Die Landschaft speit Tote aus

Cesare Pavese letzte Erzählung über Heimat und den Spuk des Faschismus wurde neu übersetzt

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1949 verfasste Cesare Pavese seinen zeithistorisch bedeutenden Heimatroman La luna e i falò. Der Mond und die Feuer wurde zum letzten Werk des erfolgreichen Autors, der zuvor als Lyriker, als Übersetzer und als Verlagsleiters von Einaudi eine zentrale Figur im literarischen Leben Italiens in den 1930er und -40er Jahren war. Ein Jahr später nahm sich Pavese mit gerade einmal 42 Jahren das Leben. Im Jahr seines Todes wurde dieser Erzähler, der auch die großen englischsprachigen Romane der Moderne (von James Joyce und John Dos Passos, Gertrude Stein und William Faulkner, zudem Herman Melvilles Moby Dick und Daniel Defoes Moll Flanders) ins Italienische übertrug, ausgezeichnet mit dem wichtigsten Literaturpreis. Er erhielt den Premio Strega für seine Romantrilogie Der schöne Sommer. Das konnte ihn gleichwohl nicht am Leben halten. Umstritten ist, ob und wieweit seinem letzten Werk Spuren seiner Lebensentfremdung und seiner folgenden Selbsttötung eingeschrieben sind. Oder ob dieser kleine, geniale Roman, der wie so viele Texte des großen Neorealisten erneut auf Paveses Kindheitsorte im Hügelland der Langhe (im Piemont) zurückschaut, eher nicht in einer solchen teleologischen Lektüre rezipiert werden sollte. Das erstmals 1954 auf deutsch publizierte Werk erschien nun in konziser Neuübersetzung ergänzt um ein knappes, instruktives Nachwort von Paola Traverso im schönen Kartoneinband der Edition Blau.

Der kurze Roman erzählt von der Rückkehr eines Findelkindes ins Dorf seiner Kindheit. Nur seinen Spitznamen, Anguila, der Aal, erfahren wir von ihm. Zwischenzeitlich war dieser erzählende Protagonist, der in ärmlichsten Verhältnissen aufwuchs, zwei Jahrzehnte in den USA gewesen. Während dieser Zeit herrschte in Italien der Faschismus und es kam zum Widerstand der Partisanen. Von den Verstrickungen der Dorfbewohner in politische Gewalt wird vor allem in Gesprächen mit seinem Jugendfreund Nuto berichtet. Um dieses unprätentiöse, lokale Geschichtspanorama zu entfalten, erfand Pavese eine recht eigene Spielart einer so sentimentalischen wie sozialkritischen Heimatliteratur.  Knappe Dialoge in karger Sprache evozieren die Schrecken der Geschichte und die Ungerechtigkeit des Landlebens. Ergänzt werden sie mit Erinnerungen des Erzählers an Gefühle seiner Jugend und mit Schilderungen der Landschaft und ihrer Jahreszeiten. Nuto, der drei Jahre ältere Jugendfreund des Icherzählers, wirkte einst als Klarinettist auf allen Dorffesten der Umgebung. Er wurde dann Schreiner und ist nun Führer und Gesprächspartner für den Heimkehrer. Er zeichnet sich aus durch sein soziales Gewissen und sein schwieriges Verhältnis zur kommunistischen Linken. Ebenso wie der Autor selbst zauderte Nuto vor der aktiven Teilnahme am Kampf der antifaschistischen Partisanen.

Mit wenigen Sätzen umreißt Pavese das trostlose Leben der besitzlosen Halbpächter, die über Jahrzehnte von Hof zu Hof umher gestoßen werden, die alt werden, arm bleiben und nicht wissen, in welchem schäbigen Zimmer sie einst sterben werden. Wäre er nicht zwanzig Jahre zuvor weggegangen, so reflektiert seine Erzählerfigur, dann wäre dieses harte Leben auch sein Schicksalspfad gewesen. Trotz oder gerade wegen seiner ungewissen Abstammung verbindet diesen Erzähler einiges mit seinem Herkunftsort. Er weiß nicht „aus welchem Fleisch er gemacht ist“. Nuto bringt die prekäre Identität Anguilas auf den Punkt: „Dein Vater […] bist du selbst“. Anguila erinnert, wie er trotz guten Lohns und Essens nach vielen Jahren erkannte, dass er sich in den USA fremd und einsam fühlte und dass die Unersättlichkeit, Distanziertheit und Unzufriedenheit der dortigen Menschen ihm als Piemonteser nie die Heimat ersetzen könnte, weswegen er nach Italien zurückkehren und seine amerikanische Gefährtin Nora verlassen musste.

Im Ort seiner Kindheit nimmt sich Anguila des armen, verwachsenen Teenagers Cinto an, der von seinem Vater misshandelt wird. Offenbar erkennt er in der armen Kreatur Züge seiner eigenen mittelosen Kindheit als Findelkind wieder. Immerhin erhielt er einst die Chance zu Aufstieg und Entwicklung, nachdem er als 13-jähriger als Arbeiter auf einen reicheren Gutshof wechselte: „In Gaminella war ich nichts, auf der Mora lernte ich ein Handwerk. Hier erwähnte niemand mehr die fünf Lire von der Gemeinde“, die für das Waisenkind einst als Kostgeld an die armen Pflegeeltern gezahlt wurden. So sehr die sozialen Beziehungen von Ungerechtigkeit und Grausamkeiten gekennzeichnet sind, so sehr freut sich der Erzähler doch an der Ordnung des natürlichen Lebens im Jahreskreis: „Das Schöne war damals, das alles zu einer bestimmten Jahreszeit gemacht wurde, jede Jahreszeit hatte ihren Brauch und ihr Spiel, je nach Arbeiten und Ernten, nach Regen und Sonnenschein.“ Melancholische Trauer und Kritik bei der Wiederbegegnung mit den menschenfeindlichen sozialen Verhältnissen werden in Paveses letzter Erzählung ausbalanciert mit der sentimentalen Liebe zu Landschaft und Lebenszyklik des ländlichen Piemonts:

So viele Weinberge, Ufer, verbrannte, beinahe weiße Abhänge machten mir Lust, noch einmal zur Zeit der Weinlese auf dem Weinberg der Mora zu stehen und die Töchter von Sor Matteo mit den Körben daherkommen zu sehen. […] Ein gut gepflegter Weinberg ist wie ein lebendiger, gesunder Körper, der atmet und schwitzt. Und wieder dachte ich, als ich mich umsah, an jene Büschel von Bäumen und Röhricht, jene Wäldchen, jene Hänge – all die Namen von Dörfern und Orten rundherum –, die nutzlos sind und keine Ernte geben und doch haben auch sie ihr Schönes – jedem Weinberg seine Wildnis –, es macht Freude, das Auge darauf ruhen zu lassen und zu wissen, wo die Nester sind.

Dabei sind die Wiederbegegnungen des Rückkehrers mit den gebliebenen Bewohnern seiner Herkunftswelt aufgeladen mit divergenten Erwartungen: „Sie wollten wissen, was für Geschäfte ich machte, ob ich Angelo kaufen wolle oder die Buslinie.“ Doch den Rückkehrer interessieren weniger die Geschäfte und das Soziale, vielmehr die vermeintlich ewigen Dinge, Rituale und Naturrhythmen:

Auf der Landstraße und auf den Bauernhöfen fühlte ich mich wohler, doch auch hier glaubten sie mir nicht. Wie sollte ich jemandem erklären, dass alles, was ich suchte, nur war, Dinge zu sehen, die ich schon gesehen hatte? Karren, Heuschober, einen Bottich, einen Rost, eine blühende Wegwarte, ein blau kariertes Taschentuch, eine Kürbisflasche, den Stiel einer Hacke?

Dies Inventar des Elementaren könnte einem Nachkriegsgedicht von Günter Eich entstammen.

Der nun Umworbene, der einst als Marginalisierter nur von den Wenigsten beachtet und respektiert wurde, erinnert sich nur zu gut an die Unterschiede zwischen den Klassen. Im Laufe der Erzählung tritt die heikle Beziehung des Heranwachsenden zu den unerreichbaren doch begehrten Gutsbesitzertöchtern ins Zentrum der provinziellen Suche nach der verlorenen Zeit:

Wenn ich das Klavier hörte, betrachtete ich zuweilen meine Hände und begriff, dass zwischen mir und den Herrschaften, zwischen mir und den Frauen ein ziemlicher Abstand lag. Noch heute, obwohl ich seit beinahe zwanzig Jahren keine Schwerarbeit mehr mache und meinen Namen flüssig schreibe, wie ich es nie geglaubt hätte, begreife ich, wenn ich meine Hände ansehe, dass ich kein Herr bin und dass alle merken können, dass ich mit der Hacke angefangen habe. Doch habe ich gelernt, dass selbst die Frauen gar nicht darauf achten.

Zögerlich, mittels vager Andeutungen wird das lokale Geschehen während des Faschismus angerissen. Zwar taucht schon nach einem Viertel der Erzählung kurz die Leiche eines Deutschen auf, die von der Landschaft buchstäblich ausgespuckt wird, weil sie von den Partisanen nur schnell in den Bergen verscharrt werden konnte. Doch werden die im Bürgerkrieg eingegangen politischen Engagements und Verstrickungen des Erzählers wie der schönen Töchter in subtiler Dramaturgie erst spät im Text offen ausgesprochen. Anguila engagierte sich einst auf der Seite der Linken gegen die Herren, „die Kapitalisten, die Militärs“. Doch ergriff er bald, gewarnt vor seiner drohenden Verhaftung, die Flucht und schiffte sich nach Amerika ein. Am Ende des Gesprächs mit seinem Jugendfreund Nuto, das diese entscheidenden Ereignisse der Vergangenheit klärt, erscheint sein Protégé Cinto und berichtet vom Wahnsinn und Gewaltausbruch seines Vaters, der gerade den Hof angezündet habe. Ein weiteres Stück der so ursprünglichen wie rohen Herkunftswelt geht so in den Flammen unter.

In Paveses Erinnerungsliteratur über die Zeit des Faschismus dient die vom Erzähler nostalgisch ersehnte Heimatlandschaft als Speicher historischer Ereignisse. Es sind die Hügel, die die Toten der blutigen Konflikte zwischen Faschisten und Partisanen noch Jahre später wieder auswerfen, wenn

einer beim Umpflügen eines Stückes Brachland noch zwei Tote auf den Hochebenen von Gaminella gefunden hatte, zwei Spione der Faschisten mit zertrümmertem Kopf und ohne Schuhe. Der Doktor und der Bürgermeister waren hinaufgelaufen, um sie zu identifizieren, doch was konnte man nach drei Jahren noch erkennen? Sie mussten Mussolinitreue gewesen sein, denn die Partisanen starben im Tal, wurden auf der Piazza erschossen und an den Balkonen aufgehängt oder nach Deutschland geschickt.

Zwar fühlt sich der Rückkehrer auch in den alten Hügeln nicht wirklich zuhause, doch unterscheidet sich diese Distanz vom Gefühl seiner Verlorenheit nach Jahren in Amerika. Anguilas Fremdheitsgefühl in den USA wurde durch den Weltkrieg und seine drohende Internierung forciert. Im Nachkriegsitalien herrschen freilich die alten Eliten und die Kirche weiter: die aufgetauchten Leichen der Parteigänger Mussolinis werden mit Messen bedacht, nicht aber die Opfer der Faschisten. So fällt Licht auch auf die Vergangenheit während Anguillas Abwesenheit. Zugespitzt wird die Opposition von Schönheit und Schrecken in den Lebensläufen der schönen Gutsbesitzertöchter. Anguila erinnert sich an die ihm im Alltag so nahen und gesellschaftlich doch so fernen Attraktionen seiner Jugend: „Diese zwei Töchter von Sor Matteo waren nichts für mich und auch nicht für Nuto. Sie waren reich, zu schön, hoch gewachsen. Ihre Gesellschaft waren Offiziere, feine Herren, Landvermesser, erwachsene junge Burschen.“

Ihre kleine Schwester war damals noch ein Kleinkind. Sie trug den irreführenden Namen Santa und reifte bald zum schönsten Mädchen der Gegend. Im Faschismus wurde sie zur verführten Verführerin, schließlich zur Spionin oder Doppelagentin. Ihr Tod setzt den Schlusspunkt der Erzählung. Die ehemals Verehrten scheinen dem in der Welt herum gekommenen Erzähler im Rückblick weder besonders schön noch lebenstüchtig: „Irene und Silvia waren keine Bäuerinnen mehr und noch keine echten Damen. Darunter litten sie, die Ärmsten – daran sind sie gestorben.“ Die älteren Gutsbesitzer-Töchter wählten sich lokale Taugenichtse und schließlich einen faschistischen Parteifunktionär zu Liebhabern. An den drei einst strahlenden Schwestern wird der (moralische) Untergang der herrschenden Landeigentümer, die sich im Faschismus kompromittierten, symbolisch vorgeführt.

Pavese zeigt sich in seinem letzten Buch als Meister lakonischer Sentimentalität mit dem typisch neorealistischen Hang zum Einfachen und Kargen, den die Übersetzerin Maja Pflug auch im Deutschen gut trifft. In fesselnder Weise formuliert Pavese die Gedanken seines Protagonisten Anguila, der seinen dörflichen Wurzeln auch als Besitz- und Herkunftsloser verhaftet bleibt: „Was bleibt von alldem, von der Mora, von unserem damaligen Leben? Viele Jahre genügte mir ein lindenduftender Windstoß am Abend, und schon fühlte ich mich wie ein anderer, fühlte mich wirklich wie ich selbst, ich wusste gar nicht recht, warum.“ Abgründig ambivalent oszilliert sein Identitätsentwurf zwischen Selbstfremdheit und Selbstgewissheit bei der Erinnerung an Herkunftsdüfte. Sein individuelles, hartes Los wird sogleich in Verbindung gebracht mit den Lebensbedingungen vieler Menschen: „Immer wieder frage ich mich, wie viele Leute in diesem Tal und überall auf der Welt leben müssen, denen genau jetzt das passiert, was wir damals durchmachten, und sie wissen es nicht, denken nicht daran.“

Santa, die jüngste und schönste der Gutstöchter, wird von den Partisanen, denen sie ich nach Liebeleien mit faschistischen Funktionären anschloss, schließlich als Verräterin erschossen. Von ihr als Figur des Begehrens bleibt kein Körper zurück. Sie wurde sicherheitshalber verbrannt. Nichts als ein Aschenfleck bleibt, wie von einem der rituellen Johannisfeuer, als Spur ihres unglücklichen Lebens in der so schönen wie gleichgültigen Landschaft zurück. Paveses Prosa macht diese unscheinbaren, lokalen Spuren der großen Geschichte lesbar. Noch 80 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen ergreift einen diese bewusst einfache Geschichte mit ihrem gerührten Blick und ihrem schlichten Tonfall, den Maja Pflug schlackenlos ins Deutsche übertragen hat. Diese neue Übersetzung liest sich leichter, weniger gestelzt und umständlich, und mithin dem neorealistischen Ton und Stil merklich angemessener als die 1954 von Charlotte Birnbaum angefertigte und seither vielfach neu gedruckte Übertragung. Nicht nur für Italienliebhaber eine beeindruckende Lektüre.

Titelbild

Cesare Pavese: Der Mond und die Feuer. Roman.
Nachwort von Paola Traverso.
Übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Rotpunktverlag, Zürich 2016.
211 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783858697158

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