Lyrik explosiv

Der Schriftsteller Steffen Popp gibt Lieblingsgedichte heraus – und schafft ein glänzendes Kaleidsokop zeitgenössischer Poesie

Von Jana ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 29. Januar 1827 sagte Johann Wolfgang Goethe zu Johann Peter Eckermann: „Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere giebt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist aber doch aussieht, als wäre es was.“ Das stimmt natürlich nicht – oder zumindest nur ein bisschen. Denn was Goethe meint, lässt sich gut auf die Gedicht-Anthologie Spitzen beziehen, die Steffen Popp 2018 im Suhrkamp Verlag herausgegeben hat. Die Mehrheit der enthaltenen Texte arbeitet mit dem ästhetischen Verfahren der Assoziation. Diese künstlerische Praxis muss man aber nicht mit der Abfälligkeit beschreiben, die bei Goethe herauszuhören ist. Im Gegenteil, die Anthologie strotzt nur so von Assoziationskraft, und eben das macht sie so aufregend.

Wer vermutet schon Wörter wie „ungestilltdotcom“, „Kabelbinder“, „Mutti-Raben“ oder „dirty talking“ neben klassisch lyrischen Motiven wie der Mondnacht, der zufälligen Begegnung oder dem Abschied? Tatsächlich scheint in den Gedichten jedes Wort direkt aus dem vorangegangenen zu entstehen – klanglich, lautlich, begrifflich. Die Texte verbinden in besonderem Maße Unzusammenhängendes und brechen damit jederzeit die Leseerwartungen. Auch visuell fordert der Band heraus: Zeichnungen statt Wörtern, verschiedenste Schriftarten, unbekannte grafische Symbole. Da erstaunt es nicht, dass Ann Cottens Gedicht Die Nagekuh scheinbar kein Ende hat: „Die Hausherrin ergriff die Laute, es war ihr ein schwüles altes Lied eingefallen:“

Steffen Popp, selbst vielfach ausgezeichneter Poet und seit Kurzem Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, fasst in Spitzen Höhepunkte der vergangenen 20 Lyrik-Jahre zusammen. Dass es sich um neueste Texte handelt, ist ständig zu spüren. Wir sind nicht mehr im 20. Jahrhundert. Legt man als Vergleichsfolie die Werke von Poetinnen und Poeten wie Else Lasker-Schüler, Mascha Kaléko oder Christian Morgenstern aus den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts an, wird dies überdeutlich. Während dort geschlossene Formen, stilistische Askese und thematische Einheit dominierten, ist die Lyrik im 21. Jahrhundert explosiv. Diese Texte haben etwas Psychotisches, das im Entferntesten Verbindung sucht und findet. Dabei verweigern sie sich jeglichem Kitsch. Für die Autorinnen und Autoren ein ungewollter Nebeneffekt romantisch geprägter Lyrik, so scheint es.

Die bereits zitierte amerikanisch-österreichische Schriftstellerin Cotten bricht Konventionen nicht zuletzt mit Humor: „Wie kann ich mich drehen, mich hinzuschmeißen, an Dinge, die ich liebe, deren Leere mir alles fernhält, was ich wäre, wäre ich, wie ich bin: in jedem Spiegel ein Igel, hier ein Girl, letztlich ein Ziegel“, schreibt sie und inszeniert das lyrische Ich als fallenden Ziegel. Erfrischend ist dieser Witz. Denn eines der wenigen Mankos der Anthologie ist, dass sie manchmal trotz all ihrer Wunderlichkeiten Gefahr läuft, sich selbst zu ernst zu nehmen. Sie will schockieren, wo sie genauso gut belustigen könnte. Schade ist auch, dass die lyrische Musikalität des Öfteren in den Hintergrund tritt. Lutz Seilers Texte bilden da eine Ausnahme. In ihrer klanglichen Prägnanz erzeugen sie eine melodische Wärme, die an die Gedichtkunst der Romantik erinnert.

Spannend sind die Tierfiguren, die in der Anthologie überall auftreten. Wir begegnen Tapiren, Robben, Walen, Rotkehlchen, Zaunfinken, Gorillas, Quallen oder Chamäleons. Die Dichterinnen und Dichter erteilen damit den Tieren des Lyrik-Kanons eine Absage. Nicht Walther von der Vogelweides Nachtigall, nicht Edgar Allen Poes Rabe, nicht Rainer Maria Rilkes Panther spielen die Hauptrolle, sondern die seltenen Tiere, die sie neu auf die Bühne der Dichtkunst bringen. Gleichnishaft bewahrt die zeitgenössische Poesie aber eigentlich nicht die Tiere, sondern exotische Wörter vor dem Aussterben: jederzeit bereit, sie unter Alltagswörter wie Notebook, Sozialarbeiterin und Bürohaus zu mischen.

Popps Gedichtauswahl spricht für seinen ausgeprägten Sinn für das Seltene und Extravagante. Sein Vorwort zeugt von großer Sachkenntnis. Darin entwirft er verschiedene Topoi, nach denen sich die Texte einleuchtend sortieren lassen. Zum Beispiel den grafematischen Ansatz, bei dem Dichterinnen und Dichter mit der visuellen Gestaltung der Verse spielen; mit dem Stichwort „Materialität der Sprache“ bezeichnet Popp den bereits angeklungenen „piratenhaften Zugriff auf vermeintlich wenig poetische Bereiche“, zum Beispiel Technik, Bankwesen oder Arbeitswelt. Er unterscheidet zwischen Texten mit einer „kritischen Distanz zur eigenen Sprachposition“, wie sie sich wohl in Cottens Nagekuh findet, und „Gesellschaftsdiagnosen“, etwa in Volker Brauns Gedicht Nach dem Massaker der Illusionen, einem Text über Tschernobyl und die Zukunft der Erde.

Zwar hätte dem Vorwort auf den ersten Blick mehr sprachliche Klarheit gut getan, der Lyriker Popp aber schreibt ein einleitendes Prosagedicht. Und wer so viel Feingefühl für lyrische Innovation besitzt, der sollte das auch tun.

Titelbild

Steffen Popp (Hg.): Spitzen. Gedichte. Fanbook. Hall of Fame.
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Steffen Popp.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
262 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127193

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