Der Sieg vor dem Abgrund
Thomas Bernhards Buch „Wittgensteins Neffe – Eine Freundschaft“ (1983)
Von Marcel Reich-Ranicki
In Umkehrung des bekannten Wortes von Thomas Mann kann man sagen, daß Thomas Bernhard weit eher zum Märtyrer als zum Repräsentanten geboren wurde. Dennoch repräsentiert er wie kein anderer Schriftsteller die Literatur des heutigen Österreich und gilt, obwohl ein entschiedener, ja gleichsam programmatischer Außenseiter, als eine der zentralen Figuren der deutschen Dichtung unserer Jahre.
Diese hohe und höchste Anerkennung verdankt Bernhard einem strengen, einem ungewöhnlich radikalen Werk, das keinerlei Zugeständnisse kennt: Nach wie vor ist er unserer Literatur düsterster Poet und ihr bitterster Prophet. Er hört nicht auf, die Krankheit und die Auflösung, den Verfall und den Untergang zu besingen; von seinem Thema, der lebenslangen Angst des Menschen vor seinem Ende, kann und will er sich nicht abwenden. Er ist und bleibt ein Dichter des Todes.
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