In eigener Sache

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Hamburg, den 19.9.19  

Liebe Frau Koloch,

haben Sie herzlichen Dank für all die interessanten Informationen. Ihr Forschungsdrang beeindruckt mich sehr. Er ruft Erinnerungen wach an einen ad acta gelegten stürmischen Abschnitt in meinem Leben. Ich denke, für einen längeren Beitrag zu Ihrem Webprojekt komme ich nicht in Frage, auch weil die Vorgänge für mich doch sehr weit zurückliegen. Im Übrigen war ich damals eher ein Einzelgänger und Einzeltäter und hatte zu den Protagonisten der Germanistenrevolte nur einen lockeren Kontakt. Ich sende Ihnen anbei meine Autobiografie, in der Sie manches nachlesen können, und nenne Ihnen vorweg die Beiträge, mit denen ich mich damals zu Wort meldete. Das ist vor allem mein Porträt des Germanisten Benno von Wiese, erschienen in Karl-Heinz Deschners Sammelband Wer lehrt an deutschen Universitäten? (1968). Darauf hat der Beschuldigte in Ich erzähle mein Leben (1982) geantwortet. Auch der Hamburger Hoftheologe Helmut Thielecke setzte sich in seinen Erinnerungen Zu Gast auf einem schönen Stern (1984) mit meiner Kritik auseinander. In der Geburtstagspresse in Mainz ist 1968 meine Broschüre Asphalt-Literatur. Zum Verständnis einer SDS-Ästhetik erschienen. Ich war von 1966 bis 1969 Mitglied des SDS in Hamburg und vertrat unsere Gruppe auch regelmäßig auf den Delegiertenkonferenzen in Frankfurt an Main. Wir gehörten nicht zum „antiautoritären“ Flügel, sondern zu den „Traditionalisten“ und wurden als „DFU“-Leute eingestuft: DFU gleichbedeutend mit „Die Freunde Ulbrichts“. Mit Karl-Heinz Fabig, unserem Vorsitzenden, wie ich Mitglied der illegalen KPD, war ich gut befreundet. Wir hatten uns zusammen in der Hamburger Hilfsaktion Vietnam engagiert.

Doch jetzt will ich versuchen, Ihre Fragen der Reihe nach zu beantworten, sofern und soweit ich das überhaupt kann. An den Germanistenkongress in München 1966 erinnere ich mich nur noch ziemlich vage. Ich war damals Assistent bei Karl Ludwig Schneider und wir sind mit einer größeren Hamburger Delegation zusammen mit dem Zug nach München gefahren. Trotz aufkommender Meinungsverschiedenheiten verstanden wir uns gut. Wir waren noch nicht in Fraktionen zersplittert. Paul-Gerhard Völker lernte ich in München und auch anderswo nicht kennen.

Mein Beitrag in der Welt, die damals noch nicht so stramm rechts war wie später, ist so zustande gekommen: Bevor ich zu Schneider in der Neueren deutschen Literaturgeschichte gekommen bin, war ich in der Älteren Abteilung Assistent bei Ulrich Pretzel, einem Germanisten alter Schule. Sein Bruder war niemand anders als Sebastian Haffner, der in der Nazizeit nach England emigriert war und 1965 im Nannen-Verlag die Streitschrift Die sieben Totsünden des Deutschen Reiches veröffentlichte. Im Hause Pretzel wurde fast jeden Abend heftig gestritten, linke und rechte Publizisten kreuzten sich die Klingen. Einer von ihnen war der Welt-Redakteur Günter Zehm, der sich später zu einem rechten Scharfmacher entwickelte. Nach einem dieser Streitgespräche gab mir Zehm den Auftrag, einen Artikel zur Kontroverse innerhalb der Germanistik zu schreiben. Ich tat das natürlich gern und wenig später stand mein Beitrag in der Zeitung. Über meinen Anteil an den Studentenprotesten können Sie in meinen Lebenserinnerungen einiges nachlesen. Aus heutiger Sicht erscheint mir vor allem meine Teilnahme am Sturz des Kolonialdenkmals vor der Hamburger Universität wichtig. In diesem Jahr wird die hiesige Uni, die als deutsches Kolonialforschungsinstitut gegründet wurde, hundert Jahre alt, und darum nehme ich in diesen Wochen an etlichen Veranstaltungen teil, die sich mit der Entkolonialisierung nicht nur der Hochschule befassen.

An Marie Luise Gansberg kann ich mich gut und gerne erinnern. Ja, sie war Gast auf unserer Hochzeitsfeier. Agnes Hüfner und ich heirateten am 27. Dezember 1968 und unsere Feier zog sich bis zur Silvesternacht hin. Wir wohnten damals allein in einer geräumigen Altbauwohnung und meine Schriftstellerkollegen Uwe Friesel und Uwe Wandrey hausten neben und unter uns. So hatten wir keine Mühe, unsere auswärtigen Gäste auch über Nacht unterzubringen. Im Grunde waren diese Tage so etwas wie ein entspanntes Theorieseminar über Fragen der Liebe, der Ehe und der Sexualität. Wozu heiraten? War die Ausgangsfrage. Wir hatten auf unsere Einladungskarten nur geschrieben: „Wir wollen in Zukunft noch enger zusammen arbeiten.“ Genossin Gansberg beteiligte sich rege an unseren Debatten und sprach sich unmissverständlich für die lesbische Liebe aus. Meine schwulen Freunde aus dem Kreis um konkret reagierten eher abweisend. Unsere Ehe hielt leider nicht sehr lange. Wir hatten uns auf eine Beziehung ohne Eifersucht und Besitzansprüche verständigt, doch in der Praxis ging das gründlich schief. Agnes bestand auf einer gleichberechtigten Beziehung zu meinem ziemlich besten Freund, zu Peter Maiwald, dem Lyriker, mit dem ich „Agitpropgedichte“ um die Wette schrieb. Das konnte ich nicht länger ertragen, und so endete diese Dreiecksbeziehung schließlich schmerzhaft für alle Beteiligten. Auch mein Kontakt zu Marie Luise Gansberg ist danach abgebrochen.


    

Die „erste größere Anthologie politischer Lyrik in der Bundesrepublik“, Vorder- und Rückseite des Exemplars von Eva D. Becker, Aufnahmen: Sabine Koloch

Agnes Hüfner und ich waren nicht nur Gründungsmitglieder der DKP 1968, sondern schon Mitglieder der verbotenen KPD. Ich gehörte zur Kulturzelle der Hamburger KPD, Agnes zur Kulturzelle der KPD in Köln. Diese wurde von André Müller geleitet, der gleichzeitig Vorsitzender des abb, des Arbeitskreises Bertolt Brecht, war. Wichtige Anregungen bekamen wir von unseren Genossen aus der DDR, von Germanisten wie Ursula Reinhold, Hans-Joachim Bernhard und Klaus Ziermann. Außerdem hatte Agnes aufgrund ihrer Doktorarbeit gute Kontakte zu französischen Germanisten, vor allem zu André Gisselbrecht aus Nanterre. Er war Vorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Frankreich-DDR und machte auf der Reise nach Ostberlin gern bei uns in Hamburg Station. Agnes konnte sehr gut Französisch. Zusammen mit Ihrer Schulfreundin Bernhild Boje, die in Paris Romanistik und Germanistik studierte, erkundete sie Frankreich regelmäßig. Sie hat Cohn-Bendits bei Rowohlt erschienenes Taschenbuch Linksradikalismus ‒ Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. „Dany“ wohnte damals zwei Wochen bei uns. Im Grund hat er seiner Übersetzerin das Buch aus dem Stegreif diktiert, weil es gar kein französisches Original gab. Da der Band aber reichlich schmal war, sind später noch ein paar Ergänzungen hinzugekommen. Sie wurden von Traugott König verdeutscht, dem wunderbaren Sartre-Übersetzer, der ganz in unserer Nähe Zuhause war.

Sie erwähnten Uwe Timm und seinen Roman Heißer Sommer. Uwe Timm lebte damals auch ganz nahe von unserer Wohnung in Eppendorf, und wir sahen uns fast jeden Tag. In seinem Roman verarbeitete er meinen Denkmalsturz und meine Versuche, mithilfe von Agitpropgedichten die Arbeiter bei Kampnagel zum Streik zu motivieren, ironisch. Kennen Sie Ulla Hahns Dissertation Literatur in der Aktion? Zur Entwicklung operativer Literaturformen in der Bundesrepublik? Da geht es um die 68er-Literatur. Und kennen Sie Edith Otremba? Sie war mit mir zusammen Assistentin bei Schneider, ist dann nach Nigeria gegangen und gründete unter ihrem Ehenamen Ihekweazu den Verband Afrikanischer Germanisten.

Über Karl Ludwig Schneider gäbe es eine Menge zu erzählen. Er gehörte zur Weißen Rose, war aber ein schwieriger Mensch und hatte ein Alkoholproblem. Zum endgültigen Bruch kam es, als ich von A bis Z eine Auswahl aus Klopstocks Oden für Reclams Universalbibliothek zusammenstellte, während das „tapfere Schneiderlein“ sich in den USA aufhielt. Die fertige Anthologie veröffentlichte der Herr Professor ‒ mich nicht erwähnend ‒ unter seinem Namen. Ich veranstaltet daraufhin in der Universitätsbuchhandlung eine Signierstunde und verzierte die Reclamhefte mit der Widmung „mit herzlichen Grüßen vom Herausgeber Peter Schütt“.

Ich grüße Sie, liebe Kollegin Koloch, in herzlicher Verbundenheit und wünsche Ihnen gutes Gelingen für Ihr spannendes Forschungsprojekt.

Wenn Sie mehr Fragen haben, melden Sie sich bitte.

Alles Gute!

Peter Schütt

 

Nachweis zum Foto oben rechts: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Barbara Morgenstern, http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/71225376.

Peter Schütt in einer Mail an die Herausgeberin vom 11.10.2019: „Im Hintergrund rechts sehen Sie unübersehbar die MEGA, die Marx-Engels-Gesamtausgabe. Das Bild ist im August 1973 entstanden, während der Weltjugendfestspiele in Ostberlin, anlässlich einer Lesung aus meinem Vietnambuch in der Bibliothek des Eisenbahnausbesserungswerkes in Berlin-Treptow.“