Popmusikalische Editionsphilologie

Aus Anlass des 75. Geburtstags von David Bowie ein Blick auf die Nachlasspflege in der Popmusik, die sich immer mehr der Edition klassischer literarischer Werke annähert

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Sechs Jahre nach seinem Tod und an seinem 75. Geburtstag ist David Bowie immer noch einer größten Pop-Stars dieses Planeten. Ähnlich wie im Fall der Beatles liegt dies nicht allein an der Qualität und auch der Zeitlosigkeit seiner Musik, sondern auch an konsequenten und – anders als bei den Fab Four – manchmal etwas kleinteiligen Wiederveröffentlichungen seines umfangreichen Katalogs. Um nämlich in diesen schnelllebigen Zeiten als Künstler weiter relevant zu bleiben, ja, überhaupt wahrgenommen zu werden, muss man ein permanentes Output vorweisen – und wenn man eben nichts Neues mehr produzieren kann, wird konsequent aus dem vorhandenen Repertoire geschöpft. Dies ist Segen und Fluch zugleich. Der Vorwurf des Ausverkaufs ist gerade in Bezug auf den Künstler David Bowie nicht aus der Luft gegriffen, zumal vor wenigen Tagen auch noch die Rechte an seinen Songs für 250 Millionen Dollar an Warner Brothers verkauft wurden, was bei vielen seiner treuen Anhänger Schlimmes erwarten lässt, so etwa die lukrative Freigabe von Bowie-Songs für die Werbebranche; etwas, das der Künstler, der nun  keine Kontrolle mehr (auch nicht in Gestalt von umsichtigen Nachlassverwaltern) über sein eigenes Werk hat, zeitlebens abgelehnt hätte.

Im Fall der Beatles konzentriert sich die Nachlasspflege auf ein großes Thema pro Jahr, meist vor Weihnachten. In den letzten Jahren waren dies Sonderausgaben der regulären Alben mit umfangreichem Bonusmaterial. 2021 drehte sich alles um Get Back, ehemals Let It Be, jenen vor Jahrzehnten in die Archive verbannten Film samt zugehörigem Album, der neu geschnitten und um mehrere Stunden verlängert wurde, möglicherweise auch zum Zweck einer kleinen Geschichtsrevision. Die von Streitereien dominierten Sessions erschienen plötzlich wie das Treffen vierer Freunde, die hin und wieder mal eine künstlerische Meinungsverschiedenheit ausfechten, jedoch in Wirklichkeit eine Menge Spaß dabei hatten. Wenn Peter Jacksons Film also eines zeigte, dann vor allem, wie sehr das Wiederaufbereiten historischen Materials auch zu dessen nicht selten gesteuerter Neubewertung führt. Dass diese das Musikgeschäft mittlerweile entscheidend prägenden Editionsprozesse – immerhin sind die älteren Jahrgänge, die mit Bowie oder den Beatles aufgewachsen sind, eher diejenigen, die für Musik noch viel Geld auszugeben bereit sind  – mittlerweile ein Stadium erreicht haben, in dem sie, zurecht, mit dem Edieren von literarischen Werken verglichen werden, ist ein Phänomen, das 2021 sogar bis in die Kulturwissenschaft vorgedrungen ist. Im August fand an der Universität Freiburg eine prominent besetzte (Online)-Tagung zu genau diesen Editionsprozessen in der Popmusik statt, an der auch mehrere Mitarbeiter von literaturkritik.de teilgenommen haben.

Anders als bei den Beatles wirkt die Arbeit an David Bowies Gesamtwerk teils erratisch, weil allzu kleinteilig und mitunter unkoordiniert. Dies bezieht sich nicht auf die mächtigen Vinyl- und CD-Boxen, die in der Regel jedes Jahr (nach Corona-bedingtem längerem Ausfall mit Verspätung auch wieder Ende 2021) erscheinen und expansiv eine Phase im Schaffen des Künstlers abdecken. Enthalten sind neben den offiziell erschienenen Studio- und Livealben der Ära auch jeweils mehrere LPs mit (meist redundantem, weil allzu bekanntem) Bonusmaterial sowie, wenn vorhanden, auch ein „verschollenes“ Album, das Bowie unter Druck der Plattenfirma nicht veröffentlicht hat. Im die 1990er Jahre abdeckenden, diesjährigen Set Brillant Adventure lag also das sagenumwobene Album Toy bei, auf dem Bowie Ende der 90er Jahre Songs aus seiner geschmähten Anfangszeit als erfolgloser Sänger mehr oder weniger seichter Popsongs rekapitulierte und dessen Veröffentlichung seine damalige Plattenfirma seinerzeit verhinderte. So weit, so gut. Jedoch erscheint Toy zudem etwa sechs Wochen später, also Anfang Januar 2022, pünktlich zum 75. Geburtstag als Extra-Boxset mit sechs EPs, auf denen das apokryphe Album sowie wiederum Restmaterial aus den Sessions dazu zu hören ist. Die Wiederverwertung der Wiederverwertung sozusagen, und das alles zu einem enormen Preis.

Neben Brillant Adventure und Toy erschien am 7. Januar aber zudem noch Bowies Klassiker Hunky Dory als Picture Disc-LP, die wiederum eine Reihe an Neuauflagen seiner Platten eben als Picture-Discs fortführt. Zuvor veröffentlichte seine Plattenfirma 2021 allerdings noch eine kleine CD-Box mit BBC-Radioaufnahmen aus dem Jahr 1971 (mit einem jungen John Peel als ständig dazwischenquatschenden Moderator) sowie eine Neuauflage seines 71er-Albums The Man Who Sold The World mit dem ursprünglich geplanten (und später nur in den USA verwendeten) Comic-Cover unter dem kurz vor Veröffentlichung verworfenen Titel Metrobolist, ein weiteres Mal neu abgemischt von Produzent Tony Visconti. In den beiden Jahren zuvor wiederum waren die Aufnahmen rund um Bowies zweites Album (und, lässt man die verschmähte Frühphase außer Acht, eigentlichem Debüt) Space Oddity in mehreren 45-Singles-Boxsets erschienen, deren Sinn sich zwar nicht so recht erschließen mag, die aber die Frage aufgeworfen haben: Wenn schon mit dem weniger beachteten Frühwerk so expansiv umgegangen wird, was passiert dann erst mit den zahlreichen Klassikern, die diesem in den nächsten Jahrzehnten gefolgt sind? Kommt überhaupt noch jemand mit?

Von der kommerziellen Ausblutung des Künstlers mal ganz abgesehen, ist jedoch in unserem Kontext eine ganz andere Frage relevant: Ist diese posthume Veröffentlichungspolitik, was Künstler wie vor allem die Beatles oder David Bowie – Prince wäre hier auch noch zu nennen – angeht, nicht tatsächlich vergleichbar mit der philologischen Aufarbeitung großer Schriftsteller*innen der Weltliteratur? Denn die Songs werden ja nicht blind auf den Markt geworfen, sondern hinter den Veröffentlichungen steckt durchaus eine Philosophie, die sich nicht nur auf die reine Musik konzentriert, sondern vor allem auf deren kulturhistorische Einordnung samt penibler Quellenforschung. So werden all die erwähnten Editionen von voluminösen Büchern begleitet, die zum einen zahllose Fotografien aus dem Archiv präsentieren, zum anderen aber vor allem essayistische Betrachtungen über die Künstler und die dargestellte Schaffensphase.

Diese akribische Dokumentation der Entstehung eines klassischen Albums gleicht der Editionsarbeit von literarischen Klassikern nicht von ungefähr; tatsächlich wurde das Vorgehen bei dieser abgeschaut. Spätestens mit der Einführung der CD in den 80er Jahren ist das Interesse an einer Neuveröffentlichung des Backkatalogs von Musiker*innen ein großer Geschäftszweig geworden. Zunächst waren dies spröde Editionen in angeblich digital aufpolierter, in der ersten Generation jedoch recht unterirdischer Soundqualität. Die Text- und Infoblätter der ursprünglichen LPs wurden oft erst gar nicht übernommen; die CD kam hier schon früh als das – wenn auch von der Preisgestaltung teure – Billigprodukt rüber, das sie ja im Grunde auch immer war.

Doch bereits hier nahm David Bowie eine Pionierrolle ein. Anfang 1990 wurde sein Katalog für CD vom kleinen, auf den neuen digitalen Tonträger spezialisierten Label Rykodisc für damalige Verhältnisse recht aufwändig restauriert. Nehmen wir mal das Beispiel seines ersten Klassikers, dem 1972 erschienenen Hunky Dory: 1984 kam eine erste CD-Edition auf den Markt, die alles andere als befriedigend war (und die derzeit auf den einschlägigen Internet-Börsen mit Preisen nahe an den 100,- Euro gehandelt wird). Rykodisc (in Europa bleib es beim Stammlabel EMI) veröffentlichte im Zuge ihrer Kampagne 1990 eine neue Edition. Auf dieser waren vier Songs zu hören, die nicht auf dem Originalalbum waren, drei davon allerdings alternative Mixe von dort enthaltenen Stücken. 1999, also nicht ganz zehn Jahre später, startete EMI eine zweite CD-Kampagne mit dem Gesamtkatalog des Künstlers. Die 90er waren die Zeit einer großen Remaster-Welle, da man nun meinte, bessere Möglichkeit zur digitalen Neuabmischung zu haben. Die Bonustracks ließ man, von Hunky Dory wie auch auf den anderen CDs, indes weg. Warum?

Die Antwort ist editionsphilologisch recht interessant: Am Anfang des CD-Zeitalters galt es als Anreiz, jene verlorenen Tracks auf das Album anzuhängen; Puristen empfanden dies jedoch recht schnell als ästhetisches Ärgernis, wurde doch das Gesamtkunstwerk empfindlich gestört, wenn Hunky Dory eben nicht mit dem gespenstischen „The Bewlay Brothers“ endete, sondern irgendwelche B-Seiten oder zurecht unveröffentlichte Stücke folgten. Es folgte also die Wiederentdeckung des Albums als in sich geschlossenes Kunstwerk, dem allenfalls eine zweite CD beigelegt werden konnte, auf dem sich die apokryphen Lieder dann fanden. Dies war Ende der 90er noch nicht in der Budgetplanung der Plattenfirmen enthalten, folgte dann aber einige Jahre später als Standard.

Kurz vor dem Tod des Künstlers begann dann 2015 die Arbeit an dessen Gesamtwerk mit den oben erwähnten Boxsets, einem weiteren Remaster und der Neuauflage auf LP und CD (LP-Neuauflagen hatte es bei einem großen Künstler wie Bowie übrigens auch in den Jahren zuvor immer wieder gegeben, allerdings waren diese vor den Zeiten des neuerlichen Vinyl-Booms nicht so liebevoll gestaltet). Und nun, nur wenige Jahre später, folgen die Jubiläumseditionen, im Fall von Hunky Dory, das 2022 ja seinen 50. Geburtstag feiert, erst als Picture-Disc und mit Sicherheit im Laufe des Jahres als Neuabmischung von Tony Visconti.

Zusammenfassend kann die Wertigkeit einer klassischen LP also auf drei Faktoren zusammengerechnet werden:

– Erstens wird das Album überhaupt in verschiedenen Formaten wieder zugänglich gemacht oder auf dem Markt gehalten.

– Zweitens wird das Album mit Hilfe von Extra-Aufnahmen aus den Archiven sowie dem Kompilieren von Zeitdokumenten (Fotos, Zeitungsartikel, andere Texte) als auch neu verfassten Essays und neu geführten Interviews philologisch aufgearbeitet.

– Drittens wird der Sound aufpoliert und immer häufiger mit den aktuellen technischen Möglichkeiten auf eine Art neu abgemischt, dass man das Ursprungsalbum manchmal kaum wiedererkennt. (Hier war man bei Bowie bislang eher zurückhaltend, aber jeder, der Giles Martin Neuabmischung des „Weißen Albums“ der Beatles gehört hat, weiß, was gemeint ist).

Und ein Ende ist nicht abzusehen, denn die Plünderung der Archive geschieht zumindest im Falle Bowies noch mit einer erstaunlichen Zurückhaltung. Beim akustischen Bonusmaterial fehlen mitunter den Fans bekannte, aber nie offiziell veröffentlichte Aufnahmen aus verschiedenen Sessions; wohl auch, um noch genug Material für spätere Archiveditionen zu haben. So findet sich beim 90er Jahre Boxset Brillant Adventure die legendäre unveröffentlichte „Outside-Suite“, die bei den Aufnahmen zum gleichnamigen Album mit Brian Eno entstand, nicht unter den Extra-Songs. Hier unterscheidet sich die Tonträger-Editionsphilosophie wohl am grundsätzlichsten von der Edition literarischer Klassiker: man stelle sich etwa vor, es seien drei unbekannte Kapitel zu Frank Kafkas Romanfragment Der Process aufgetaucht, der Verlag integriere aber nur eines davon in eine neue Edition, weil man die anderen für spätere Ausgaben zurückhalten wolle.