Vermächtnis und Dichtung

Hans Pleschinskis Gerhart Hauptmann-Roman „Wiesenstein“

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man hätte damit rechnen können. 2009 publiziert Peter Sprengel seine großartige Studie über Gerhart Hauptmann im Dritten Reich. Insbesondere das vierte Kapitel (Archiv und Arche: Villa Wiesenstein) führt direkt zu Hans Pleschinskis neuem Roman, der ohne die Vorarbeiten Peter Sprengels weder zu verstehen noch zu würdigen ist. Die Meisterschaft Hauptmanns in der Umarbeitung und Umformung seiner selbst und seiner Autorschaft ist legendär. Die biographischen Vorarbeiten Sprengels und seine Darstellung der nicht unproblematischen Figur Gerhart Hauptmann zur Zeit des Nationalsozialismus sind für Pleschinski Anlass und Grund genug, Gerhart Hauptmann, dessen Leben Sprengel erzählt, in eine Romanfigur zu verwandeln.

Genau diese Umarbeitung und Selbstinszenierung, an der Hauptmann Zeit seines Lebens gearbeitet hat, ist Thema des Romans, den Pleschinski hier vorgelegt hat. Im Anschluss an seinen Bestseller Königsallee von 2005, in dem es vordergründig um einen Besuch Thomas Manns im Düsseldorf der fünfziger Jahre geht, aber hintergründig um die sexuelle Obsession Manns für einen jungen Düsseldorfer, vermag Pleschinski es in Wiesenstein auf eine ähnliche Art und Weise, Zeitgeschichte mit Autorengeschichte zu verbinden.

Der Roman besteht aus vierunddreißig Kapiteln, die eher Sequenzen eines Films oder Szenen aus dem Theater ähneln. Das Anfangskapitel Vor dem Tag ist spiegelbildlich auf das letzte Kapitel Aufbruch bezogen. Analysiert man die Form etwas genauer, so wird deutlich, dass es sich bei Pleschinskis Roman um den Versuch handelt, das Drama des Hauptmann’schen Lebens zu episieren. Das Leben Hauptmanns wird zur Revue und zur losen Abfolge von Szenen. Ohne den Namen des großen Berliner Komparatisten explizit zu nennen, erscheint hier Peter Szondis These von der Episierung des Dramas um 1900 in einem neuen Licht. Es geht um die Frage, wie das nahende Ende eines Lebens in eine lose Folge von Szenen verwandelt werden kann.

Worum geht es? Im März 1945 verlässt der Schriftsteller Gerhart Hauptmann mitsamt Entourage und Ehefrau das zerstörte Dresden Richtung Schlesien. Sie sind auf dem Weg zurück in jene kulturellen Latifundien Schlesiens, ohne die Hauptmanns Werk nicht zu verstehen ist. Der „Gewerkschaftsgoethe“ Hauptmann sitzt in eben diesem Schlesien und versucht mit Hilfe von Sekretären und Archivaren sich und sein Werk zu retten. Hauptmann erscheint hier als Autor, der sein Erbe nicht unbearbeitet der Nachwelt übergeben will. Eine leise Ahnung beschleicht ihn, wie es um das Schicksal seines Werkes in der Nachwelt bestellt sein wird: nämlich schlecht. Wird mich noch jemand lesen? Gibt es noch Publikum für meine Stücke? Wer versteht meine Poetisierung des Christentums? Die Fragen, die Pleschinski Hauptmann sich und anderen stellen lässt, werden so gleichsam prophetisch: Bis auf Bahnwärter Thiel und die Sozialdramen ist Gerhart Hauptmanns Werk weitestgehend vergessen.

Die Villa Wiesenstein erscheint in Pleschinskis Text inmitten Schlesiens als Refugium, als sicherer Ort, als repräsentative Architektur von Geistesgröße. Doch auf dem Weg dorthin begegnet Hauptmann und seinen Begleitern Zeitgeschichte. Die Landschaften sind zerstört, Polen, Deutsche, Litauer hungern am Straßenrand. Die Villa erscheint als letzte Bastion eines großbürgerlichen Lebens inmitten einer zerstörten Landschaft. Doch das Ehepaar Hauptmann mitsamt Personal hält an der Inszenierung tatsächlicher oder vermeintlicher Größe fest, die letztlich allen Stürmen der Gegenwart widersteht. Hauptmann führt in Pleschinskis Text ein Leben im Selbstzitat.

Als ‚Dingsymbol’ für diese perfekte Aufführung bildungsbürgerlicher Größe wählt Pleschinski die berühmte Stradivari von Margarete Hauptmann, die, komme wer und was da wolle, in der Vitrine bleibt. Die Mauern Wiesensteins sind offen und geschlossen. Sie sind offen für Geschichte und geschlossen für die Gegenwart, die, wie es im Text heißt, von Gerhart Hauptmann „ferngehalten“ werden soll. Denn die Gegenwart bedeutet Veränderung, Vertreibung, Verwüstung und Vergewaltigung, wovon der Dichter, der einmal wieder sein Gesamtwerk überarbeitet, nicht irritiert werden darf. Dadurch gelingt es Pleschinski, Hauptmann in seiner grandiosen bis irritierenden Ambivalenz deutlich hervortreten zu lassen. Etwas ermüdend für den Leser sind die teilweise überbordenden Zitate aus Hauptmanns Werk; nicht, weil diese von minderer ästhetischer Qualität wären, sondern weil die Vermittlung unbekannter Texte Hauptmanns im Rahmen der erzählten Geschichte etwas bemüht daherkommt. So heißt es, dass im Bahnwärter Thiel das „wahre Brandenburg“ zum Ausdruck komme; ein Interpretationsklischee der beginnenden Hauptmann-Rezeption in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts.

Wie Pleschinski in Königsallee bereits auf Thomas Manns Spuren wandelt, so steigert sich dies in Wiesenstein zu einer Imitation Hauptmann’schen Schreibens und Sprechens. Pleschinski lässt das Personal im schlesischen Dialekt sprechen, was natürlich ein Hinweis auf die Dialektpassagen in Die Weber ist. Genauso wie Hauptmann mit diesem Text eine bedeutende Milieustudie gelingt, so schafft Pleschinski mit Wiesenstein eine Charakterstudie Gerhart Hauptmanns. Die Verweise auf sein Werk werden im Laufe des Romans immer deutlicher. So weiß jeder, der die großen Sozialdramen Hauptmanns wie Vor Sonnenaufgang oder Das Friedensfest kennt, dass mit der Schilderung eines Weihnachtsfestes das Ende alter Gewissheiten und Zuversichten angedeutet wird, die jeweils den dramatischen Konflikt bilden. Ähnlich fungiert die Weihnachtsnarration in Pleschinskis Text.

Für das zeitgeschichtliche Kolorit sorgen entsprechende Figuren: So treten mit Bezug auf den berühmten Dresden-Text Hauptmanns Emissäre des Reichspropagandaministeriums auf, die aus der Elegie auf alle kulturelle Zerstörung eine Anklage der Alliierten gemacht haben; es tritt Johannes R. Becher auf, der bekanntermaßen Hauptmann für den kulturellen Wiederaufbau der DDR gewinnen wollte. Der Text endet mit dem Tod Gerhart Hauptmanns am 6. Juni 1946.

Die große Hoffnung von Pleschinskis Roman ist, dass aus Pleschinski-Lesern auch Hauptmann-Leser werden. Es lohnt sich, diese Hoffnung mit ihm zu teilen. Freuen wir uns aber auch auf die nächste literaturgeschichtliche Biografie aus seiner Feder: Heinrich Böll, Thomas Bernhard, Max Frisch, Ingeborg Bachmann und andere wären hier sicherlich geeignete Kandidatinnen und Kandidaten. Es bleibt spannend.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hans Pleschinski: Wiesenstein. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
552 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783406700613

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