Verloren im Dreieck zwischen Verstehen, Verständnis und Einverständnis?

Werner Patzelt möchte „Ungarn verstehen“

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ziemlich am Anfang seines Werkes Ungarn verstehen: Geschichte, Staat, Politik erhebt Werner Patzelt den Vorwurf, dass „nicht wenige deutsche Journalisten und Kommentatoren des Ungarischen unkundig sind und deshalb viele Wissensbestände und Einschätzungen den englisch- und deutschsprachigen Dokumentationen bzw. Streitschriften von ungarischen Oppositionsgruppen verdanken“ würden (35). Er empfiehlt den Mitarbeitern deutscher Medien daher, auf die von ihnen benutzten Texte die klassischen Methoden der Quellenkritik anzuwenden: „Wer sagt was zu wem auf welcher Quellengrundlage sowie in welcher Absicht, und in welcher Weise prägt ebenfalls die verwendete Textsorte das Übermittelte?“

Nach einer solchen Empfehlung ist es unerlässlich, diese Methoden auch auf Patzelts Buch anzuwenden. Patzelt war an der TU Dresden als Politologe tätig und wurde 2019 in den Ruhestand verabschiedet. Er ist ein jahrzehntelanges CDU-Mitglied, engagierte sich zeitweilig in der Werteunion und sprach sich für CDU-AfD-Bündnisse aus. Patzelt selbst spricht und liest kein Ungarisch, verbrachte allerdings 2021/22 neun Monate in Budapest als Senior Fellow am dortigen „Mathias Corvinus Collegium“ (MCC) bzw. an dessen „Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit“. Als Ziele seiner Darstellung gibt Patzelt an: Die mithilfe seiner Erläuterungen aufgeklärten Leser sollten ein Gefühl dafür entwickelt haben, was in der Medienberichterstattung über Ungarn richtig und was falsch sein könnte; sie sollten gelernt haben, sich weniger an den eingefahrenen Narrativen zu orientieren und vielmehr „an dem, was wirklich der Fall ist“ (471).

Das in den 1990ern gegründete MCC bot dem deutschen Wissenschaftler insofern ideale Bedingungen, als die Mitarbeiter ihn mit ihren eigenen Publikationen versorgten, sich mit ihm intensiv austauschten und ihm für sein Buch auch mit Übersetzungen der benötigten Quellen zur Verfügung standen (vgl. 349). Das MCC gilt Kritikern des Orbán-Regimes als eine rechtskonservative Nachwuchs- und Kaderschmiede. Die Einrichtung vergibt gut dotierte Gastprofessuren an ausländische Wissenschaftler, die zum Profil der Einrichtung passen. Im Jahr 2020 erhielt das MCC vom ungarischen Staat eine substantielle Förderung, wodurch sein Stiftungsvermögen auf über eine Milliarde Euro anstieg. Mit so viel Geld ausgestattet, befindet es sich auf einem Expansionskurs (Beteiligung an einer Privatuniversität in Wien, Kooperationsvereinbarung mit einer Wirtschaftshochschule in Berlin). Das MCC ist somit eines jener Instrumente, die der Gramsci-Kenner Orbán zur Erringung der kulturellen Hegemonie im Land benutzt, was durch die Herausbildung einer neuen Elite mit nationalem Ethos, durch die Verdrängung der alten Eliten und eine vielfältige kulturelle Offensive erfolgen soll. Es ist somit offensichtlich, dass die Genese von Patzelts Buch in einem regierungsnahen institutionellen und kulturellen Kontext zu verstehen ist. Nach seinem Aufenthalt am MCC übernahm Patzelt den Posten des Forschungsdirektors der MCC-Filiale in Brüssel.

Patzelts Buch ist in fünf Kapitel eingeteilt. Zuerst stellt der Verfasser Ungarnbilder der Deutschen vor. Dabei geht er sowohl auf die mediale Darstellung des Landes ein, die er als ideologisch verzerrt wahrnimmt, als auch auf die Ergebnisse demoskopischer Umfragen und auf kulturelle Klischees. Anschließend skizziert Patzelt die Geschichte Ungarns bis zur Ära Viktor Orbáns. Die Hauptlinie seiner Darstellung ist der permanente Kampf der Ungarn um ihre Unabhängigkeit. Dabei habe das ungarische Volk mehrfach erfahren müssen (Revolution 1848; 1920 Friedensvertrag von Trianon oder 1956 antisowjetischer Aufstand), dass es vom westlichen Ausland stets alleine gelassen wurde. Patzelt betont die Allgegenwart der Geschichte im ungarischen Selbstverständnis (Denkmäler, Straßennamen, Erinnerungsorte usw.) und als ein identitätskonstituierendes Merkmal, dessen Bedeutung kaum hoch genug geschätzt werden kann. Der Verfasser unterstreicht, dass Ungarn „als besondere Nation in einem sich selbst regierenden Staat fortbestehen“ wolle und plädiert dafür, „den Gedanken zumindest [zu]zulassen, dass es auch noch andere Selbstverständlichkeiten als die eigenen geben könnte“ (56). Für die Transformationszeit seit 1989 vermerkt Patzelt die Hinüberrettung kommunistischer Eliten in die Wirtschaft und die neoliberale Politik der sozialdemokratisch geprägten Regierungen.

Im dritten Kapitel gibt Patzelt einen Überblick über Ungarns Staats- und Verwaltungsgliederung, das Wahl- und Parteiensystem, die Verfassung und die Gerichtsbarkeit, über Interessenverbände und zivilgesellschaftliche Organisationen, die Medien und die „politische Kultur“ des Landes. Seine Ausführungen sind zumeist sachlich und er spart die im Laufe der letzten 12 Jahren auch in Deutschland wiederholt geäußerten Kritikpunkte an den Unzulänglichkeiten und Schwachstellen des politischen Systems nicht aus: Sei es das Wahlsystem, das die Kritiker als unfair und als auf die Zementierung der Fidesz-Herrschaft ausgerichtet ablehnen, seien es die euphemistisch als „Nationale Konsultationen“ bemäntelten Referenden oder die Kritik an den sogenannten „Kardinalgesetzen“, die nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden können. Er verweist darauf, dass die politische Landschaft seit mindestens 2010 in ein stabiles Lager von Mitte bis rechts und in ein instabiles linkes Lager geteilt ist.

Mehrfach betont Patzelt die „schmerzhafte Machtlosigkeit“ der Opposition, die de facto aus der Gesetzesgestaltung oder den vielen Schritten der Verfassungsänderung aufgrund der 2/3-Mehrheiten des Fidesz regelrecht ausgeschlossen ist. Doch sei dies auf den geringen Rückhalt der Opposition bei den Wahlen zurückzuführen und nicht auf eine undemokratische oder gar diktaturähnliche Durchführung der Wahlen. Der Verfasser verschweigt auch die demokratischen Kontrollmöglichkeiten, die ins politische System eingebaut sind, nicht. Allerdings beschränkt er sich mitunter auf die rein rechtliche Lage und fragt nicht nach der Tauglichkeit dieser Mechanismen. Laut Patzelt zeigt die dreifache Wiederwahl der Regierung, dass diese sehr wohl auf Kritik hört, auch wenn sie letztlich aufgrund ihrer Mehrheiten achtlos durchregiert. Wenn Kritisches in den Ausführungen des emeritierten Politologen durchscheint, betrifft es zumeist nur die Form, die Art und Weise des ungarischen Regierungshandelns, aber kaum den Inhalt. So schreibt Patzelt im Kontext der neuen Verfassung etwa von „rechtstechnische[n] Ungeschicklichkeiten“ (228). Die Erklärung der langjährigen Fidesz-Herrschaft, deren Ende aufgrund des Wahlsystems so schnell nicht abzusehen sei, bestehe eben darin, dass die Partei sich auf eine überwiegend konservativ eingestellte Wählerschaft eingelassen und ihre Politik erfolgreich an deren Wünschen ausgerichtet habe. Dabei sei ein Großteil der Ungarn trotz der vielen Querelen der Regierung mit der EU dieser gegenüber freundlich und pro-europäisch eingestellt.

Im vorletzten Kapitel behandelt der Autor ausgewählte Politikfelder und die dabei verfolgten Ziele und Strategien der ungarischen Regierung. Konkret geht es um Erinnerung-, Minderheiten-, Arbeitsmarkt- und Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik, Familien- und LGBTQ-Politik, Wissenschafts- und Kulturpolitik, Außen- und Sicherheits- sowie um Europapolitik. In manchen Bereichen reproduziert der Autor lediglich das Regierungshandeln, so wenn er auf die Umbaumaßnahmen im Budapester Burgviertel hinweist, ohne zu benennen, dass diese nur der sichtbarste Ausdruck für eine Rehabilitierung der Regierungsepoche Miklós Horthys, des Reichsverwesers in der Zwischenkriegszeit ist. In anderen Bereichen verschweigt er nicht, dass die LGBTQ-Politik der Orbán-Regierung von der Mehrheit der Bevölkerung nicht unterstützt wird. Auch die Gleichschaltung der Kulturinstitutionen sowie der Kulturpolitik kehrt der Autor nicht unter den Teppich.

Obwohl Patzelt dem Thema „Migrationspolitik“, das wohl für den meisten Dissens zwischen Budapest und Brüssel in den letzten Jahren sorgte, kein eigenes Kapitel widmet, ließ es sich selbstredend nicht umgehen. Eingebettet u. a. in die Ausführungen zur ungarischen Außenpolitik erblickt er den Hauptunterschied zwischen den Haltungen beider Zentren darin, dass Budapest nicht werte-, sondern interessengeleitet vorgeht. Die Bewahrung der nationalen Souveränität sei jenes Ziel, das das Handeln der Budapester Regierung bestimme. Zwar sei sie bis zu einem bestimmten Punkt bereit, auf manche Rechte freiwillig zu verzichten, jedoch bestehe Budapest darauf, in den wichtigsten Punkten selbst entscheiden zu dürfen. Aus Patzelts Perspektive besitzt das zerrüttete Verhältnis Ungarns zur EU zwei Ebenen, eine institutionelle, weil das EU-Parlament und die EU insgesamt sich aus ungarischer Sicht Rechte herausnähmen, die ihnen nicht zukämen. Die zweite Ebene sei eine ideologische und dabei gehe es um den Konflikt zwischen dem „patriotisch-konservativen Kurs“ Budapests und den supranationalen sowie grün-links ausgerichteten Hauptlinien der EU-Politiker.

Im letzten Kapitel des Buchs lässt Patzelt zwei politisch-politologische Narrative bezüglich Ungarns umstrittener Gegenwart aufeinanderprallen. Er versucht auch, dem Leser acht Deutungsschlüssel an die Hand zu geben, um „Ordnungsstrukturen beim eigenen Nachdenken über jene zwei, auf den ersten Blick völlig unversöhnlichen Narrative“ (456) zu erhalten. Wirklich überzeugen vermögen den Rezensenten diese Schlüssel allerdings nicht. Wenn es direkt beim ersten heißt, die Vertreter beider Narrative könnten sich ja immerhin auf bestimmte Ereignisse einigen, nur deuten sie sie anders, so ist erst einmal wenig dadurch gewonnen. Wenn als Teil dieses Schlüssels der Verfasser erläutert, dass die eine Seite die in Ungarn herrschende Korruption als „de[n] verwerfliche[n] Missbrauch öffentlicher Gelder […] zum Zweck privater Bereicherung […], zur intransparenten […] Ausübung von Einfluss“ ansieht, während die andere sie als „verantwortungsethisch rechtfertigbares Doppelziel“ ausgibt (nämlich um das Land finanziell international unabhängig zu machen und ein „Netzwerk von wohlhabenden und einflussreichen Ungarn“ aufzubauen, 457), dann verharmlost der Verfasser Verhaltensweisen, die sowohl gesinnungsethisch, als auch demokratietheoretisch oder eben aus der Sicht breiter ungarischer und europäischer Bevölkerungsteile zu verurteilen sind. Andere Schlüssel ergeben eher Sinn, so wenn Patzelt internationale Vergleiche anmahnt, um Ungarns Regime adäquat zu beurteilen oder wenn er auf die Schwierigkeit hinweist, das aktuelle politische System aufgrund des fehlenden zeitlichen Abstands zu beurteilen.

Werner Patzelts Buch trägt trotz etlicher Schwächen dazu bei, das ungarische Regierungshandeln besser nachvollziehen zu können und die Gedankengänge jener intellektuellen Gruppierungen aus dem Umkreis des MCC nachzuempfinden, zu welchen er während seines Budapester Lehraufenthaltes offensichtlich überwiegend Kontakte hatte.

Ein objektives Buch ist das vorliegende gewiss nicht. „Was wirklich der Fall ist“ (471), lässt sich nämlich nicht so einfach darstellen, wie es Patzelt vorschwebte, denn durch die Reihenfolge der Narrative, durch Auslassungen von Aspekten lassen sich ebenfalls Verzerrungen in die Darstellung hineinbringen. Im Rahmen seiner Möglichkeiten (Unkenntnis der Landessprache, starker institutioneller Bezug zum MCC, starke Einseitigkeit der benutzten Quellen) hat Patzelt jedoch ein Buch vorgelegt, das nicht nur eine Apologie Budapests ist. Das Buch liest sich zwar streckenweise (so der Abschnitt über die Außen- und Sicherheitspolitik, 382ff.) wie ein Konzeptpapier der ungarischen Regierung. Und im Dreieck zwischen Verstehen (also etwas nachvollziehen), Verständnis haben (etwas wohlwollend begreifen) und dem Einverständnis (zu etwas zustimmen) schwankt die Darstellung je nach untersuchtem Aspekt hin und her.

In Bezug auf manche (z. B. Migrationspolitik) scheint Einverständnis mit der Budapester Haltung vorzuherrschen, doch zeigt Patzelt zumeist Verständnis für das ungarische Regierungshandeln. Hierbei ist festzuhalten, dass die Person und der Politiker Viktor Orbán, ohne den sich das politische System Ungarns weder denken lässt noch lange überleben wird, in der Darstellung kaum vorkommt. Die Motivation, die Denkstrukturen und die Ziele dieser Schlüsselperson und ihres Freundeskreises nicht zu analysieren, ist aber das Hauptmanko des Buchs. Denn wie konnte es dazu kommen, dass eine studentische Clique, die sich Ende der 1980er Jahre daran machte, das wankende Gebäude des realexistierenden Sozialismus zum Einsturz zu bringen, kaum zwei Jahrzehnte später die Fundamente eines neuen Regimes errichtete? Welche Sozialisationsphänomene haben sich damals in jenen studentischen Zirkeln abgespielt, in welchen sich jene Personen um Orbán herum zusammenfanden, die heute noch die Fidesz-Politik bestimmen? Um das heutige Ungarn zu verstehen, wäre eine Auseinandersetzung mit solchen Fragen unabdingbar gewesen.  

Patzelt erklärt Ungarn und das politische System des Landes aus sich heraus, aus der Geschichte und vor dem Hintergrund bestimmter historischer Erfahrungen und Einstellungen, was einleuchtet. Ebenfalls zu den Vorzügen von Patzelts Versuch, Ungarn zu verstehen, sind neben dem nüchternen Ton die ausführliche (teils offizielle, teils offiziöse) Regierungsperspektive zu zählen, die in dieser Ausführlichkeit auf Deutsch bislang eher selten und für das große Publikum kaum auffindbar zu lesen war. Auch die Vielfalt der erörterten Aspekte lässt das Buch in einem positiven Licht erscheinen. Wenn der Rezensent daher abschließend trotz der vorgebrachten kritischen Anmerkungen eine eindeutige Leseempfehlung abgibt, geht es im Sinne der demokratischen Horizonterweiterung und des intellektuellen Dialogs vor allem darum, sich auf politische Positionen einzulassen, die einem vielleicht fremd oder gar Fragen aufwerfend sind. Denn was kann von einem Buch, das zu lesen sich lohnt, Besseres erwartet werden als die Provokation, zum Denken angehalten zu werden?

Titelbild

Werner Patzelt: Ungarn verstehen. Geschichte, Staat, Politik.
Langen Müller Verlag, Stuttgart 2023.
477 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783784436784

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