„Das Klassische nenne ich das Gesunde …“

Krankheitsbilder in Fontanes erzählter Welt

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

„Die Physik des neunzehnten Jahrhunderts mit ihren bahnbrechenden Erkenntnissen im Gebiete der Mechanik, der Elektrizitätslehre, der Thermodynamik oder der Optik bezeichnen wir heute ohne jeden Bezug zum Weltbild der Antike als klassische Physik – im Unterschied zur modernen Physik der Quantentheorie oder der Relativitätstheorie.[1] Daß die ältere Physik nicht durch die neue abgelöst wird, sondern in gewissen Grenzen ihre Geltung behält, ändert an der Feststellung nichts, daß man solche Unterscheidungen vorgenommen hat.[2] Sie sind weder Zufall, noch sind sie Mode, sondern haben sich offensichtlich als notwendig erwiesen – als Folge eines Umdenkens und einer Veränderung der Denkweise, die man in der Geschichte der Physik als Paradigmawechsel bezeichnet.[3] Ein solches Umdenken gibt es um 1900 auf nahezu allen Gebieten des geistigen und sozialen Lebens. Die Umorientierung hundert Jahre zuvor ist damit vergleichbar, aber anders beschaffen. Um 1800 stehen Ansehen und Geltung der Antike noch durchaus im Vordergrund. In den ,,Querelles des Anciens et des Modernes“ hatte diese Auseinandersetzung begonnen. Schillers Abhandlung ,,Über naive und sentimentalische Dichtung“ wie Friedrich Schlegels Programmschrift ,,Über das Studium der griechischen Poesie“ stehen noch durchaus in dieser Tradition – mit dem Ziel, einer modernen Poesie ihr Eigenrecht zu sichern.[4]

Das von Goethe am Ende seines Lebens eingeführte Begriffspaar – die Unterscheidung zwischen dem Klassischen als dem Gesunden und dem Romantischen als dem Kranken – bedeutet in der Sache nichts Neues; aber neu sind die Ausdrücke und Akzente, die er setzt. Von dem 1829 mit Eckermann geführten Gespräch ist die Rede. Man unterhält sich über die neuesten französischen Dichter und die Bedeutung von klassisch und romantisch; in diesem Zusammenhang heißt es: ,,,Mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen‘, sagte Goethe, ,der das Verhältnis nicht übel bezeichnet. Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen klassisch wie der Homer, denn beide sind gesund und tüchtig. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist.‘“[5] Daß Eckermann dieses Gespräch zutreffend wiedergegeben hat, bestätigen die ,,Maximen und Reflexionen“. Hier wird in apodiktischer Verkürzung wiederholt, was gegenüber Eckermann schon gesagt worden war. ,,Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke“, heißt es nunmehr.[6] Die Wertung zugunsten des Gesunden ist unüberhörbar, und daß Goethe im Gebrauch solcher Begriffe auch an Darstellungen von Krankheitsfällen in der Literatur denkt, geht aus einer Gruppe der Maximen hervor. In ihr wird das Gräßliche in neueren Produktionen beklagt, und Goethe ist der Auffassung, daß uns in diesem Punkt die Engländer und Franzosen noch übertreffen. ,,Körper, die bei Leibesleben verfaulen und sich in detaillierter Betrachtung ihres Verwesens erbauen, Tote, die zum Verderben anderer am Leben bleiben und ihren Tod am Lebendigen erhärten: dahin sind unsere Produzenten gelangt!“ Wenn derartige Erscheinungen in der Antike vorkämen, fährt er fort, so blieben sie auf seltene Krankheitsfälle beschränkt, während sie bei den Neueren endemisch und epidemisch geworden seien.[7]




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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)