25.-30.1.2018 – Ein Tag in Timia

25.1.2018

Heute bin ich in den Wald hinauf geflohen, und das war gut. Da komme ich von hinten in dem Garten zurück.
Ich mache den Mönch am Weiher frei, damit das Wasser ablaufen kann, und sehe: Hier können Wolken schwimmen. Vielleicht nehme ich die Bank aus dem Wald, auf der ich nicht mehr sitze, weil man so wenige Vögel hört, und stelle sie an den Weiher. Und eine Traubenkirsche werde ich auf die Insel pflanzen, wo der Biber den großen Strauch geholt hat, der so schön geblüht hat. Jetzt tun das gerade die Schneeglöckchen.
Und die beiden Birken brauchen eine dritte, wie früher, ganz früher, als alles hier anfing.
Hilflose Versuche zur Besänftigung – oder eine Übersprunghandlung. Wenn du nicht bekommen kannst, was du willst, was du brauchst, musst du irgendwas machen, um irgendwas zu machen. Wie die Katze, die sich kratzt, wenn der Vogel wegfliegt.

Später, schon lange wieder hier, habe ich Kindern, die den Bunten Hund gelesen haben, von Timia in Niger erzählt: 

 

2000

Ein Tag in Timia

Eine Oase im Herzen der Sahara: in Niger

Niger ist ein Wüstenstaat mitten in der Sahara. Das Land besteht zu 80 % aus Wüste und Sahel-Steppe, nur in dem schmalen Streifen im Süden ist Landwirtschaft möglich. Von Niger hören wir meistens im Zusammenhang mit Katastrophen: Hungersnöte wegen Trockenheit bedrohen Menschen und Tiere. Als vor zwei Jahren die Hirse gerade zu wachsen begann, fielen Heuschreckenschwärme darüber her und vernichteten auf ihrem Weg von Tschad nach Mali und Senegal eine ganze Ernte. Jetzt bedroht die Vogelgrippe das Geflügel wie schon im Nachbarland Nigeria. Die Tuareg sind ein Nomadenvolk, das auch in Mali und Algerien lebt. Ein Zentrum ist die Bergoase Timia.

Tagelang haben wir nichts als Sand und Steine, Felsen und wieder Steine gesehen. Wir kommen aus den blauen Bergen des Air-Gebirges, das sich in dem leeren Land, der Ténéré, aufbaut, der großen Wüste im Herzen der Sahara. Nach einer stillen Nacht in der Wüste sind wir am frühen Morgen aufgebrochen und im Geländewagen holpernd weiter nach Süden geschüttelt worden, als wir nach zwei Stunden auf einer Höhe von über 1000 Metern wie ein Wunder Grün vor uns sehen: Palmen und wieder Palmen! Das ist Timia, die Bergoase.

Die Bäume und Büsche werden immer zahlreicher, sie sind von saftig grünen Feldern umgeben. Beim Näherkommen entdecken wir in den Bäumen leuchtende Orangen und riechen den Duft von Zitronenblüten. Wir folgen dem Duft und stehen bald mitten in den Gärten der Oase. Wasser läuft plätschernd durch schmale Gräben zwischen üppig grünen Äckern, auf denen Orangen, Zitronen, Pampelmusen, Melonen, Gurken und Tomaten reifen. Woher kommt das Wasser?
Wir folgen seinem Lauf, überqueren manche Verzweigung und stehen schließlich vor einem großen Holzgestell über einem runden Brunnenloch. Daneben trabt ein Ochse, um dessen Hals ein Seil gebunden ist. Dieses Seil läuft über eine eingekerbte Holzrolle auf einer Querstange des Brunnengestells. An sein Ende ist ein schwarzer Gummisack gebunden, der in den Brunnen fällt, wenn der Ochse näherkommt, und voll Wasser von ihm wieder heraufgezogen wird, wenn er sich entfernt. An der Stange kippt er um und das Wasser fließt in eine Ablaufrinne, die gibt es in die dafür angelegten Furchen weiter. Ein Junge von etwa acht Jahren treibt den Ochsen an, indem er ihn mit einem Stock auf seine Knochen schlägt. Manchmal macht diese Arbeit auch ein Kamel, dann müssen Männer das Tier antreiben, es wäre für Hama viel zu groß.
Hama heißt der Junge, das sagt er mir, als ich ihn ein Stück begleite, sonst spricht er Tamaschek, er ist ein Tuareg. Für die Schule, wo er Französisch lernen könnte, hat er keine Zeit. Er geht jeden Tag von morgens bis abends mit dem Ochsen, um die Plantage in der Trockenzeit zu bewässern. Und das ist fast immer. Nur dann, wenn es kräftig regnet, hat Hama frei. Aber sicher ist das nie. Es hat manchmal schon jahrelang keinen Regen gegeben, dann wurde es für die Menschen und die Tiere gefährlich. Wenn es zwei- oder dreimal regnet, ist es ein gutes Jahr.
Das Geld, das Hama verdient – am Tag 500 FCfA, das sind etwa 80 Cent – gibt er seiner Familie. Es sind Nomaden, sie haben ihr Lager in der Wüste und gehen mit den Tieren immer dorthin, wo diese noch etwas zu fressen finden. Oft lassen die Eltern ihre Kinder nicht in die Schule gehen, weil sie sie für die Arbeit brauchen und die Schule zu teuer ist.

© H. Tarnowski

Nach der trockenen Zeit in der Wüste, sind wir glücklich über frisches Obst und Gemüse und kaufen ein. Käufer sind hier immer gerne gesehen, es sind wenig genug, die Timia besuchen. Am Auto wartet schon eine Frau mit einem Kind auf dem Arm – eine Targia – und hält uns auf einem runden geflochtenen Tablett feinen weißen Ziegenkäse entgegen. Jetzt fehlt für ein Mittagessen nur noch das Brot.
Wir fahren weiter ins Dorf und finden unseren Platz in einem großen Hof. Nachdem wir abgeladen und ausgepackt haben, mache ich mich auf den Weg, um Brot zu suchen.
Ich gehe im Sand, die Wege führen zwischen niedrigen, verschachtelten Lehmhäusern durch. Kinder laufen mir entgegen, Frauen begrüßen mich. Ungefähr 3000 Tuareg leben in Timia. Ich sehe einen Lehmofen, aber er ist kalt. Wo ist das Brot? Ich frage eine Frau, deute mit Gesten auf den Ofen und sie weist mir den Weg zu einer Boutique, so heißen die kleinen Läden, in denen es alles gibt: Tee und Zucker, Seife und Rasierklingen, Streichhölzer und Stoffe und… Brot. Der Verkäufer hebt ein Tuch von einer Schüssel: Kleine Fladen liegen darin.
Eine Frau zeigt mir stolz ihr Baby. Sie trägt es nicht fest in einem Tuch auf den Rücken geschnürt, wie es die Frauen sonst überall in Afrika tun, sondern in einem zusammengeknüpften Ledertuch um Hals und Schulter gehängt.
35 Grad am Mittag. Heißer, trockener Wind. Wenn er für einen Moment anhält, hört man das Summen der Fliegen. Ein Windstoß wirbelt Sand auf, als pustete ein Riesenmund eine Sandwolke über uns. Mit einem einzigen Atemzug ist es wieder vorbei.
Mittag am Brunnen. Eine ganze Herde junger Ziegen springt über unseren Essplatz. Ein paar Frauen in blauen Gewändern und Kinder sammeln die trockenen Früchte der Tamarinde als Futter für die Ziegen. Mädchen ziehen Wasser herauf und füllen damit Ledersäcke aus getrockneten Ziegenfellen. Zwei gehen mit Eseln davon, einem ist ein schwarzer Gummischlauch mit Wasser unter den Bauch gebunden. Die Fünfjährige reitet auf dem Esel nach Hause zum Lager, die Achtjährige treibt den anderen Esel mit einem Stock an. Die Hitze flimmert über dem Sand. 
Am Nachmittag sind wir bei Manked, dem Targi, der uns begleitet hat, zum Tee in seinem Zelt am Rand von Timia eingeladen. Auf dem Weg zu ihm begegnen wir einer Kamelmutter mit ihrem 1-2 Wochen alten Kind, das noch unter den Bauch der Mutter passt.
Als wir im Lager ankommen, klatschen wir vor Mankeds Zelt in die Hände, so hat sich jeder Besucher anzukündigen. Wir erkennen Manked kaum wieder, denn er hat seinen Schleier abgelegt, den Tagelmust, die traditionelle Kopfbedeckung der Männer, die um den Kopf gewickelt wird und auch Nase und Mund bedeckt. Für einen Targi schickt es sich nicht, Fremden das entblößte Gesicht zu zeigen. Mankeds Gesicht hat einen blauen Schimmer von der Indigofarbe seines Schleiers. Nicht umsonst nennt man die Targi „die blauen Männer“. Mit der Länge von über vier Metern ist das Tuch auch ein guter Schutz gegen Sonne, Wind und Sandsturm.
Wir geben uns zur Begrüßung die Hand, streichen die Handflächen aneinander, dreimal, viermal, dabei fragt man nach der Familie, der Gesundheit, der Arbeit, dann erst folgt ein Händedruck.
Wir sitzen im Zelt auf Teppichen, die auf den Sand gelegt sind. Manked hat die Schule besucht, er weiß, dass er Vorteile davon hat, wenn er sich mit Fremden verständigen kann, und jeder ist besser angesehen, der in der Schule war. So will auch er einmal seine Kinder in die Schule schicken, auch wenn sie dafür bei der Großmutter im Dorf bleiben müssen.
Ich will ein paar Wörter wissen, die ich vorhin gebraucht hätte. Was heißt bitte: Guten Tag und Wie geht’s? – Ayuan, sagt er, und Matolam. Er schreibt ein Zeichen in den Sand. Es sieht wie ein Bild aus und ist Tifinaq, die Tuaregschrift. Danke – Tanemerd.
Wir wollen noch wissen, was wir gehört haben, wenn die Männer mit ihren Kamelen sprachen, es klang wie: Tekeli!!  – Haiwa! Aio. – Los geht’s! – Geh weg! – Komm herübersetzt Manked. Ach so.
Beim dritten und süßesten Gläschen Tee erzählt er eine Geschichte vom Schakal, der eine Hyäne austrickst und auffrisst. Darüber lacht er laut. Wie immer, wenn einer den Schaden hat.
Dann spricht Manked vom Leben der Nomaden. Im Haus oder Zelt hat der Mann nichts zu sagen, draußen alles. Die Dinge, die er nach Hause bringt, verwaltet die Frau. Hausarbeit wird ein Mann niemals tun. Aber jeder Targi muss kochen können, weil er oft wochenlang mit den Kamelen oder, wie Manked, mit Touristen unterwegs ist.
Der hat sich um die Herden von Ochsen und Kamelen zu kümmern, die Kamele zu holen, zu dressieren, zu kaufen und zu verkaufen. Die Frauen versorgen und verkaufen die Ziegen, Schafe und Kühe. Esel sind einfach nur da. Man braucht sich nicht um sie zu kümmern, sie machen keine Mühe, man kann sie immer arbeiten lassen.
Und nun folgt eine Farbenlehre der Tiere: Weiße Kamele sind am wertvollsten. Auch weiße Schafe und Ziegen sind gut. Schlecht sind dagegen weiße Esel, sie sind dumm und blind. Aber schwarze Esel und Hunde und vor allem Pferde sind etwas ganz Besonderes. Schwarze Schafe und Ziegen dagegen nicht. Sie sind schlecht wie bei uns?
Es gibt große Probleme in den Lagern. Wenn das Wasser knapp wird und der Brunnen, in dessen Nähe man das Lager aufgeschlagen hat, auch bei wiederholtem Schaben mit dem Gummibeutel nur noch eine Handvoll schmutziges Wasser hergibt. Das kann von einem Tag auf den anderen so weit sein. Dann müssen die Frauen mit den Eseln zum nächsten Brunnen laufen, der oft ein paar Stunden entfernt ist. Und das Lager muss den Umzug zu einem anderen Platz, wo es noch Wasser gibt, vorbereiten. Drei Tage dauert allein der Aufbau eines Zeltes aus Ästen, starken Astgabeln und Strohmatten. Je weniger Wasser es gibt, umso häufiger werden Krankheiten. Und die nächste Krankenstation ist weit weg.
Auf dem Heimweg gegen Abend kommen mir meckernde Ziegenherden entgegen, die von Mädchen und Frauen zur Nacht ins Dorf getrieben werden. Sie waren den ganzen Tag nach Futter unterwegs. Je weniger es regnet, umso weiter müssen sie laufen. Aber die Mädchen machen das gerne, weil sie da draußen ihre Freundinnen treffen und sich mit ihnen unterhalten können.
Ich treffe Rachida, die einen Haufen Feuerholz zum Kochen auf dem Rücken nach Hause trägt. Das ist wie das Wasserholen Aufgabe der Frauen und Mädchen. Ich spreche sie an, sie antwortet zaghaft. Dann wird sie zutraulicher, und wir gehen ein Stück zusammen. Bis Inell dazukommt, ein paar kurze, scharfe Worte zu ihr sagt, sodaß sie zurückweicht und leise weggeht. Ein zweiter Junge macht mit einem Stock eine Andeutung, als wollte er sie schlagen, und sie verschwindet, ohne noch etwas zu sagen. Sie schaut mir noch lange nach. Hatte ich sie doch gerade gefragt, wo sie wohnt. Sie war auf dem Heimweg. Aber an diesen Jungen kamen wir nicht vorbei. Inell drängt sich vor, will den Platz neben mir einnehmen. Ich denke noch eine Weile an Rachida.
Es ist der Tag vor Tabaski, dem größten Fest der Muslime. Und an diesem Tag haben diese die Aufgabe, ihre Probleme miteinander zu lösen und Konflikte zu beruhigen.
Überall kann man sehen, wie die Frauen und Mädchen sich schön machen. Sie flechten viele Zöpfe zu neuen Frisuren und reiben sie dann mit Öl ein. Heute Abend soll es ein großes Tam-Tam in Timia geben.
Inell ist im 6. Schuljahr, erzählt er. 16 Kinder sind in seiner Klasse, neun davon sind Mädchen. Sein Vater ist Karawanier und gerade mit Salzkarawane unterwegs. Bald kommt er aus Bilma zurück.
Zwei Monate sind diese Karawanen unterwegs. Eine Woche nach Bilma, dort kaufen sie Salz und Datteln ein und ziehen dann weiter nach Nigeria, um dies gegen Kleidung, Hirse und andere Nahrungsmittel zu tauschen. Fast die ganze Strecke gehen die Männer zu Fuß. Der Vater macht dies einmal im Jahr und jetzt ist er schon hinter dem Berg. Inell freut sich sehr.
Kurz nach 6 Uhr verschwindet die Sonne hinter den blauschwarzen Bergen. Der fast leere Mond gibt kaum Licht.

Frauen essen mit Frauen und Männer mit Männern. Wir, die Fremden und fast ausschließlich Frauen, werden ohne Unterschied den Männern zugeordnet.
Nach dem Essen legen wir uns im Sand zurück und spielen Takadam – Makadam: Es gibt 16 Vertiefungen im Sand. Zwei und zwei Personen zwicken sich und müssen an diesem Zwicken einen bestimmten, nur gedachten Punkt im Sand erkennen. Wer am meisten richtig errät, gewinnt. Natürlich sehen wir nichts, die Tuareg alles. Das gibt ein großes Gelächter. Sie lachen gern und laut und viel über uns.
Dann werden Holzstücke zu Tieren: Ein Kamel bekommt 30 Punkte, ein Rind 20, ein Pferd 15, eine Ziege 10, ein Esel: keinen! Die Stücke werden geworfen, und je nach Punktzahl geht man in Spiralen ein Sandberg hinauf. Wer zuerst oben ist, wird Schakal und frisst die anderen auf dem Rückweg auf. Warum werden wir schon wieder ausgelacht?

Die Nacht ist fast ohne Mond und im Dorf ist es dunkel. Es gibt kein Licht, ein einziger kleiner Kassettenrecorder steht auf einer Bank vor der Boutique, in der eine Petroleumlampe brennt. Jungen und Männer sitzen im Sand. Plötzlich galoppieren Kamele durch das Dorf. Ich springe erschrocken zur Seite, um der kleinen Karawane auszuweichen, und höre Gelächter, sehen kann ich niemanden. Meine Augen können diese Dunkelheit nicht durchdringen. Plötzlich stehen Frauen vor mir, die ich nirgends habe kommen sehen. Sie sind zu zweit oder in Gruppen und wollen mich gefangen nehmen. Sie deuten an, mich einzusperren und zu verstecken. Wir lachen.
Die Ziegen schlafen in ihren Ställen, den runden Gattern aus Dornen. Alles ist ruhig. Das Tam-Tam findet nicht statt. Der Marabu hat sich einen Arm gebrochen. In Timia gibt es kein Tam-Tam, wenn ein Dorfbewohner krank ist, erklärt mir Inell. Niemals.
So kehre ich zu unserem Schlafplatz zurück. Der Ramadan-Mond gibt wenig Licht, ich brauche die Taschenlampe, um nicht zu stolpern. Ein Esel trabt in gebührendem Abstand an meinem Lager vorbei. An der Akazie neben meiner Matte knabbert ein Kamel. Am Abend höre ich die Stimmen der vielen Vögel besonders durchdringend. Ein Moula-Moula, der schwarz-weiße mit dem langen Schnabel, ist auch dabei.

6 Uhr. Das Klopfen ist immer der Anfang des Tages: Die Hirse wird mit Takamar, Käse aus Ziegenmilch, für das Frühstück gestampft.
Ich liege im Sand. Eine Springmaus hat uns nachts besucht. Ihre Spur führt von Zelt zu Zelt und zu meiner Matte. Rechts geht der Mond unter, links die Sonne auf.
Um sieben gehe ich noch einmal durch das Dorf. Fast jeder, den ich treffe, hat ein Tuch oder eine Decke um sich gezogen, der Morgen ist frisch, wie überall in der Wüste. Frauen treten aus den Höfen. Ein Mädchen räkelt sich in der ersten Sonne. Die Ziegen sind munter. Sie werden gerade von den Frauen und Mädchen gemolken. Die ersten Ziegen werden schon aus dem Dorf getrieben. Immer folgt ihnen ein Mädchen.
Kurz nach acht Uhr höre ich ein Murmeln von vielen Stimmen hinter einer Mauer. Ein Junge zeigt mir die Koranschule: es ist ein Viereck aus Palmenstämmen. Da lesen Jungen laut Koranverse von Holztafeln, Mädchen sind nicht dabei.

Nach dem Frühstück packen wir zusammen. Manked verschnürt Zelte, Matten und Rucksäcke auf dem Autodach. Wir wollen heute nach Agadez, da werden wir acht Stunden fahren, wenn wir keine Panne haben, inshallah!
Manked wird hier bleiben und mit seiner Familie Tabaski feiern. Langsam rollt unser „Kattkatt“, der Allrad-Geländewagen, durch Timia. Inell kommt angelaufen und gibt mir fünf adressierte Briefe nach Frankreich mit. Manked winkt uns nach und ruft: Merci! Wir antworten: Tanemerd!

17.4.2000

© H. Tarnowski

Gestern war Timia.

Heute sind wir dreimal hängengeblieben, zweimal blieb ein Auto stehen, wo nichts mehr war. Wollte nicht mehr. Erst mit anstrengenden Bemühungen ging es wieder. Es war gut steckenzubleiben.

Schauen und spüren: Wüste an sich und am Ziel.
Reine Form, reine Linien, reiner Sand und doch nichts. Schönheit.
Abschied. Dieses Land ist leer genug, mein Kind aufzunehmen. Ich werde nicht wiederkommen.
Um 10.30 ist ein Vorderreifen platt.

Die Strecke, die wir fahren, könnten wir mit den Kamelen nicht gehen. Kein Baum, kein Strauch, nur Sand und Steine. 80 km/h.
11.00. Reifenpanne. Wieder vorne rechts.
Auch eine Beruhigung: es wird sich nichts mehr wiederholen. Es wird keinen Freitag mehr geben.
Die Tenere haben wir verlassen, sind ins Air-Gebirge gekommen, das Land der Steine. 17 km vor Iferouane steht ein Hinweis: Tadak. Von dort kommen unsere Kamele, die jetzt auf dem Heimweg sind. Von hier sind sie aufgebrochen, hierher kehren sie zurück. Wir biegen von der Piste nach Iferouane ab und begrüßen den Bruder vom Chef der Chameliers, um ihm den Becher zu bringen, den Moussa vergessen hat.
Und wir begegnen einer Kamelmutter mit ihrem Kind.

18.4.2000

Die Oase Iferouane nach dem Lager zwischen den Felsbrocken im Air.
Der Duft der blühenden Zitronen verzaubert. Die Sonne geht hinter den Palmen der Oase unter. Ein kleiner Junge schlägt einen Ochsen, der die Bewässerungsanlage in Gang hält.

21.4.2000

Vom Wadi nach Agadez
Agadez verzaubert.
Die großen Männer in den weiten Straßen. Verschleiert in allen Farben.
Die Sonne zieht sich hinter einem Schleier zurück, dann ruft der Muezzin. Die jungen Frauen sind fröhlich und lachen mir offen zu.
In Agadez wird es weitergehen.

22.4.2000

Agadez – Niamey
Wieder am Fluß. Und ruhig in der Welt zuhause.
Ein Stückchen mehr davon heißt Agadez.

23.4.2000

44 Grad in Niamey. Das Wasser im Pool ist keine Erfrischung mehr. Daß die Welt so heiß werden kann und kein Entkommen möglich ist. Man vermeidet jede Bewegung, bis wieder Schatten kommt.

25.4.2000

Augsburg
Der Frühling hat angefangen. Die Vögel lassen ihn hören.
Heimgekommen möchte ich schweigen. Wo ich doch das Sprechen mit Freunden am meisten vermisst habe, greife ich nicht zum Telefon. Gestern hielt ich es für die Müdigkeit nach den letzten über-anstrengenden Tagen. Heute kommt es mir wie eine andere Stille vor. Die Stille des Sandes, des Mondes und der Leere.
Die Bilder, die hinter meinen Augen vorbeiziehen, sind hell, voller Sand und Licht. Kamele bewegen sich darin.
Der Film von Wajda im Halbschlaf war für mich ein afrikanisches Dorf heute, nicht Polen im Zweiten Weltkrieg.
Wenn ich den Mund aufmache: wer spricht.
Wenn meine Freundin mit mir redet, schlafe ich ein.
Aber den Sonnenuntergang erwarte ich bei mir.  

 

 26.1.2018

Es ist so weit: jetzt bin ich 75.

Um fünf Uhr aufgewacht konnte ich nicht mehr einschlafen. Hab’s aufgegeben, bin aufgestanden. Warum?!? Will ich soviel Geburtstag haben?
Oder glaube ich, er könnte schneller vorbei sein, wenn ich früher damit anfange?

Wenn mich gestern einer gefragt hätte: und – wie war dein Tag? Was hast du gemacht?
Dann hätte ich sagen können: Ich habe ein Auto gestreift und Fahrerflucht begangen, dann habe ich mein Haus geputzt und danach beim Schwimmen mich selbst.
Ja, aber: was, wie, warum?
Ich bin „zu meiner“ Jesidin gefahren, die drei Kinder hat und nicht lesen und schreiben kann. Dazu soll und will ich ihr nun verhelfen, sie wartet schon auf mich. Ich sehe eine große Parklücke, wo ich nicht einmal rückwärts einparken muss, fahre darauf zu. Auf der anderen Straßenseite stehen zwei Männer mit Besen in den Händen neben einem Reinigungswagen, sie halten ihre Besen still und schauen mich streng an, als ich in die Lücke steuere, ich weiche den Blicken aus und streife dabei das parkende Auto. Aua. Ich weiß, was ist.
Steige aus, die beiden zeigen auf das Auto: keine Beule, aber gestreift.
Ich nicke. Ja: Ich werde einen Zettel schreiben.
Als ich das mache, fahren die beiden mit ihrem Wagen weiter. Ich stecke den Zettel hinter die Windschutzscheibe, dann gehe ich zum Unterricht. Nur gut, dass ich da nicht viel denken muss. Dann gebe ich eine Aufgabe und gehe nochmal zum Auto, schreibe einen ausführlicheren Brief mit Versicherungsnummer usw. statt des Zettels.
Als wir mit dem Unterricht fertig sind, steckt das Papier noch immer hinter dem Wischer.
Ich fahre nach Hause, rufe meine Versicherungsmann an, der sagt: Sie haben alles richtig gemacht, aber rufen Sie sicherheitshalber noch die Polizei an, damit es nicht wie Fahrerflucht aussieht. 110.
Da kriege ich zu hören: Ganz falsch! Das ist Fahrerflucht! Sie dürfen das Auto nicht verlassen, müssen die Polizei rufen, dafür einen Passanten ums Telefon fragen – wie in Finnland, als ich meine Fähre nicht fand –, hat doch heutzutage jeder ein Handy – ich halt nicht, vergessen – das könnten Sie auch schon wissen.
Den Zettel könne jemand wegnehmen – da hat er Recht – oder es könne regnen – heute sicher nicht.
„Jetzt fahren Sie wieder zu dem Auto und schaun, wie die Kollegen die Sache beurteilen!“
Zwanzig Minuten brauche ich für die Strecke, Zeit genug, um mir verschiedene Alibis auszudenken. Hätte ja länger beim Auto stehen bleiben müssen. Also: Ich musste zum Unterricht, habe dabei immer aus dem Fenster geschaut. Oder besser: bin mit dem Hund herumgelaufen und habe dabei immer auf das Auto geachtet.
Alles Krimi oder was?!?
Ich habe mich noch für keine Version entschieden, als ich schon das Polizeiauto sehe. Zwei junge Polizisten und ein Anwohner mit Trainingsanzug und Migrationshintergrund, er konnte nicht alles lesen, was ich geschrieben habe, begrüßen mich freundlich, sie lachen fast. Sie wollten die Sache erst mal relativieren, sagt der Sprecher: Der Kollege sei übers Ziel hinausgeschossen. Böser Bulle – guter Bulle? Ich hätte es richtig gemacht. Und wie dankbar der Autobesitzer ist!
Die Personalien. Bußgeld: 35 €. Abschließende Beruhigung, die schon fast wie ein Lob klingt: Da kennen wir ganz andere Sachen!

Erschöpft von dem Wechselbad zwischen „alles richtig“ und „ganz falsch“ bin ich an meinen Fluss gefahren. Entlanggelaufen. Hole Kraft aus dem Fließen.
Ich habe gelebt. Aber sowas von!

 

 

 

29.1.2018

Das war’s dann also. Oder: „Die Vorfreude ist immer die schönste Freude“- wie die Mutter schon sagte. Wieder mal hatte sie recht.
Die Hälfte von den Nicht-Abgesagten ist noch krank geworden.
Denen, die da waren, hat es gefallen.
Ich kann jetzt eine Woche lang Reste essen.
Wenn sie doch nur schon weg wären!
Am liebsten würde ich alles auf einmal vernichten – aber wegwerfen kann ich ja nichts.

 

 

30.1.2018

Gestern hat Yalla ihr rechtes Bein nachgezogen, heute humpelt sie. Dabei schaut sie mich an, als wüsste sie von nichts. Aber sie lässt sich gerne herumtragen, wehrt sich nicht. Sonst will sie immer schnell hinunterspringen.
Man stellt immer wieder fest, dass Hunde die gleichen Leiden haben wie der, zu dem sie gehören. Ich habe gerade nichts. Aber ich habe ein Mittel, das mir schon oft geholfen hat: Placebo. Heißt: Du hast alles, was du brauchst. Ob das Yalla helfen kann? Ich versuche, es ihr in den Körper zu streicheln, massieren, in die Ohren zu sprechen.
Schaden kann es ja nicht.