Streit um das Erbe der Brüder Grimm

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Quellennachweis: Peter Schütt: Streit um das Erbe der Brüder Grimm. Germanisten überprüfen die Methoden ihrer Disziplin ‒ Tagung des Fachverbandes in München, in: Die Welt Jg. 21, Nr. 251, 27.10.1966, S. 9.

 

Streit um das Erbe der Brüder Grimm

Germanisten überprüfen die Methoden ihrer Disziplin – Tagung des Fachverbandes in München

 

            Eigenbericht der WELT

                        München, im Oktober

Der „Geist von München“, der in der Ansprache von Rudolf Henß zum Abschluß des Deutschen Germanistentages, zu dem in der vergangenen Woche über tausend Delegierte aus dem In- und Ausland in die bayrische Landeshauptstadt gekommen waren, dankbar gerühmt wurde, war insofern vom „Willen zur Versöhnung und Eintracht“ gekennzeichnet, als es der Behutsamkeit aller Vortragenden und Diskussionsteilnehmer gelungen war, die von manchen Beobachtern erwartete Spaltung des Verbandes zu verhindern. Eine Gruppe jüngerer Ordinarien hatte im letzten Jahr mit dem Austritt aus der Vereinigung gedroht, falls die Leitung sich nicht entschließen könnte, das Thema der Kollaboration der Germanistik mit dem Nationalsozialismus auf das Programm der nächsten öffentlichen Tagung zu setzen.

Das „heiße Eisen“ war freilich dadurch abgekühlt, daß man auf den Veranstaltungskalender neben Vorträgen und Debatten über die nationalistischen Verfehlungen des Faches ebenso viele Referate zum nationalem Gedankengut in der schönen Literatur gesetzt hatte, offiziell, um das Treffen auch für die Vertreter der Schulen interessant zu gestalten.

Umstrittene Autoritäten

Benno von Wiese, der Vorsitzende des Verbandes – da er auf eine weitere Kandidatur verzichtete, wurde er in der Neuwahl von Karl Heinz Borck, Hamburg, einem der Frondeure, abgelöst – hatte sich in seiner Eröffnungsrede unmißverständlich zu den Traditionen der deutschen Germanistik bekannt – eben den Traditionen, die Eberhard Lämmert und Karl Otto Conrady anschließend unter ideologiekritischen Aspekten von den Anfängen in der Frühromantik bis zur ihrer großen Stunde im Dritten Reich verfolgten.

Beide Referenten redeten keineswegs einer verspäteten Entnazifizierung das Wort, sondern bemühten sich sorgfältig, alle persönlichen Angriffe zu vermeiden; auf moralische und politische Wertungen verzichteten sie ebenso bewusst. Trotzdem reagierten die meisten Angehörigen der älteren Generation ausgesprochen gereizt und antworteten mit Ausflüchten und Rechtfertigungsversuchen.

Im Streit um die Integrität einzelner Autoritäten – Anwesende waren selbstverständlich ausgenommen – und in nutzlosen Disputen über die Frage, inwieweit die inkriminierten Werke durch Terror und Zensur erzwungen worden seien, scheiterte jeder Versuch zu einer unbefangenen Selbstprüfung der Germanistik hinsichtlich ihrer Methoden, ihrer Vorurteile und ihrer chauvinistischen Vergangenheit. Die Diskussion um das deutschwissenschaftliche Selbstverständnis ist in Ansätzen steckengeblieben. Sie beschränkt sich vorerst auf den Austausch von Deklarationen und private Lehrer-Schüler-Kontroversen.

Lämmert hatte ausgeführt, daß die verhängnisvolle Ideologisierung der deutschen Sprach- und Literaturkunde schon bei Herder und Schiller eingeleitet wurde. Bei den Romantikern mußte die Sprache das ersetzen, was anderen Nationen der Staat bedeutet: das nationale Bindemittel. Sie wurde deshalb mit dem Geist, dem Wesen und der Würde des Volkes schlechthin gleichgesetzt. Weil sie als „reinster Abkömmling der indogermanischen Ursprache“ allen Nachbarsprachen überlegen galt, erhielt sie eine Art naturrechtlicher Weihe und wurde zum „Zeugnis wahren Seelenadels“, eine Tendenz übrigens, die bereits von Goethe, wie Hans Joachim Schrimpf in seinem geistreichen und engagierten Vortrag über den Begriff der Weltliteratur erläuterte, mit Kritik und Polemik registriert wurde.

Mit der Begründung des Wilhelminischen Reiches konnte die Deutschkunde zum erstenmal die „Volkwerdung des deutschen Geistes und die Geistwerdung des deutschen Volkes“ feiern. In den Schulbüchern beginnt mit der Verherrlichung des Krieges von 1870/71 das, was Walther Killy in seinem Vortrag zur Geschichte des deutschen Lesebuches die „Abdankung der Aufklärung, die Austreibung der Vernunft aus dem Tempel der Poesie“ nannte. Nach Killy führte in den amtlich lizenzierten Anthologien, in denen sich der Öffentlichkeitsanspruch der Germanistik am sichtbarsten dokumentiert, ein gerader Weg vom Zweiten in das Dritte Reich: „Die Demokratie hatte auch in der Weimarer Zeit im Schulbuch keine Chance“.

Die Deutschtümelei des Nationalsozialismus ist den Ausführungen Conradys zufolge nicht unvermittelt in die germanistische Philologie eingebrochen, sondern wurde von ihr geistesgeschichtlich vorbereitet. Sie wurde deshalb nach der Machtergreifung als eine Art offizielle Staatsreligion in das nationalsozialistische Herrschaftssystem eingegliedert. Die Deutschwissenschaft, mobilisiert gegen Intellektualismus, Zivilisationsliteratentum und Defätismus, wurde zu einer „Wesenslehre“, zur „Geist- und Seelenkunde“ und „Erzieherin zur Deutschheit“ erhoben.

Die anwesenden Hochschulgermanisten distanzieren sich im allgemeinen von einer metaphysischen Selbstüberschätzung ihrer Disziplin. In den Aussprachen und den Arbeitsgemeinschaften meldeten sich dagegen Deutschlehrer zu Wort, die sich – wie der wiedergewählte Vorsitzende der Schulabteilung des Gesamtverbandes Henß – über Pläne, den Deutschunterricht dem Englisch- oder Französischunterricht lehrplanmäßig gleichzuschalten, entsetzten und forderten, daß die Muttersprache „Kernfach“ bleiben müsse.

Berufung auf Irrationales

Die Studienräte suchten den „ganzen Menschen“ zu ihrer Sache zu machen und erklärten die Fachwissenschaft zur „Grundwissenschaft“, zur „erzieherischen Mitte“ und zum „Integrationspunkt in einer desintegrierenden Welt“. Als zentrales Mittel der „ganzheitlichen“ Ausbildung erscheint ihnen der Besinnungs-, besser wohl Gesinnungsaufsatz.

Ein Oberschulrat protestierte gegen die „einseitige Bevorzugung des Rationalen, bloß Kritischen und sogenannten Intellektuellen“ und ermunterte zur „Weckung des Gemütes und des Gefühls“. Wie sehr diese Einstellung eines nicht geringen Teils der Lehrerschaft den behördlich genehmigten und empfohlenen Unterrichtstexten entspricht, zeigte Wilhelm Pielow in einer Analyse heutiger Lesebuchtexte: Ihre Einstellung zu nationalen Zuständen und Vorgängen kehrt die Haltung der zeitgenössischen Dichtung zu politischen Tagesfragen ins genaue Gegenteil.

Peter von Polenz stellte in seinem Referat über „Sprachpurismus und Nationalsozialismus“ die grotesk-komische Geschichte des Deutschen Sprachvereins dar. 1933 wurde er zur „SA unserer Muttersprache“ befördert, um vier Jahre später von Goebbels mit der Entdeckung, daß der Begründer der Sprachreinigungskampagne, der Positivist Erich Engel, Jude gewesen sei, übertölpelt zu werden. Damit wird der rigorose „Feldzug wider alles Undeutsche, zur Vertilgung der Sprachwelscherei und Ausmerzung aller jüdischen und bolschewistischen Fäulnisherde“ umgelenkt in eine „Bewegung für die übervölkischen Aufgaben des Deutschtums“, der fremdwortfreudige Führer wird zum „obersten Sprachschöpfer“ kreiert.

Der Referent hatte den Mut, auf methodische Relikte hinzuweisen. Er nannte die Einteilung des Wortbestandes in Erb-, Lehn- und Fremdwörter und stellte fest, daß die Philologie noch immer nach der mythologischen Ableitbarkeit der Stämme aus dem Indogermanischem frage, ohne die sprachsoziologische Zugehörigkeit und die synchronisch-strukturelle Einordnung der Vokabeln zu untersuchen.

Keine klare Entscheidung

Seine Forderung nach der Entmythologisierung der Sprachkunde fand nicht die Zustimmung eines einzigen Fachkollegen – ebensowenig wie es in der neueren Abteilung einer unerschrockenen Studienassessorin gelang, die Koryphäen zu einer Diskussion über die methodologischen und weltanschaulichen Voraussetzungen der „werkimmanenten Interpretation“ zu bewegen.

Hugo Kuhn, Direktor des gastgebenden Seminars, versuchte in einem Vortrag über Walther von der Vogelweide mit der These, daß zwischen nationalen und nationalsozialistischen Auffassungen ein grundsätzlicher Unterschied bestehe – welcher, blieb allerdings unklar – unter den Parteien zu vermitteln. Statt eines entschiedenen Für und Wider gab er mit versöhnendem Einerseits-Andererseits sowohl den „Moralisten“ als auch den „Historikern“ recht und rettete so, indem er den Germanisten ihre schwerste Last abnahm, die Pflicht zu einer eindeutigen Entscheidung, die Einheit des Verbandes.

Die viel beschworene Einheit kam schließlich auch darin zum Ausdruck, daß die akademischen Vertreter in einer gemeinsamen, hinter verschlossenen Türen ausgeheckten Resolution die Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums[1] zumindest als Diskussionsgrundlage akzeptierten.

Die Vorträge von Max Wehrli über den Nationalgedanken im Humanismus, von Gerhard Kaiser über Klopstock als Patriot und Walter Müller-Seidel über Fontane und Bismarck trugen wesentlich dazu bei, das Reizklima des Germanistentags zu entspannen und zu entpolitisieren. Ihr hohes wissenschaftliches Niveau wurde allerdings mit einer selbstgenügsamen, um nicht zu sagen selbstgerechten Reduktion auf die reine Philologie bezahlt. Der elfenbeinerne Turm wurde ritterlich verteidigt.

 Peter Schütt

 

[1] Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen. Verabschiedet in der Vollversammlung des Wissenschaftsrates am 14. Mai 1966, [Bonn] Bundesdruckerei 1966. Vgl. die Online-Ausgabe der Universitätsbibliothek Paderborn, URL: http://digital.ub.uni-paderborn.de/ihd/content/titleinfo/419929 (2012). Anmerkung der Hausgeberin.