Vom Sinn des Schreibens

Patti Smiths assoziatives Karussell

Von Kende-Gabor BorsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kende-Gabor Bors

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Lektüre von Patti Smiths aktuellem Buch Hingabe stach mir die Fotografie eines Teelöffels in die Augen, die, scheinbar beiläufig, den Text der Autorin begleitet. „Warum schreiben wir?“, so lautet die – gewiss nicht originelle – Leitfrage ihres Textes. Smith entführt den Leser auf eine Suche nach der Antwort auf ebendiese. Der kleine Löffel befindet sich, reduziert abgebildet als Schwarz-Weiß-Fotografie und von monolithischer Gestalt, neben dieser Frage und scheint nicht auf sie antworten zu wollen. Die Autorin selbst liefert ebenfalls keine unmittelbaren Einsichten, im Gegenteil. Bei dem Versuch, Gewissheit zu erlangen, fächert sich dieses Unterfangen pfauengleich auf und ergibt einen verspielten Text, gewoben aus vielerlei Überlegungen: der Frage danach, was ein Text überhaupt ist, wie er sich zusammensetzt, in welchem Verhältnis Kunst und Leben stehen und nach dem eigenen Selbst als Urheber eines Textes. In aller Deutlichkeit drückt sie dies wie folgt aus:

Ich kann untersuchen, wie, aber nicht warum ich schrieb, was ich schrieb, oder warum ich von meinem ursprünglichen Weg so weit abgewichen war. Kann man, wenn man einen Kriminellen verfolgt und am Ende erfolgreich festnimmt, sein kriminelles Denken wirklich verstehen? Lassen sich das Wie und das Warum überhaupt voneinander trennen?

Smith versucht in ihrem Werk, das in der Originalsprache bereits 2017 erschienen ist und das nun, zwei Jahre später, in der deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit vorliegt, ein künstlerisches Glaubensgelübde abzulegen. Das ist vor allem deshalb interessant, weil sich die langjährige Autorin in mehr als nur einer Kunstform bewegt. Nicht umsonst ist sie als Godmother of Punk bekannt.

Bei ihrem Unterfangen sprengt sie die herkömmlichen Gattungsgrenzen. Hingabe lässt sich nicht mit den Kategorien des Romans oder der Erzählung fassen, vielmehr ist Smiths Buch eine Collage, die sich aus unterschiedlichen Texten und angereichertem Bildmaterial zusammensetzt.

Das erste Drittel und ebenso die letzten Seiten von Hingabe sind eine Reisebeschreibung der Autorin. Die Einladung zu einer Lesung in Frankreich nutzt sie, um sich auf eine kreative Pilgerreise zu begeben, die sie von bekannten Orten der eigenen Vergangenheit bis hin zum ehemaligen Landhaus Albert Camusʼ führt, stets begleitet von den erwachenden Reminiszenzen an vergangene Autoren und Autorinnen wie Arthur Rimbaud und Simone Weil. Insbesondere letztere ist es, die im Laufe des Textes zur Schutzpatronin von Smiths Reise avanciert. Doch der eigentliche Anlass derselben, die Lesungen in Paris, sind nicht der Inhalt ihrer Ausführungen. Die Autorin bietet stattdessen einen Einblick in ihre Vergangenheit, ihre Inspirationsquellen und die Methodiken ihres künstlerischen Schaffens, stets begleitet von schlichten Schwarz-Weiß-Fotografien, die sich mal direkt auf den Text beziehen, mal aber auch den Leser vor die Aufgabe stellen, sich selbst den passenden Kontext zu (re)konstruieren.

Die Thematik des Schriftstellers, der nicht weiß, was er schreiben soll, ist zugegebenermaßen alles andere als besonders einfallsreich. Ebenso angebracht ist eine gewisse Skepsis, wenn eine Künstlerin dazu anhebt, ihre Methodik zu erläutern: Was soll man schon von einer Zauberin halten, die offen ihre Tricks verrät? Die Auszüge aus dem privaten Tagebuch Smiths finden sich am Ende des Werkes und skizzieren die Entwicklung des Textes. Doch auch sie verlieren in gewisser Hinsicht den Reiz des Verbotenen, des neugierigen ‚Herumschnüffelns‘ dadurch, dass sie direkt zugänglich sind.

Die eigentliche, titelgebende Erzählung behandelt, ummantelt von Smiths Reisebericht, die Geschichte der jungen Eisläuferin Eugenia und ihre Adoleszenzerfahrungen. Gänzlich versunken in ihre Leidenschaft verbringt sie ihre Tage am Rande einer namenlosen Stadt, in einer kleinen Hütte neben einem zugefrorenen Weiher, wo sie zwischen dem Eis und den Bäumen tagein, tagaus ihre Kreise und Pirouetten dreht. Dieser Zustand der verklärten Selbstversunkenheit endet, als ihr erster Zuschauer sie findet. Auf die anfänglich heimlichen Aufführungen folgt die erste Annäherung und bald eine Affäre mit dem älteren Aleksander Rifa. Dieser erkennt den Wert der Anmut Eugenias, weiß aber als Kunst- und Antiquitätenhändler ebenso sehr um ihren Preis. Bald schon reiht er sie in seine Sammlung schöner Dinge ein. So eingezwängt muss Eugenia nun aus Bruchstücken ihrer Vergangenheit sich selbst zusammensetzen.

Die Bezüge zu Vladimir Nabokovs Lolita sind offensichtlich, ebenso zum antiken Pygmalion-Mythos. Allerdings ist es die Mühelosigkeit Smiths in ihrem Spiel mit diesen Anleihen, die den ganz eigenen Reiz der Erzählung ausmachen. Dieser liegt nicht zuletzt auch in dem Symbolismus, der die Texte durchzieht. Während Orte, Namen oder historische Eckdaten zwar immer wieder Erwähnung finden, bleiben sie dennoch obskur, zeitlos, wie ein ferner Nachhall einer wirklichen, bekannten Welt, die außerhalb der Sphäre einer Erzählung, die selbst als Parabel verstanden werden möchte, mit Sicherheit existiert, aber unbegreiflich weit entfernt ist. Auf Patti Smiths Suche nach dem Sinn des Schreibens avanciert Eugenias Eiskunstlauf zur Metapher des Schreibens selbst. Alle Fragmente, seien es intertextuelle Anspielungen oder persönliche Erfahrungen, werden durch den kreativen Schaffensprozess des Schreibens beziehungsweise des Eislaufs miteinander verwoben, sublimiert und begreifbar gemacht und sind in der Lage, ein eigenständiges Sinngefüge zu ergeben. Schreiben wird zu einem existenziellen Werkzeug zum Verständnis der Welt, das alle losen Fäden verknüpft. Natürlich lässt sich die Metaphorik Eugenias mühelos erweitern. Vielleicht liegt genau darin sogar die Kraft dieses Sinnbildes, das nicht auf das Schreiben reduziert werden kann, sondern jegliche kreative Tätigkeit miteinschließt. Smith wirft dem Bild des Hungerkünstlers das der Schlittschuhläuferin entgegen.

Aus dieser Perspektive ist ihr Reisebericht auch mehr als eine bloße Offenlegung, eine Entmystifizierung ihres Arbeitsethos. Die beiden Texte treten in einen intensiven Kommunikationsprozess miteinander, der es dem Leser ermöglicht, den einen über den jeweils anderen zu entschlüsseln. Viele der Motive der Erzählung, wie beispielsweise das Eis oder Eugenias zugefrorener kleiner Teich, auf dem sie ihre Kreise zieht, finden ihre jeweilige Entsprechung in Smiths Reisebericht. Die literarische Position der Autorin lebt von einer poetischen Verklärung des Gewöhnlichen. Kehren wir zum Bildnis des kleinen Löffels zurück: Er ruht in einer Nahaufnahme neben einer Serviette eines kleinen Pariser Cafés, einer Etappe auf der Reise der Autorin. Das Motiv selbst könnte nicht banaler und gewöhnlicher sein. Immerhin kennt jeder, der bereits ein solches Café besucht hat, hat den Anblick solchen Bestecks. Auf Smiths Schwarz-Weiß-Fotografie entwickelt das kleine Ensemble jedoch ein Eigenleben, beseelt von Assoziationen, die sich in den Worten und Sätzen des Textes wiederspiegeln. Das kreative Schaffen, das Schreiben, das Fotografieren transformiert die bloße Existenz des kleinen Löffels und macht ihn unter einer ästhetischen Perspektive neu erfahrbar.

Diese assoziative Kraft ist vielleicht die größte Stärke von Smiths Sprachkunst, die selbst dann überzeugt, wenn man nicht alle ihre Anspielungen entschlüsseln kann. Zweifellos merkt man ihr auch ihre musikalische Erfahrung an, wenn man der Rhythmik ihrer Sätze folgt. Smith versteht es, das Lesegefühl an den richtigen Stellen zu beschleunigen und zu verlangsamen, den Leser am Schopfe zu packen und ihn durch das verspielte Gefüge von Gedanken und Assoziationen zu ziehen. Ob man sich letztlich mit ihrem Fazit abfinden kann, das sei jedem selbst überlassen. Existentialisten und Artverwandte dürften an ihm aber ihre Freude haben.

Titelbild

Patti Smith: Hingabe.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
112 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051681

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