Schwiegermutter. Am Ende der Geschichte stirbt der Großvater. Auf seiner Trauerfeier engagiert sich Asa bei der Versorgung der Gäste, wird auch aktiv im Rahmen der Aufräumarbeiten und erfüllt so den Generationenvertrag: Sie gleicht sich Muneakis Mutter an. Ob diese Assimilation für eine fatalistisch zu sehende Unvermeidbarkeit oder ein ironisches Gleichnis auf die Problematik der modernen Selbstverwirklichung steht, lässt die Schriftstellerin aus gutem Grund offen. Japanische Literatur vom Besten.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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