Denken Sie mal über Sprache hinaus – und nicht nur die eigene!

Sool Park liefert in „Paradoxien der Grenzsprache und das Problem der Übersetzung“ beeindruckende Antworten auf die Frage, ob sich philosophische Texte übersetzen lassen

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das vorliegende Buch untersucht eine wichtige Frage, die bisher nur selten gestellt wurde, wohl weil ihre mögliche Tragweite nicht erkannt wurde: Wie lassen sich philosophische Texte übersetzen? Der Grund, warum diese Frage bislang kaum gestellt wurde, liegt wohl in der weit verbreiteten Fehlauffassung, dass bei der Übersetzung einfach ein Wort, das etwas Bestimmtes bezeichnet, durch ein anderes, das in einer anderen Sprache dasselbe bezeichnet, ersetzt wird. Selbst wer annimmt, dass diese Ersetzung nicht auf der Wortebene, sondern auf der Ebene von Wortverbindungen oder Sätzen stattfindet, geht davon aus, dass zwischen Worten oder Sätzen einerseits und irgendwie schon feststehenden Sachen andererseits ein stabiles Referenzverhältnis besteht: Ein Wort, ein Ausdruck, ein Satz weist auf eine Sache hin. Dass das allerdings überhaupt nicht stimmt, ist im Alltag leicht nachzuvollziehen. Sonst müsste sich nämlich niemand mit seinen Kindern darüber streiten, was Zimmer aufräumen bedeutet. Oder Klimaneutralität. Oder Frau.

An diesen Beispielen erkennt man, dass Bedeutung nicht durch den Bezug zu einer Sache, einer objektiv bestehenden Gegebenheit, folglich nicht durch Referenz entsteht, sondern durch innersprachliche Ausdifferenzierung. „Das ist nicht aufgeräumt! Nur in die Ecke geschoben!“ Die westliche Philosophie weiß das seit Derrida und eigentlich seit Heidegger, also seit dem sogenannten Linguistic Turn. Im Alltag ist diese Erkenntnis nie wirklich angekommen (außer vielleicht in der Politikberatung, die genau dafür dann Hiebe einstecken muss). Das ist ziemlich deprimierend, denn wir alle gehen ständig mit Sprache um – da wäre es doch schön, wenn wir ein umfassenderes Bild davon hätten.

Was wir bisher gesagt haben, gilt für die philosophische Sprache erst recht: Was das Gute, der Anfang oder Wissen sind, ist nicht durch den stabilen Bezug auf eine objektive Gegebenheit auszudrücken. Es wird innersprachlich ausgehandelt. Das können allerdings auch andere geisteswissenschaftliche Disziplinen; auch die Politikwissenschaft kann (oder könnte) fragen, was gut ist. Die Philosophie aber kann diese innersprachlichen Aushandlungs- und Differenzierungsprozesse als solche in den Blick nehmen. Sie spricht über das Sprechen; sie fragt nach dem Fragen. Sie stößt, um es nun (endlich) mit Sool Park zu sagen, an die Grenze der Sprache vor.

Parks erste hellsichtige These lautet, dass selbst poststrukturalistisch und hermeneutisch Philosophierende, die über die „Sprache“ sprechen, eigentlich an ihre Sprache denken, also die deutsche oder französische oder was auch immer. Mit wunderbar verschmitztem Understatement bemerkt Park, der Anfangssatz von Wittgensteins Tractatus, „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, sei schon „ein sehr deutscher Satz“ (Hervorhebung im Original). Für das Übersetzen könnte das noch einmal eine neue Hürde darstellen: Bedeutung wird innersprachlich ausgehandelt, und die sprachaufmerksame Philosophie ist eigentlich immer mit einer bestimmten und nicht mit der Sprache befasst, wenn sie versucht, sich sprachlich so über die Sprache hinwegzuheben, dass sie sprachliche Differenzierungsprozesse in Frage stellen kann.

Parks zweite These, die er sorgfältig anhand von Untersuchungen zum späten Wittgenstein, zu Hans Blumenberg und zu Walter Benjamin entwickelt, ist nun allerdings ebenso radikal wie befreiend: Da jenes „Außerhalb“ auch jenseits allen Bezeichnens steht, muss es sich um einen Ort handeln, der aus der Sicht aller Sprachen gleich aussieht. Aufgrund dieser Konvergenz ist Übersetzung auch und gerade philosophischer Texte möglich. Park zeigt, dass dieser Raum der „Mitteilungslosigkeit“ nicht nur irgendwo am Ende des sprachlichen Regenbogens zu finden ist, sondern quasi hinter jedem Wort, jedem Satz, jedem Werk, allen philosophischen Sprechens und allen Sprechens überhaupt, also quasi aus jeder beliebig groß gewählten Ebene erreichbar ist. Das ist eine beeindruckende Erkenntnis. (Am Beginn der Politeia lässt sie sich auf der Mikroebene beobachten; Heideggers Besinnung setzt sie auf der Makroebene ins Werk.)

Nun folgen zwei weitere Abschnitte, in denen der Autor seine philosophische Erkenntnis zunächst übersetzungsstrategisch und dann praktisch überprüft: Wie soll ich also übersetzen? Wie wurden ausgewählte Passagen philosophischer Werke übersetzt? Wie kann das Befremdliche, das Erstaunliche der Philosophie, des philosophischen Fragens nach der Sprache in einer anderen Sprache erschrieben werden? Führt nicht beim Übersetzen die Orientierung an einem Original(text) gerade dazu, dass das radikal Neue eines Denkens negiert wird? Parks Auffächerung von „grenzsprachlichen Übersetzungsstrategien“ zeigt, dass das nicht sein muss. Auch das ist, in seiner Fülle, ein beeindruckendes Ergebnis.

In der Analyse verschiedener Übersetzungen von Wittgensteins Tractatus und des Daodejing zeigt sich, dass eine solche komparatistische Übung selbst schon ins Philosophieren führen kann. Das ist einerseits eine performative Bestätigung von Parks eigener Erkenntnis, andererseits für die Übersetzungswissenschaft ein inspirierendes Beispiel. Die Latte liegt nun noch etwas höher.

Ich bin also ziemlich begeistert von diesem Buch, habe aber auch viererlei zu mäkeln und will das in Form von Fragen tun. Es sind drei kleine Fragen und eine große, die ich mir für das Ende aufhebe. Die kleinen lauten: Hätte man nicht noch ein bisschen stärker darauf hinweisen können, dass für einige der hier diskutierten übersetzungsphilosophischen Fragen bereits eine übersetzungstheoretische Terminologie verfügbar ist (durch den Begriff der „underlying networks of signification“ hätte sich die eine oder andere Passage straffen lassen)? Wäre es nicht doch eine Frage der Fairness zu sagen, dass vieles, was sich der späte Wittgenstein erarbeitet, in der hermeneutischen Philosophie schon früher erkannt wurde? Und auf ganz anderer Ebene: Würde es ein so wichtiges Buch nicht verdienen, vom Verlag besser behandelt zu werden? Hunderte von Tippfehlern werfen ein schlechtes Licht auf die redaktionelle Arbeit.

Nun aber die größere Frage, auf die ich wirklich keine Antwort habe. Im Titel und im Zentrum des Buches steht der Begriff der „Grenze“ und der „Grenzsprachlichkeit“, die einerseits das Radikale, auch das Metasprachliche und, wie gesagt, auch das interlingual Anschlussfähige philosophischer Sprache bezeichnen soll. „Grenze“ ist hier eine Metapher, und ich bin mir nicht sicher, ob es die richtige ist. Ich hätte mir jedenfalls eine explizite Diskussion dieses Begriffs gewünscht. Denn wo eine „Grenze“ verläuft, kann ich sehr oft eben doch objektiv – und sprachlich – feststellen. Könnte man nicht „Horizont“ sagen?

Titelbild

Sool Park: Paradoxien der Grenzsprache und das Problem der Übersetzung. Eine Studie zur Textualität philosophischer Texte und zu historischen Übersetzungsstrategien.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
347 Seiten , 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783826075261

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