Mobbing, Seilschaften und Gruppendynamik

Kommentar und ein Appell

Von Hartmut RosshoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hartmut Rosshoff

Im Projektbeitrag Marie Luise Gansbergs Weg zum Feminismus. Ein bedrückend später Aufklärungsversuch wird im Anschluss an die Ausführungen zum Forschungskolloquium am Marburger Fachbereich 09 im Wintersemester 1972/73 das Phänomen „Mobbing“ von der Verfasserin mit einer Definition versehen, die Hilfestellung sein will im Hinblick auf das Thema (krankmachende) Negativerfahrungen an Universitäten, gleichsam ein Angebot, sich daran „abzuarbeiten“. Ich nehme die Herausforderung an.

Mobbing im Sinne der erwähnten Begriffsbestimmung hat gegenüber Marie Luise Gansberg nicht stattgefunden. Jedenfalls nicht absichtlich und auf gar keinen Fall vorsätzlich. Wenn wir, die jüngeren Kollegen, sie trafen, waren wir ihr gegenüber sogar sehr wohlwollend, freundlich, tolerant und erwartungsvoll eingestellt. Dennoch war vielleicht die Diskussion im Forschungskolloquium zu heftig, vor allem wenn man Gansbergs Klinikaufenthalt 1972 in Rechnung stellt, von dem ich erst durch dieses Projekt erfahre. Gansberg hatte mit ihrem 1970 veröffentlichten Aufsatz Zu einigen populären Vorurteilen gegen materialistische Literaturwissenschaft eine Kritik geliefert und Umrisse für künftige Themen und Methoden skizziert. Was in der Diskussion m. E. falsch lief, war der Vorgang, dass die Leistung der Verfasserin als selbstverständlich akzeptiert wurde, hingenommen, aber von niemandem erst einmal verteidigt und gewürdigt. Stattdessen wurde der Text dahingehend befragt, ob und wie man denn in dieser Weise vorgehen könne. Diskriminiert wurde Gansberg m. E. nicht, gar nicht. Aber sicher ging die Diskussion kreuz und quer und war reichlich ziellos. (Die nachfolgenden Kolloquium-Vorträge und Diskussionen waren geschlossener, zügiger. Da gab es weniger ein insistierendes Herumraten, was man denn dargelegt bekommen habe.)

Die Verstimmungen und Parteiungen am Institut für Neuere deutsche Literatur gingen eigentlich erst später los, bei Berufungsfragen. An denen hat Gansberg gar nicht mehr teilgenommen, jedenfalls zunächst nicht.

Noch weniger wollte irgendjemand kritische Vorschläge, d. h. Kritik, Themen und Formulierungen von Frau Gansberg, ohne die Quelle zu nennen, stehlen. Ich denke, dass die meisten andere Themen im Kopf hatten als die Kollegin. Freilich wird „geklaut“, sprich werden Abhängige ausgebeutet, ausgenutzt. Aber gerade im neuen FB 09 Neuere deutsche Literatur und Kunstwissenschaften schien mir das nicht der Fall zu sein. Es wäre unter unserer Würde gewesen, wir waren zu stolz dazu. Außerdem waren die Dozenten (Zeit-Professuren) von Anfang an keinem Ordinarius zugeordnet. Sie waren  n u r  dem FB insgesamt gegenüber verantwortlich für ihre Lehre und in der Forschung waren sie ziemlich frei. Es waren also recht ideale Bedingungen. (Dennoch kann es auch unter solchen Voraussetzungen zu Ideenklau kommen.) Hinzu kommt, dass wir, d. h. die meisten Kollegen, die spezifischen Themen und Anliegen von Gansberg gar nicht richtig wahrgenommen haben. Kurzum, es fehlte insgesamt ein wenig die Kenntnis (auch das Interesse?) von dem, was denn der andere oder die eine andere (Gansberg) inhaltlich und methodisch machten. Es war eher unsere Unaufmerksamkeit und dann das heftige ratlose Herumdiskutieren, das damals möglicherweise Frau Gansberg erschreckte. Also nicht vorsätzlich böser Wille, nicht gezieltes Mobbing, um sie von irgendetwas wegzudrängen. Nochmal: Wenn eine Kritikerin feststellt, dass das Gebäude schief steht, darf nicht gleich von ihr verlangt werden, stante pede einen durchschlagenden Plan zu liefern, wie alles besser zu richten sei. Denn dazu waren wir ja alle aufgerufen. Sicher, es gab eine laute anspruchsvolle teilweise Sprachlosigkeit vieler Statements, welche Gansberg sicherlich ziemlich überfahren hat.  D a s  meinte ich, als ich sagte, wir hätten ihren Aufsatz genauer kennen und erst einmal heftig verteidigen müssen. Und nicht gleich die Autorin damit überfallen dürfen, welche Strategie sie denn nun einzuschlagen vorschlägt. Solches Ansinnen würde jeden überfordern und überfahren.

Ich denke schon, dass im derzeitigen Hochschulbetrieb jeder sich selbst der Nächste ist und um im unerbittlichen Konkurrenzkampf nicht unterzugehen, ergeben sich oft Seilschaften. Weh dem, der keine findet. Nachdem ich mein ganzes Leben lang unterrichtet habe und viele Kollegien kennen gelernt habe, muss ich feststellen, dass  die wenigsten  mit der je vorhandenen Gruppendynamik fertig werden. Man weiß, wie grausam bis hin zu Tötungsakten Sekten (religiöse und politische, die alles immer gut meinen) sein können.

Auch bei uns am FB 09 herrschten die unausgesprochenen Hierarchien. Aber sie wurden nicht thematisiert. Ich denke, dass keine gut funktionierende Firma heutzutage sich eine derartig bodenlose Gedankenlosigkeit gegenüber dieser elementaren und oft destruktiven (lähmenden), manchmal auch explosiven Energie leisten würde. Wir haben damals in keiner Weise an so etwas gedacht. Aber die Literatur ist voll davon, siehe Judith Schalanski Der Hals der Giraffe (deutsches Gymnasium) und John Williams Stoner (amerikanische Universität).

Bisher habe ich nur ein einziges Mal dieses Problem halbwegs gelöst gefunden, nämlich durch die Doppel-Klassenlehrer/innen an der Schweizerischen Oberstufe, Volksschule. Dadurch, dass man zu zweit war und gut bezahlt noch dazu, fiel die Angst weg, wenn es wegen Dissens oder Konflikt zu klärenden Gesprächen kam.

Nicht Sentimentalität und auch nicht aggressive Wortgefechte, sondern gelassene bis heftige Aussprache ohne Drohung von Jobverlust, sodann klare Regeln des Diskutierens (einander mit Achtung begegnen, aktives Zuhören, Fehlertoleranz, Rücksichtnahme) können abhelfen. Jedenfalls ein wenig. Wie Institutionen, die es „gut“ meinen und „für das Gute“ (= für eine Moral der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit, für Gott) zuständig sein wollen, versagen, zeigen die in vielen Ländern aktenkundig gewordenen schauderhaften Übergriffe in der römischen Kirche (und nicht nur in der römischen). Es muss da ein Handlungsbedarf vorliegen, was die Gruppendynamiken und die Herausbildung eines abgehobenen Elitebewusstseins – oder wie soll man dieses Thema nennen? – betrifft. Das Ganze ist ein eminent  politisches Thema. Die Erde und jedes Land, jede Zivilisation, ist voll von Tyrannen. Das zu entschärfen, damit sind Zeit und Kraft verbunden. (Gesetze! Aussprache! Öffentlichkeitsarbeit!)