Kapitalismus hilft den Armen?

Werner Plumpes wirtschaftshistorisches Opus Magnum erklärt Wohlstandswachstum durch Angebots-Variation, Selektion durch Massennachfrage und politische Stabilisierungen

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An historische Abrissen oder großen Erzählungen der Geschichte des Kapitalismus herrscht eigentlich kein Mangel. Viele Bücher, Aufsätze und Volksreden haben sich seit dem 19. Jahrhundert daran versucht, Ursprung, Verlauf und nicht selten das vermeintlich absehbare Ende dieser speziellen Wirtschaftsweise zu erzählen. Selten aber oder nie dürfte ein Überblick zum Kapitalismus so viele treffende Beobachtungen über Anfänge, Bedingungen und Reformationen dieser einst neuen Wirtschaftsweise, über ihre unglaubliche Effizienz und Wachstumslogik nebst einem vorsichtigen Ausblick auf mögliche Zukünfte so umsichtig strukturiert, so gut lesbar formuliert zwischen zwei Buchdeckel versammelt haben. Das rührt vor allem daher, dass Werner Plumpe den Kapitalismus nicht auf eine seiner vielen möglichen Spielarten verengt, dass er diese dynamische Wirtschaftsweise nicht vorschnell reduziert auf vermeintliche Kernaspekte (Privateigentum, Marktwirtschaft, Kapitalakkumulation, Ausbeutung, Gier, Gewalt- und Kolonialisierungsaspekte), sondern vielmehr von der Zentrumslosigkeit und Wandlungsfähigkeit dieses gerade dadurch so effizienten und langlebigen Wirtschaftsdispositivs ausgeht.

Definiert wird Kapitalismus gewissermaßen minimalistisch und flexibel: als die auf Massennachfrage zielende, kapitalintensive Wirtschaftsweise, die Angebotsvarianz zulässt und diese Angebotsvielfalt auf freien Märkten selektieren lässt durch das Kaufurteil von Kunden. Im Kern also wirke das evolutionäre Zusammenspiel von Varianten (der alten und neuen Angebote / Produkte / Dienstleistungen), die durch die Nachfrageseite ausgewählt werden und so zu immer neuen, effektiveren Lösungen führt – denn was nicht (mehr) gewählt wird, kann schnell durch andere Angebote ersetzt werden.

Plumpe hindert seine im Kern evolutionistische, auf kleinteilige Variationen verweisende Modellierung der Marktwirtschaft für Massennachfrage nicht daran, in der nun etwa 600-jährigen Geschichte des Kapitalismus eine Reihe von Revolutionen auszumachen, die zu immensen Wachstumsschüben der Produktivität und des Sozialprodukts führten. Am Anfang steht für ihn eine Agrarrevolution, in der das Zusammenspiel von Roggenanbau auf schweren Böden und dafür notwendigen Techniken (neue Pflüge) in Nordwesteuropa seit dem 15. Jahrhundert die Agrarproduktion steigert und dadurch die Versorgung wachsender Städte und verstärkte Arbeitsteilung ermöglicht. Fraglich bleibt, ob Plumpe die politischen Stabilisierungen marktwirtschaftlichen, kapitalintensiven Produzierens und Handelns um 1800 als „institutionelle Revolution“ erachtet, oder nur als weitere kleine Schritte auf dem Weg zu freier disponierbarem Privateigentum, Rechtssicherheit und Geldwertstabilität. Jedenfalls folgt auf die Erste Industrielle Revolution, die mittels Dampfmaschineneinsatz massive Produktivitätssteigerungen in vielen Gewerben ermöglicht, Mitte des 19. Jahrhunderts eine „Transportrevolution“, die durch Dampfschifffahrt und Eisenbahnnetze die Transportkosten massiv senkt und den Fernhandel deutlich vergünstigt und ausweitet.  Schließlich ereignet sich im späten 19. Jahrhundert die Zweite industrielle Revolution. In der entwickelt die chemische Industrie (mit der Deutschland nach Holland, England und den USA erstmals als Innovations-Lokomotive auftrat) zahlreiche neuen Syntheseverfahren, die der Landwirtschaft (Kunstdünger) massive Fortschritte ermöglicht und den verarbeitenden Industrien günstige Werkstoffe an die Hand gibt; dazu gesellt sich die Elektrifizierung der Städte, Gewerbe und Haushalte.

Im 20. Jahrhundert lässt sich die rasante Erhöhung des Konsumniveaus breiter Bevölkerungsschichten als Revolution begreifen; in Amerika seit den 1920ern, in Europa vor allem in den 30 glorreichen Jahren von 1945–1975. Hier wurden historisch vorher und nachher kaum je erreichte Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts (durchschnittlich etwa vier Prozent per annum) erzielt. Was der Konsumenten-Nachfrage zugute kam; dies wird an der Verbreitung von Kühlschränken und Waschmaschinen, von Urlaubsreisen, Autos, Fernsehern und Unterhaltungselektronik anschaulich belegt, jenseits nackter Wachstumsziffern. Als jüngste Innovationsrevolution, die großen Wandel und stärkere Wachstumsraten hervorrief, wird die Informations- und Digitalisierungsrevolution seit dem späten 20. Jahrhundert begriffen. Da stecken wir noch mitten drin.

Die richtig großen Wachstumsraten, wie sie die Nachhol- und Wideraufbaueffekte der Nachkriegszeit hervorbrachte, bringt die jüngste technische Revolution freilich nicht mehr in den fortgeschrittenen westlichen Ländern. Wachstumsraten von mehr als fünf Prozent jährlich bestimmen in den letzten 30 Jahren die Aufholjagd vor allem der asiatischen Länder, die in den gut 200 Jahren der sogenannten großen „Divergenz“ weit hinter den Wachstums- und Innovationsraten der westlichen Gesellschaften zurückblieben. Durch die Globalisierung und nicht zuletzt durch die Übernahme zahlreicher freiheitlicher, marktwirtschaftlicher Deregulierungen von Angebots- und Nachfragemöglichkeiten nähern sich diese Länder stetig an das Wohlstandsniveau des Nordwestens an. Auch wenn auf Ebene des Pro-Kopf-Einkommens derzeit durchaus noch große Abstände bestehen.

Das jahrhundertelange dynamische Wachstum des europäischen und dann auch des nordamerikanischen Wohlstands sowie das relative Zurückbleiben des Rests der Welt erklärt Plumpe dezidiert prokapitalistisch: Kolonialismus, Gewalt- und Kriegsbeziehungen seien keineswegs Ursprung oder Ursache des europäischen Vorsprungs gewesen (wie es ältere Theorien der gewaltsamen ursprünglichen Akkumulation spätestens seit Karl Marx immer wieder behaupteten). Die spätere militärische Überlegenheit und die Kolonialprojekte seien vielmehr überhaupt erst aufgrund einer produktiveren, innovativen und vielfältig adaptiven Wirtschaftsweise möglich gewesen. Schlüsselkategorien für diese Überlegenheit sieht Plumpe in der hohen Angebotselastizität (Zulassen und Entfalten immer neuer Produkte und Techniken), im Entstehen eines Kapitalstocks, der größere Projekte (Handelsschiffe, Manufakturen, Maschinen, Banken) ermöglicht und schließlich zur Massenproduktion führt, die zu immer geringeren Kosten immer mehr und bessere Produkte herstellen kann: positive Skaleneffekte.

Dass die dieserart überlegenen Kolonialmächte sodann auch von ihren asymmetrischen Beziehungen zu den Kolonien profitierten, dass die Kolonialländer unter Sklavenhandel und anderen Gewalttaten litten, konzediert der Wirtschaftshistoriker; ebenso, dass die Machthaber, wenn sie die (militärischen und demografischen) Vorteile effektiven Wirtschaftens begriffen, dieses politisch förderten, absicherten und institutionalisierten, um machtpolitische Vorteile gegenüber Konkurrenten zu erlangen. Doch erachtet Plumpe die Grundsätze, Interessenlagen und Vorgehensweisen des kapitalistischen Wirtschaftens als prinzipiell unschuldig (im Hinblick auf die kapitalistische Frühgeschichte wie in Bezug auf die Kriegsursachen der großen Kriege des 20. Jahrhunderts), weil diese Prinzipien eben auf Produktivität, Effizienz und Massenwohlstand ausgerichtet seien und Kriege, Gewalt und Unterdrückung dafür kontraproduktiv wirkten.

Profitiert haben von diesen stetigen kleinen evolutionären Schritten und von den großen revolutionären Schüben der Produktivitäts- und Versorgungssteigerung keineswegs nur die wenigen Erfinder oder Kapitalgeber, deren Entdecker- oder Durchsetzungsmut reichlich verzinst wurde und zu den großen Kapitalstöcken der Massengüterindustrien führte. Profitiert haben für Plumpe davon vor allem die armen Leute, die seit jeher abhängig, besitzlos und in vielen Epochen und Regionen unterbeschäftigt waren. Aus hungernden, unterbeschäftigten Landarbeitern wurden so zwar in gewissen Phasen und Regionen Industrieproletarier und in Krisenzeiten auch Arbeitslose. Doch weist die Gesamtentwicklung darauf hin, dass für die allermeisten Menschen trotz oder gerade aufgrund der Umstellungskrisen (Innovation bedeutet stets auch Zerstörung und Scheitern alter Arbeits- und Angebotsmodelle) neue produktive Beschäftigungsfelder und stetig wachsende Einkommens- und Konsumniveaus entstanden.

Für gewisse temporäre Stabilisierungen im endlosen Spiel von Angebotsvarianten und Nachfrage-Wahlentscheidungen sorgt der Staat, dem als Gestalter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen bei Plumpe eine wichtige Rolle zukommt. Denn der Staat ist es, der –ganz im Sinne der Institutionen-Ökonomik und auch der speziell deutschen Tradition der Freiburger Schule des Ordoliberalismus – alleine gewisse Rahmenbedingungen etablieren und garantieren kann; zuforderst: Rechtssicherheit, Geldwertstabilität und moderarte Besteuerung, später auch Wettbewerbsgesetze (gegen Monopole oder Dumping) und soziale Absicherungssysteme gegen Härten und Risiken (wie Berufsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, Rentenversicherung) der freiheitlichen Wirtschaftsweise.

Mit konkreten Akteuren oder gar historischen Helden hat es eine derart evolutionistisch strukturgeschichtlich angelegte Wirtschaftsgeschichtsschreibung freilich weniger: Bedeutende Erfinder, weitsichtige Unternehmer, besonders geschickte oder verderbliche Politiker treten als Agenten des Wandels oder der Blockade hier selten auf. Unter den Wirtschaftstheoretikern taucht gelegentlich John Maynard Keynes als hellsichtige Instanz auf, sonst bleiben die meisten Modellbauer von Bernard Mandeville bis Marx und darüber hinaus eher im Hintergrund. Nicht nur die Erzählung und Argumentationslogik mittels des evolutionistischen Dreischritts von Varianz-Selektion-Stabilisierung ähnelt Niklas Luhmanns Modellierung sozialer Evolution. Auch der weithin lakonische Schreibstil mit trocken servierten Pointen erinnert an den Bielefelder Systemtheoretiker.

Plumpe, der seit 20 Jahren in Frankfurt als Professor für Wirtschafts-und Sozialgeschichte lehrt, wurde zwar in Bielefeld geboren, ist aber akademisch ganz in Bochum (also nicht luhmannianisch) sozialisiert. Sehr überrascht war der Rezensent, als er nach der begeisterten Lektüre dieses als Summa eines Forscherlebens zu begreifenden Werkes, in einem Interview mit Werner Plumpe im Deutschlandfunk, erfuhr, dass der Autor dieses vielleicht besten affirmativ-apologetischen Buches zum Kapitalismus bis 1989 Mitglied der DKP war. Offenbar war das leidenschaftliche Interesse an den Wirtschaftsgeschichtszusammenhängen das verbindende Element in Plumpes wechselvoller Beziehungsgeschichte mit dem Kapitalismus; und sein Kopf (mit Francis Picabia gesprochen) rund genug, damit das (wertende) Denken seine Richtung wechseln konnte.

Der Wirtschaftshistoriker hatte schon 2012 ein kompaktes Büchlein über Wirtschaftskrisen vorgelegt, das wegen seiner historisch weit ausgreifenden Beschreibungen und nüchternen Analysen sehr zu empfehlen ist. Dessen Erfolg wird durch mehrere Auflagen belegt. Nunmehr gelingt ihm ein ganz schön dickes, doch auf jeder Seite lesenswertes Meisterwerk. Das kalte Herz überrascht in nahezu jedem Abschnitt auch in Wirtschaftsdingen und Geschichte schon Belesenere mit pointierten Einsichten und Formulierungen. Einzig sein Titel geriet in der Schmuckzeile wohl etwas abwegig. Denn der Kapitalismus hat nach Plumpe doch weder Herz noch Zentrum, agiert vielmehr kleinteilig variierend sowie dezentral und wirkt durch Wohlstandsgewinne gerade für die Ärmeren eher barmherzig als herzlos. Der Untertitel trifft die Sache hingegen besser: Kapitalismus. Die Geschichte einer andauernden Revolution. Sachlich stünde freilich vielleicht auch hier angemessener: (R)Evolution. Denn als Grundprinzip dieser Wirtschaftsweise wird doch gerade die unaufhörliche Evolution mittels Variationen-Selektionen und Restabilisierungen benannt und belegt.

Wem das 800-seitige Mammutwerk abschreckend dick erscheint, der sei darauf hingewiesen, dass das Buch gleichsam Kurzfassungen der wichtigsten Ideen, Fakten und Argumente in seiner 25-seitigen Einleitung und nochmals im brillanten 40-seitigen Schlusskapitel enthält. Zumindest diese möchte man, gleichsam als eiserne Ration, jedem eiligen Politiker, Wirtschaftspraktiker aber auch jedem Kapitalismuskritiker und Utopiesucher zur Lektüre und Reflexion anraten.

Titelbild

Werner Plumpe: Das kalte Herz. Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019.
800 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783871347542

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