Über die Trümmerberge des Lebens hinweg
Zwei Debütromane beschreiben auf eindrucksvolle Weise queere Lebenswirklichkeiten: „Wo wir uns berühren“ von Lauren John Joseph und „Die schlechte Gewohnheit“ von Alana S. Portero
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer eine Roman führt uns in die queeren Subkulturen von London, New York und San Francisco, der andere zeichnet ein Bild von den bedrückenden Lebensverhältnissen in einem Madrider Stadtteil, wo einfache Leute mit geringem Einkommen in kleinen Wohnungen leben und wo es gendernonkonforme Menschen schwer haben. Die Milieus könnten nicht unterschiedlicher sein – hier Sex, Drogen, Glamour, dort ein Leben im Schrank.
Was sie zusammenbringt ist die Einsicht, dass von prekären Lebensverhältnissen gerade jene Menschen betroffen sind, die sich gesellschaftlichen Normen verweigern. Die Erfahrungen wiederholen sich in immer wieder neuen Geschichten. So auch jetzt in den Romanen von Lauren John Joseph und Alana S. Portero, denen – und das sei vorweggenommen – literarisches Gewicht nicht abzusprechen ist und die für zwei sehr unterschiedliche trans*Selbstverständisse stehen.
Was kann aus der Tatsache, dass beide Autor*innen trans* sind, geschlossen werden? Dass sie Nischen-Literatur schreiben, adressiert an die Minorität, aus der heraus sie entstanden ist? Aber ist das so? Immerhin haben die Veröffentlichungen zumindest auf der Verlagsseite längst die Nische verlassen, sind nicht mehr nur Produkte kleiner Community-Verlage und vielleicht konzipiert als Produkte einer internen Selbstverständigung und -bestätigung. Sie sind heute in den Programmen großer Verlage angekommen. Die kreativen Potentiale innerhalb der trans*Community fallen jedenfalls ins Auge, und literarische Talente sind leicht auszumachen.
Dass trans*Autor*innen über trans* schreiben, ist so wenig überraschend wie die Tatsache, dass cis-Autor*innen auch nur über sich schreiben und so über das cis-Sein. Und was hier wie dort wohl dem banalen Umstand geschuldet ist, dass wir immer nur über uns und unsere Erfahrungswelt schreiben, unabhängig davon, in welchen genrebedingten Dekorationen, Zeiten und Settings wir das literarische Personal auftreten lassen.
Natürlich ist die Frage von Geschlecht in einem Roman, in dem es um das trans*Sein geht, mindestens so wichtig, wie es für den Rest der Gesellschaft lebensbestimmend ist. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die cis-Normativität unmarkiert bleibt und damit stets vorausgesetzt wird. Dennoch muss nichts so sein wie es scheint. Trans* jedenfalls ist die Tür zum geschlechtlichen Sowohl-als-auch und doch mit der Entschiedenheit im Frau- oder Mannsein. Für diese Freiheit werden manche von einer ganz und gar nicht freien Gesellschaft von Fall zu Fall übel bestraft. Die in Madrid geborene Alana S. Portero erzählt eine solche Geschichte, die mächtig angreift.
Die Ich-Erzähler*in beschreibt uns San Blas als ein von Gott verlassenes Viertel im Osten Madrids. Wir befinden uns in den 1980er und 1990er Jahren. Es ist die Kindheit und Jugend der Erzähler*in. Die Vorstellung beginnt mit der brutalen Realität der Straße und mit Jugendlichen, die durch Drogen zu „gefallenen Engeln“ werden. Die Erzähler*in fühlt sich gerade von jenen Menschen im Viertel angezogen, die anders als die anderen sind und irgendwie aus dem Rahmen fallen. Da ist jene Alte, die alle nur La Peluca (die Perücke) nennen, über die man lacht und zugleich fürchtet. Denn der allgegenwärtige Aberglaube schreibt ihr magische Kräfte zu. Grell geschminkt, läuft sie wie eine Karikatur durchs Viertel. Aber auch der ältere Nachbarsjunge zieht sie magisch an, dem die anderen „Schwuchtel“ hinterherrufen: „Manchmal wollte ich sein wie er: faszinierend, einzigartig und androgyn.“
Zu den besonderen Menschen gehört auch Margarita. Eines Tages erfährt die Erzähler*in, dass sie eine trans*Frau ist. „Ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren. Sie war mein Blick in den Abgrund und der Abgrund trug Kittelschürze und Lippenstift.“ Die Gemeinschaft der Frauen hatte Margarita bei sich aufgenommen, weil sie sich als Tochter aufopferte für die kranke Mutter und sich alle auf ihre Hilfsbereitschaft verlassen konnten.
Für die Erzähler*in wird ihre gemeinsame Verwandtschaft zur Gewissheit: „Ich hatte Angst um Margarita und um mich selbst. Wir waren sehr wohl Wesen aus demselben Wald und teilten eine Vertrautheit, die schrecklich und zugleich unendlich kostbar war.“ Berührend, wenn Portero von der ersten Liebe zu einem Jungen erzählt. Ein Paradies von nur kurzer Dauer, weil das Feindesland drumherum mächtiger ist und es bleibt mächtig, gleich ob homo- oder transphob.
Später beginnt die Erzähler*in in Madrids Nachtleben einzutauchen, lernt Sexarbeiterinnen kennen, die trans* sind. Eine von ihr wird für sie zu einer Ersatzmutter, der sie sich öffnen kann und die ihr Halt gibt. Nachts kleidet sie sich weiblich, schminkt sich, vergnügt sich in den Clubs, bis sie eines Tages brutale Gewalt erfährt. Es geschieht genau in dem Moment, in dem sie endlich ihr Outing beschlossen hatte. Das wirft sie aus der Bahn und so vergehen dreizehn Jahre im Nichts – „so war von mir nichts übrig als eine zu Tode korrigierte Existenz mit vom ständigen Gehorsam gekrümmten Rücken“.
Inzwischen vierunddreißig geworden, öffnet sie endlich die Tür zum richtigen Leben: „Die Gewalt war real gewesen, und ich verstand die Motivation hinter meinem Versteckspiel, aber meine Angst hatte alles auf den Kopf gestellt, und ich war das Ganze völlig verkehrt angegangen.“ Die Mutter glaubte, einen Torero geboren zu haben, in Wahrheit war es eine trans*Tochter.
Porteros Roman berührend zu nennen, ist fast untertrieben. Er ist gerade darum eine wichtige Stimme, weil der Weg zu sich selbst nicht unbedingt ein Sonntagsspaziergang ist, sondern für eine trans*Person nicht selten ein Hindernislauf gegen lauter Vorurteile bedeuten kann. Genau das lesen wir in „Die schlechte Gewohnheit“, einem Roman, der eindringlich all jene Phrasen Lügen straft, wenn heute von trans* als einem Trend, einem Hype oder von einem Lifestyle-Thema oder von einer „skurrilen Minderheit“ gesprochen wird, wie dies etwa eine Sahra Wagenknecht tut.
Lauren John Joseph, geboren im Norden Englands, nimmt uns mit in eine ganz andere Welt. In lauter subkulturelle Räume, in denen sich queere Gemeinschaften bilden, deren Autonomie jedoch zuverlässig von elementaren existentiellen Fragen durchkreuzt wird. Die Heldin im Roman heißt Bibby, manchmal auch Liza, und lebt in London, aufgewachsen ist sie als Arbeiterkind und kommt aus einfachen Verhältnissen wie die Ich-Erzählerin in Porteros Roman. Die Lust treibt sie ebenso an wie die Liebe zur Bühne und vor allem zum Schreiben. Und so sind die vielen Träume ständige Begleiter in ihrem Leben. Was Bibby von der Figur aus Porteros Roman unterscheidet, das ist ein bemerkenswertes Selbstbewusstsein.
Was die Lust angeht, bleibt es nicht beim Träumen, denn Sex ist leicht zu haben und das wird ausführlich im Roman beschrieben und bleibt ein Dauerangebot. Und wohl auch deshalb ausführlich, weil es schließlich um eine Amour fou geht. Sie ist der Anlass, dass sich Bibby eines Tages hinsetzt und einen 457 Seiten langen Brief (so viel Druckseiten umfasst der Roman) zu schreiben beginnt, und zwar in Erinnerung an jene Amour fou und an jenen Liebhaber, namens Thomas James, dem sie einst galt.
Der ist zu dem Zeitpunkt bereits viele Jahre tot und wird den Brief also nie beantworten. Aber wir Leser*innen erfahren auf diese Weise und in überbordender Ausführlichkeit, wie es im Leben von Bibby während der letzten zehn Jahre aussah. So lange ist es inzwischen her, dass sie Thomas zum ersten Mal begegnete und sich sofort verliebte in die „schlaksige Gestalt, sperrig wie ein Fahrradgestell“, vor dem alle warnen: „Lass die Finger von diesem gutaussehenden Mistkerl.“ Aber wenn man alle guten Ratschläge ernst nähme, wo bliebe dann das Drama im Leben? Stattdessen: „Ich steuerte geradewegs auf dein Bett zu, und das wusste ich.“
Einer ihrer vielen Träume heißt San Francisco, der in Erfüllung geht, als sie Geld für das Flugticket zusammengespart hat. Was die Sehnsucht nach der anderen Seite des Atlantiks angeht, heißt es an einer Stelle: „Mag sein, dass es die Stonewall-Unruhen oder David Hockneys Swimming-Pools, das Bild von Bogie und Bacall, wie sie sich eine Zigarette teilten, oder all die Sitcoms der 90er aus der Konserve waren.“
Das Leben allerdings gibt andere Aufgaben auf, weshalb die Suche nach den Mythen unserer Zeit, von denen die Autor*in hier spricht, am Ende ergebnislos bleibt. Dafür sammelt Bibby Erfahrungen in Sexarbeit und wie es ist, immer wieder schrille Performances in Clubs abzuliefern. Man lebt für die Nacht, auch für die Illusionen, die sie befördert. Wobei Partys für sie wie Atempausen wirken, weil sie stets das Gefühl vermitteln, „dass immer noch alles passieren könnte“.
So grundverschieden die beiden Romane in ihren Erzählhaltungen auch sind, von den Lebensgeschichten ganz abgesehen, die sie ausleuchten, so sehr sind sie Spiegel für das, was Queerness und was trans*Sein alles bedeuten kann. Das Verbindende ist die Sehnsucht nach Wirklichkeit, in der man seinen sicheren Platz hat. Das ist bei Alana Portero nicht anders als bei Lauren John Joseph – das trans*Sein lebt niemand für sich allein, also kommt es immer auch auf die anderen an.
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