Psychiatrie und Literatur um 1830

Zur Vorgeschichte des wissenschaftlichen Zeitalters

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

An Zelter, den Freund seiner letzten Lebensjahre, schreibt Goethe am 6. Juni 1825, nicht ohne Beunruhigung und ein wenig resigniert: „Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten sein einer Epoche die sobald nicht wieder kehrt“ (XX,1/851). Goethe nimmt mit dieser Aussage die Erfahrung eines Epochenwechsels vorweg, der fünf Jahre später offenkundig wird. Auslösendes Ereignis ist die französische Juli-Revolution des Jahres 1830. Mit ihr kehrt die Revolution nach gut vierzig Jahren erneut auf die Bühne der Weltgeschichte zurück. Von diesem Ereignis sind Schockwirkungen ausgegangen; Goethe und Hegel waren tief beunruhigt.

Beide sahen die Welt, der sie sich verbunden fühlten, aufs tiefste bedroht.[1] Die Jüngeren unter den Zeitgenossen haben auf das Ereignis weithin positiv reagiert, und nicht wenige, wie Heine, haben es enthusiastisch begrüßt.[2] Es sind mithin vorwiegend politische Ereignisse, die den Epochenwechsel markieren. So auch hat sie Friedrich Albert Lange in seiner Geschichte des Materialismus kommentiert: „Will man einen bestimmten Zeitpunkt angeben, der sich als Ende der idealistischen Periode in Deutschland bezeichnen läßt, so bietet sich kein so entscheidendes Ereignis dar, als die französische Julirevolution des Jahres 1830.“[3] Aber die genannten Ereignisse sind im Umbruch der Zeit dennoch nur die eine Seite; anderes kommt hinzu, wenigstens in Deutschland. Der Tod Hegels 1831 und derjenige Goethes ein Jahr später haben das Bewusstsein eines Epochenwechsels verstärkt. Nachhaltig wird das Ende der Kunstperiode, wie man sagt, verkündet, und Heine wird nicht müde, sie zu verabschieden. In der 1828 veröffentlichten Rezension eines Buches von Wolfgang Menzel über die deutsche Literatur ist es unmissverständlich ausgesprochen: „Ist doch die Idee der Kunst zugleich der Mittelpunkt jener ganzen Literaturperiode, die mit dem Erscheinen Goethes anfängt und erst jetzt ihr Ende erreicht hat […]“ (I/445), ähnlich im Bericht über französische Maler anlässlich einer Gemäldeausstellung 1831 in Paris: „Meine alte Prophezeiung von dem Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören wird, scheint ihrer Erfüllung nahe zu sein.“ (III/72) In schroffer Diktion wird dieses Ende im Zeichen der Weimarer Klassik von dem Historiker Georg Gottfried Gervinus formuliert: „Unsere Dichtung,“ heißt es hier, „hat ihre Zeit gehabt, und wenn nicht das deutsche Leben still stehen soll, so müssen wir die Talente, die nun kein Ziel haben, auf die wirkliche Welt und den Staat locken, wo in neue Materie neuer Geist zu gießen ist.[4]




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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)