Kartografisches Erzählen

Geschichte und Geschichten in Katerina Poladjans „Hier sind Löwen“

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Terra incognita“ – diese nüchterne und doch treffende Bezeichnung findet sich gelegentlich auf alten Landkarten für noch nicht kartografierte oder beschriebene Gebiete. Wollte man dem Unwissen einen abenteuerlichen Anstrich geben, nutzte man die Formel hic sunt dracones oder – etwas bodenständiger – hic sunt leones. Hier sind Löwen heißt auch Katerina Poladjans im Fischer Verlag erschienener dritter Roman, den die Autorin zurzeit auf zahlreichen Lesungen vorstellt. Der Marketingabteilung des Verlags darf man ein Kompliment aussprechen, denn nach kurzer Zeit gibt es bereits zahlreiche Roman-Rezensionen im Internet. Deren Spektrum – hier nur eine kleine Auswahl – reicht von Begeisterung (Cornelia Geißler; FR) über Anerkennung und Wertschätzung (Fridtjof Küchemann; FAZ) bis hin zu kühler Ablehnung (Jürgen Deppe, Deutschlandfunk) und Totalverriss (Thomas Steinfeld; SZ). Der Roman scheint zu polarisieren, was schon mal nicht die schlechteste Eigenschaft von Literatur ist.

Der Text, der auch autobiografische Spuren enthält, lässt sich zumindest an seiner Handlungsoberfläche gut „kartografieren“. Es geht vordergründig um die Buchrestauratorin Helen Mazavian, die dank eines Stipendiums von Deutschland nach Armenien reisen kann, um dort im Matenadaran, dem Zentralarchiv für alte armenische Handschriften in Jerewan, eine jahrhundertealte Bibel zu restaurieren und dabei die spezielle Buchbindetechnik des Landes zu erlernen. Während ihrer Arbeit entdeckt Helen wie von Kinderhand geschriebene Kritzeleien: „Anahid Anahid Anahid“ steht auf der einen, das kurze Gebet „Hrant will nicht aufwachen. Mach, dass er aufwacht“ auf einer anderen Seite. Helen beginnt sich für die Geschichte der Menschen zu interessieren, die das Buch wie einen Schatz hüteten. Immer wieder werden kurze Kapitel über Anahid und Hrant, zwei armenische Kinder im Alter von vierzehn und sechs Jahren, die als einzige ihrer Familie den Genozid überlebten und nun schutzsuchend durch das Land irren, eingestreut. Woher Helen das Wissen um die Geschwister hat, erfährt der Leser nicht. Vielleicht ist es nur ihrer Phantasie entsprungen. Vielleicht ist es nur eine mögliche Geschichte von unzähligen Geschichten des Völkermords, die nie erzählt worden sind.

Wie der Familienname Helens bereits erahnen lässt, stammen ihre Vorfahren aus Armenien, weshalb ihr die in Deutschland wohnende Mutter vor der Abreise ein Familienfoto mitgibt, das dreizehn Personen mit ernsten Gesichtern zeigt. Ob noch Familienmitglieder leben, weiß sie nicht – Helen soll es herausfinden. Da die Tochter in Moskau aufgewachsen und später nach Deutschland gegangen ist, ist sie weder mit dem Land noch mit der Kultur oder der Sprache vertraut. Hic sunt leones – wohin das Auge schaut.

Die Vielzahl an neuen Eindrücken geht freilich nicht ohne Gefühlswirrungen einher und so entwickelt sich eine Liebesgeschichte zwischen Helen und Levon, dem Sohn ihrer Vorgesetzten. An dieser Beziehung lässt sich konzentriert zeigen, was den ganzen Roman stilistisch und motivartig durchzieht. Nichts wird detailliert ausgeführt, nichts wird ausgeleuchtet; selbst wenn der Leser Helen und Levon in intimer Zweisamkeit beobachten darf, erfährt er nur Bruchstückhaftes. Das Fragmentarische schlägt sich als ein Charakteristikum des Romans selbst in den Dialogen nieder:

„Und jetzt?“, fragte ich in die kleine Stille.
„Wer ist das auf dem Foto. Dein Mann?“
„Das ist Danil.“
„Dein Bauch ist weich, hast du ein Kind?“
„Nein, ich habe nur einen weichen Bauch. Und du hast auch einen weichen Bauch.“
„Ich habe eine Tochter, sie geht in die zweite Klasse, keine Sorge, ich lebe mit der Mutter nicht mehr zusammen.“
„Ich habe keine Sorge.“
„Das ist mir unheimlich.“
„Wirklich?“
„Hast du keine Zigaretten?“
„Ich habe Tomaten […]“

Dieser skurril wirkende Dialog ist nicht ohne Tiefe. Das den Roman prägende Fragmentarische kann vielleicht als „kartografisches Erzählen“ bezeichnet werden, das sich durch feines Andeuten von Umrissen auszeichnet, die zumindest die Grenzen des Ungesagten beziehungsweise Unsagbaren nachzeichnen. Aber auch im fließenden Strom der Worte weiß Katerina Poladjan mehr anzudeuten als auszusprechen. Dies zeigt sich beispielsweise in der Szene, als Helen eines Abends Levon bei einem Auftritt mit seiner Jazzband in einer Bar beobachtet: „In einer Ecke fand ich einen freien Platz, genoss das Halbdunkel, […] wollte einfach sitzen bleiben, bis alles möglich schien, bis die Musik das Stimmengewirr einfing und verwob, sitzen bleiben, bis auch die Musik verebbte, einzelne Stimmen wieder aus ihrem Gespinst entließ in den Teil der Nacht, der für den Schlaf nicht mehr taugt.“ Halbdunkles, Gewirr, Verwobenes, Verebbtes, Gespinste, einzelne Stimmen – Motive, die sich im gesamten Roman auf verschiedenen Ebenen finden lassen.

Selbst über die Hauptfigur erfährt der Leser nicht viel, nur sporadisch treten ein paar Hintergründe zu Helens Geschichte nach vorne, deren Zusammenhänge jedoch oft im Dunkeln bleiben. Der Roman zeigt (scheinbare) Widersprüche auf, so ist Levon nicht nur Jazz-Musiker, sondern auch überzeugter Soldat bei den Streitkräften des Landes. Die Freude an der Musik und die Bereitschaft zu töten schließen sich nicht aus (und taten es nie) – erschreckend, aber kein Einzelfall. Poladjan gibt vielen Perspektiven Raum in ihrem Roman und lässt sie meist unkommentiert nebeneinander bestehen. Dies ist keineswegs Ausdruck des Unvermögens der Autorin. Im Gegenteil: Poladjan zupft an verschiedenen Fäden des Knäuels, welches „Geschichte“ heißt, wo alles mit allem verwoben ist, wo kein Anfang und kein Ende auszumachen, wo Weltgeschichte und Einzelschicksale verknotet sind. Am Ende des Buches hat man mehr Fragen als Antworten, und wo man einst sicheres Land zu sehen glaubte, schleichen nun Löwen umher. Und doch ist Armenien nach der Lektüre ein Stück näher gerückt.

Titelbild

Katerina Poladjan: Hier sind Löwen. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973815

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