30.-31.3.2018 – Algerien – eine weise Zuflucht
30.3.2018
Wenn ich am Morgen Klavier spiele, rufen Meisen durchs Fenster herein. Laut und entschlossen. Ich glaube, das heißt: Das gehört nicht hierher! (Mein Gedanke, wir würden zusammen Musik machen! – was für ein homozentrischer Blödsinn!)
Trotzdem mache ich morgen früh das Fenster auf und hoffe, die Vögel machen wieder mit.
Heute habe ich Kamele im Kopf.
Nach Algerien – kann man denn da hin?! Ist es nicht zu gefährlich? Weiß ich das? Ich verlasse mich auf die Sicherheitsvorkehrungen der Veranstalter, die die Situation während des Bürgerkriegs ständig verfolgt haben und in diesem Jahr zum ersten Mal nach sieben Jahren eine Pilotreise nach Algerien vorschlagen. Der Bürgerkrieg ist entschärft, Algerien lädt ein, wir haben die Einladung angenommen und fliegen am 9.4.2000 von Frankfurt nach Algier. Wie wenig ich darüber weiß. Wie gar nichts. Bin ahnungslos und neugierig.
Frankfurt – Algier. Im Flugzeug fast nur Algerier. Es sieht aus, als wären wir die einzigen Deutschen, jedenfalls die einzigen Touristen, nur ein paar Geschäftsleute gibt es noch. Wir wollen in das Land, das die Europäer ausgetrieben hat.
Als wir nach einem Aufschub von einer Stunde zum zweiten Mal in den Flieger steigen, ist es ein freundliches, lachendes Wiedererkennen: Wir sitzen in einem Boot. Jeder gibt Antwort, wenn ich so ahnungslos, wie ich bin, frage: Wie ist es?- Es geht wieder, pas d’évenements – keine Vorkommnisse. Aber es war schlimm: die Angst, das Eingesperrtsein, die Isolation. Die nach Europa kamen, haben die Angst vor dem Tod nicht ertragen, der die Unschuldigsten traf. Vor jedem mußte man Angst haben, angespanntes Mißtrauen stand in jedem Gesicht, erzählt ein alter Herr, den man den Abscheu ansehen kann. Aber heute sei es anders. Trotzdem gibt er den Rat, vorsichtig zu sein. Unheimlich ist das schon: wenn man sich in der Stadt nicht frei bewegen kann, immer aufpassen und geschützt werden muß?
Um 21.00 sinkt der Flieger von Air Algerie für Algier. Es wird dunkel. In einem weiten Bogen taucht die Lichterküste auf: El Djazair, „die Inseln“, wie Algier hieß, als es vor über 1000 Jahren gegründet wurde.
In den Berührungen der Frauen, die uns in Empfang nehmen, weiterleiten, betreuen, spüre ich immer wieder eine überraschende Körpernähe. Ihre Berührungen sind fast Umarmungen. Anfassen ist normal. Schön. Das Lächeln einer der beiden Frauen läßt ein Auge aus. Später erfahren wir, das es ein Glasauge ist. 10.4.2000
Hotel el Djazair. Die Touristen, die ins Land kommen, werden gezählt. Mein Visum hat die Nummer 1245/0.
Auch heute: pas d’évenements. – keine Vorkommnisse. Wir stellen immer wieder die gleiche Frage: Wie ist es in der Stadt? Wir bekommen stets die gleiche Antwort: Pas de probleme! Kann man in Algier spazieren gehen? Nicken: natürlich! Warum nicht? Algerien – eine weise Zuflucht– so wirbt der erste Prospekt in deutscher Sprache, der mir in Algier in die Hände fällt, und verspricht grenzenlose Möglichkeiten: 1200 km Küste entlang des Mittelmeers mit seinen Farben und Lichtern. Dahinter die fruchtbaren Ebenen, die Hochebenen des Zentrums, die Oasen und davor der Große Süden. Die beiden Naturmuseen Tassili und Ahaggar sind von der UNESCO geschützt und gehören zum kulturellen Universalerbe. Algerien verwahrt diese Reichtümer und will sie jetzt zur Geltung bringen.
Die Zeitungen berichten von falschen Kontrollen: Als Terroristen verkleidete Banditen erpressen Geld.
Die Wachsoldaten am Märtyrer-Denkmal, das die Erinnerung an den grausamen Kampf um die Freiheit wachhält, begrüßen uns freundlich, haben nichts gegen ein Foto. Die weiße Stadt leuchtet offen und weit, majestätisch am blauen Meer. Mehr als vier Millionen Menschen sollen hier leben. Parabolantennen auf fast jedem Balkon. Die Zeit der Ausgangssperren war nur parabolisiert zu ertragen. Vom Märtyrer-Denkmal sehen wir auf die weiße Stadt. Dar-el-Beida – so hieß Algier auch: das weiße Haus. Mitten darin der Botanische Garten mit einem süßen Duft und Palmen, die sich zu Laubengängen verschränken: Allée de Dragoniers von 1847.
Jeder begrüßt uns bei unserer Fahrt durch die Stadt. Zuerst die Taxichauffeure, dann auch ihre Mitfahrer. Die Männer immer, die Frauen – wenn sie nicht verschleiert sind – manchmal, zögernd. Polizisten erwidern den Gruß. Auch vor der Moschee in der Kasbah werden wir freundlich wahrgenommen. Ältere Männer sprechen uns deutsch an und erzählen von ihrer Zeit in Deutschland, dem demokratischen, vor zwanzig Jahren und fragen: nur ein Deutschland – wie ist das heute?
Auch freundliche Warnungen: Vorsicht, passen Sie auf sich auf!
Wir sind die einzigen Touristen weit und breit.
Notre Dame de l’Afrique steht grandios über der Bucht. Algier ist groß und Paris läßt grüßen. Paris am Meer.
Junge Leute treffen sich zu einem Rendezvous am Mittag. Jeansrock und Kopftuch. Hier oben ist es windig und kühl.
Überall sind stehengebliebene halbfertige oder erst angefangene Baustellen zu sehen. Alte halbfertige Häuser. Selten wird daran weitergebaut.
Der Berber aus Biskra, Wirt des Restaurants vor Algier, erzählt von einem Überfall der Terroristen auf sein zweites Restaurant, 30 km vor Algier. Er holt eine Fotomappe, die eine völlig zerstörte Einrichtung zeigt. Er hätte sich gewehrt, als sie kamen, einen haben sie erschossen und einen verletzt, und das Restaurant hätten sie zertrümmert.
Aber dieses Restaurant, am Rand von Algier war immer offen und es ist nichts passiert. Sie freuen sich über unseren Besuch, erzählen von ihrer Tochter in Deutschland. Zu Erdbeeren und Kaffee sind wir eingeladen. So freundlich und offen werden wir überall aufgenommen, ganz anders als ich es in Marokko oder Tunesien erlebt habe.
Es ist wie vor unserer Zeit: noch einmal Gast sein. Hier macht es Freude. Als wären wir die ersten Fremden.
Die Fotoausstellung am Straßenrand Alger 2000 mit überdimensional vergrößerten alten Bildern zeigt Algiers Geschichte strahlend und stolz. Die Algerier haben ihre Freude daran, wenn wir staunend stehenbleiben. Eine Freude, als käme mit uns das Leben zurück. Touristenzahlen in den Zeitungen sind Erfolgsmeldungen. Die Rückkehr der Ausländer könnte ein Zeichen von Frieden und Freiheit bedeuten in dieser einst so kosmopolitischen Stadt.
Kühl. Regen, Wind.
Wir warten auf unsere Maschine nach Ghardaia und Tamanrasset. Der deutsche Student, der in Oran auf der Baustelle arbeitet, ist traurig, daß sein Jahr in Algerien bald vorbei ist. Er stand schon gestern auf dem Flughafen, sollte um 18.30 Uhr fliegen, um ein Uhr nachts wurde der Flug annulliert, heute wartet er von morgens bis mittags, dann heißt es: abends – inshallah.
Die Deutschen seien nie gefährdet gewesen und immer gerne gesehen. Sie müssen nach Oran kommen, sagt er, das ist noch schöner als Algier! Noch schöner?! Und der Süden war immer ruhig. Er erzählt, daß ein Tourist im Hoggar verschollen ist, seit 1998 vermißt.
Heute sind es nur noch Banditen, die Überfallene erpressen, keine Terroristen.
Es gibt keine Franzosen mehr im Land. Die Deutschen seien gerne gesehen, die Briten und Amerikaner neutral, dagegen sind die Italiener nicht gewollt. Einen Deutschen habe es durch Zufall erwischt, als Terroristen mit Maschinengewehren ein Restaurant stürmten und einmal in die Runde schossen, bevor sie wieder verschwanden. Alle anderen waren Algerier.
Die Narbe am Bein seines Freundes ist Andenken an die Franzosen: Sie haben die Hunde auf ihn gehetzt, als er der Absperrung Nur für Franzosen zu nahe kam.
Fluglotsenstreik schon seit 10 Tagen. Sie streiken nicht für mehr Geld, sondern für die Sicherheit. Gehaltserhöhungen wurden nicht akzeptiert.
Mit der Boeing 727 nähern wir uns langsam Ghardaia.
Die stillende Frau in der Flughafentoilette winkt mich freundlich herein, als ich zögere. Wir sind nun wirklich die einzigen Europäer, die nach Süden, Ghardaia oder Tam, wollen. Araber, Berber und wenige Tuareg sitzen im Flugzeug. Ihr Lachen beim Wiedereinsteigen ist eine freundliche Begrüßung. Mein Nachbar, ein Fonctionnaire, der nach Tam fliegt, bietet mir sein Brot und Wasser an.
Die Dünen zeigen sich schon zwanzig Minuten nach dem Abflug von Algier. Dann taucht bald Ghardaia auf, Oasenstadt im rötlichen Sand. Wüstenkenner sagen: Die schönsten Gebiete der Sahara liegen in Algerien. So etwas hätte ich noch nie gesehen, diese Formationen, stehengebliebene Kerne von Vulkanen, Lavaberge. Ich werde neugierig auf das noch nie Gesehene. Und dann hinter roten Dünen und schwarzen Felsspitzen: Tamanrasset.
In Tam erwarten uns zwei Geländewagen, Sirham empfängt uns, Mussa und Arhali werden die Autos fahren. Die gehen schwer in die Knie, als wir mit unserem Gepäck und dem Gemüse aus Algier dazukommen, sind sie doch schon mit Wasser für zwei und Benzin für sechs Tage beladen. Tam ist ruhig. Auch in der Hauptstraße keine Motorräder, keine Sahara-Durchquerer, wenige Lastwagen keine Geländewagen außer den unseren. Die Stadtmitte wirkt frisch gestrichen und hergerichtet. Leuchtbilder mit Kamelen und Palmen sind über die Straßen gespannt. Dabei diese unwirkliche Ruhe, es kommt mir vor wie ein potemkinsches Dorf. Der kleine Markt liegt im Mittags- oder Dornröschenschlaf. Gerade wach genug für den Stoff für einen Schesch, den wir unbedingt brauchen werden. Dann haben wir alles und fahren hinaus in die Wüste, dieses Nichts, Nicht-Mehr oder Noch-Nicht.
19.00
Die Sonne ist über dem Tassiligebirge untergegangen, der Wind ist noch warm. Wir sind angekommen. Ich habe mitten im Wadi mit den Händen eine Mulde in den Sand gegraben und meine Matte hineingelegt. Der Sand wärmt meinen Rücken. Die Hände im Nacken schaue ich dem Halbmond ins Gesicht. Stille. Nur unsere Stimmen und manchmal, selten, ein Vogel.
Der Abend wird mit dem Tee beendet, den Arhali kocht, und beim Feuer erzählt Sirham von seiner Agentur AFARA. Afara heißt: das grüne Land. Das ist das Land, wo es gerade geregnet hat. Versprechen und Hoffnung. Vor zehn Jahren hat er die Reifen für die Geländewagen mit Eseln aus Libyen geholt. Zwei bis drei Reifen wurden auf einen Esel gepackt.
Er hatte einmal etwa 15 Angestellte, heute sind es noch drei. 1976 hat er in Djanet angefangen, seit 95 kamen keine Touristen mehr. Wir sind seine erste Reise in diesem Jahr, 1999 waren es fünf, die Jahre davor hat Sirham Ölsucher gefahren. Früher hatte er fünf Autos, drei mußte er verkaufen, nun hat er noch diese beiden. Dabei habe es im Süden nie terroristische Vorfälle gegeben.
Seit der Flugzeugentführung Weihnachten 1994 boykottieren Air France und die Lufthansa Algerien. Langsam werden private Fluggesellschaften wie El Khalifa aufgebaut.
Sirham spricht von 3000 Jahren Instabilität in Algerien. Niemals sei das Land ein stabiles Land gewesen. Die Hoffnung auf Veränderung ist realistisch, seit Präsident Bouteflika im Januar mit einem Ultimatum ein Ende des Gegenterrors signalisiert hat: Straffreiheit für alle, die ihre Waffen abgeben – wenn sie nicht getötet haben.
Vor Sonnenaufgang kommt eine Herde schwarzer Ziegen durchs Wadi. Sie laufen schnell an mir vorbei, um zum Wasser zu gelangen, das aus den Felsen herunterspringt. Zwei Frauen treiben mit kurzen kehligen Lauten die Tiere zusammen. Die springen die Felsen hinauf und hinunter und dann wieder durchs Wadi zurück.
Wir klettern die Felsen zu den Quellen hinauf. Sirham macht oben bedeutende Gesten: Wir stehen im Kreuz zwischen Tam und Bilma im Nordwesten-Südosten, Djanet und Mali im Nordosten und Südwesten.
Auch hier möchte ich bleiben, wie überall: in Algier, in Ghardaia, in Tam.
Hier würde das Abenteuer anfangen, das die Europäer in der Wüste suchen, sagt Sirham. Zu Fuß und mit dem Esel, dem Kamel und dem Auto in die Tassilis und den Hoggar. Sein wichtigstes Anliegen ist die Sicherheit. Daß er immer eine erreichbare Wasserstelle weiß, wenn es eine Panne geben sollte. Und die gute Ernährung: 8 kg Obst und Gemüse pro Person werden mit nach Tam geflogen, deshalb sollten wir nicht mehr als 12 kg Gepäck haben. Denn in Tam gibt es nichts, keine Orangen oder Zitronen, selbst die Datteln haben 800 km hinter sich.
Machafo! – Guten Tag!
In Indallad gibt es Wasser im Überfluß. Es sei das beste Wasser, das es gibt, meint Sirham, wie in allen Brunnen hier, die diese Tiefe haben. Chemie sei überflüssig. Er hat Recht. Das Wasser schmeckt köstlich und ist uns gut bekommen. Drei Familien leben um diesen Brunnen. Das Stampfen der Hirse klingt von den Strohzelten herüber. Wer noch etwas waschen will, soll es hier tun. Alle Kanister werden aufgefüllt, beim Eingießen läuft einiges daneben. Das macht hier nichts. Es ist die letzte Wasserstelle für die nächsten vier Tage. Für jeden werden 30 Liter gerechnet. Dann verlassen wir das Wadi in Richtung Süden.
Wo trockenes Akazienholz liegt, wird es aufgepackt. Bald kommt kein Holz mehr.
Mittags im heißen Wind mit Sandsturm in Böen.
Hinter uns liegt das Hoggar-Gebirge, vor uns die Tassilis, wir ziehen durch die Ebene, glatt und weit, brennend heiß von oben und unten. Und der Wind faucht glühend. Dem entkommst du nicht, und verstecken kannst du dich nirgends.
Was ist in Algerien, das es anderswo nicht gäbe?
Felsgebilde sehen wie riesenhafte Tiere aus: Schildkröte, Drachen, Elefant und Kamel werden sie von den Tuareg genannt. Gewaltige Kugeln und Türme halten das Gleichgewicht auf schmalen Füßen. Du stehst vor den Brocken, den Säulen, dem Elefantenhautfelsen, setzt dich auf den Stein und denkst: So könnte sie aussehen, die Ewigkeit. Unendlich die Zeit und der Raum. Keine Bewegung. Nur der Sand fliegt und fließt weiter.
Bei einer Nachtwanderung macht Arhali sehr kleine Schritte zwischen den Felsen bei Youf- Ehaket. Diese schmale hohe Gestalt mit dem würdigen Gang trippelt durch den Sand. Man kann nicht erkennen, ob er steil oder sanft abfällt. Wenn man rutscht, ist es steil. Dann war der Schritt zu groß.
Am Tag finden wir Gravuren in den Steinen: Rinder, dann Giraffen. Sirhams Geschichtsdurchgang läuft konsequent auf das Ende zu: Nach den Kamelen wird es hier kein Leben mehr geben.
Man muss schon Vertrauen haben in diese Organisation, wenn man weiß: In vier Tagen wird es erst wieder Wasser geben. Ich verscheuche den Gedanken an eine Panne, die es nötig machen würde, Hilfe zu holen. Wenn der Sand und die Steine nicht beweisen würden, daß es hier nichts mehr gibt, was man zum Leben braucht.
Das viele Holz auf dem Dach läßt Leere erwarten. So kommt es auch. Kein Baum mehr. Drei Stunden nichts. Ein leichter Schleier, der vom Niger kommen soll, wo es geregnet haben muß, verbirgt die fernen Felsen. Wir fahren, wo man nichts mehr sieht. Die Konzentration des Fahrers überträgt sich auf mich. Vergeblich versuche ich eine Spur zu erkennen, der Arhali folgt.
Eine Spur auf der Grenze zwischen Freiheit und Tod. Erstaunlich, daß man die Phantasie der Freiheit haben kann in einem Netz der Brunnen, die drei Tage geben. Nicht mehr.
Gnadenlos am Mittag die Sonne. Wir suchen den Schatten am Felsen, wo sie an diesem Tag noch nicht war. Sie verfolgt uns, wir weichen auf die andere Seite aus, wo der Schatten inzwischen angekommen ist. Aber der Sand ist heiß vom Vormittag, und bei 48 Grad noch nicht abgekühlt.
Gazellenspuren überall um unser Nachtlager. Aber die Tiere werden erst zurückkommen, wenn wir wieder abgefahren sind. Nur einen Fuß haben wir am Fels gefunden. Geeignet für ein Gris-Gris.
Der Mond ging hinter den Felsen unter, ließ den Sternen ihr Licht, bis sie weniger wurden und ganz verschwanden. Die erste Sonne ist gut, und die Wärme der Steine angenehm, jetzt, wo die Kühle der Nacht noch auf dem Sand liegt.
Angeflogene Sandbetten in Steinkuhlen unter ewigem Fels. Morgen wollen wir wieder einen Brunnen erreichen. Und übermorgen den Rand der großen Hitze. Vom Geschick und Können der Fahrer sind wir abhängig. Reifenpanne am Vormittag. Der Wechsel geht schnell, am Mittag flickt Mussa schon das Loch.
Ich werde still unter der Hitze. Sechs Uhr und 35 Grad. Das Ende der Bewegung. Stille. Lauschen. Wenn Stimmen, dann nur die eigenen. Fern, dann näherkommend.
9.30 Wasser?! Wir füllen unsere Flaschen. Der Tag wird uns wieder austrocknen, bis die Sonne, Sand und Stein wieder verläßt und wir unsere Insel der Nacht erreichen.
Gegen Mittag sind wir an unserem südlichsten Punkt.
Am Nachmittag: El Ghessor. Steine, schwarze hochgetürmte Felsenburg. Skorpione, Schlangen unter und zwischen den Dann geht es weiter durch leeres flaches Land. Drei Tage lang haben wir keine Menschen getroffen.
Igharrar. Abends backt Arhali Brot im Sand für Tagella. Mit der seinen geschickten schmalen Händen macht er Fingerspiele. Sandzeichnungen: Kaum daß man sich versieht, liegt ein Schmetterling im Sand. Und ist auch schon gleich wieder gelöscht für den nächsten. Arhali schreibt Tifinaq. Die Zeichen – Anordnungen von Punkten, Kreisen, Strichen – passen zum Sand. Sie sind noch schneller gelöscht als geschrieben.
Wir spielen Takadam – Makadam auf algerisch. 16 Vertiefungen werden mit leichter Hand in den Sand gewischt. Zwei Spieler müssen sich heimlich zwicken und die beiden anderen sollen sich die Kuhle im Sand merken, die der Zwickende im Moment des Zwickens berührt hat. Wer am meisten richtig errät, gewinnt.
Sand – Stein – Dünen, Wind. Der ist laut in den Ohren, läßt mich nicht schlafen. Ich suche eine neue Kuhle um Mitternacht. Ziehe mit Matte und Schlafsack eine Düne weiter, barfuß. Der Sand ist kühl. Dort schützt mich ein Steinhaufen im Westen, der leise Wind, der hier noch weht, ist ein sanftes Streicheln. Die Milchstraße wird sichtbar gegen Morgen, als sich der Mond zurückgezogen hat.
Das letzte Wasser ist verteilt. Gegen Mittag wollen wir den ersten Brunnen erreichen.
10.30 Pause und Panne.
Als der Reifen gewechselt ist, nimmt Arhali Zigaretten und Feuerzeug aus der Brusttasche seiner Gandura und legt sie in den Sand. Das ist die Vorbereitung für das Turnen im Wadi: Der lange dünne Arhali dreht sich auf eine Hand gestützt ein paarmal ganz schnell über dem Boden!
Staunen, Lachen, Nachmachen? Unmöglich.
Arhali setzt noch eins drauf, springt über einen kurzen Stock, den er selbst mit beiden Händen hält. Als gäbe es nichts Leichteres.
Wir scheitern kläglich.
Das Wadi ist von Tamarisken gesäumt, auch trockenes Holz liegt herum. Warum nehmen wir davon nichts mit? Es sei nicht gut, es qualmt. Bald kommen wieder Akazien. Die trockenen Äste werden zerhackt und aufgeladen.
Wachteln flattern auf. Eine Gazelle flieht, eine andere geht langsam zur Seite. Plötzlich hält Arhali an, springt aus dem Wagen und die Steine hinauf: Er fängt eine Eidechse, die da orange leuchtend weglief. Er zeigt sie uns, setzt sie dann auf einen Stein. Bevor sie wegläuft, schaut sie uns noch einmal verwundert an, dann aber schnell!
Wir haben zwei Pannen, da kommen die Brunnen nicht näher.
Nach 70 km endlich eine Wasserstelle: Eimer und Becher um ein Loch zeigen sie an. Mit einem Gummisack wird Wasser heraufgezogen und geprüft. Das nehmen wir nicht, der nächste Brunnen ist besser.
An dem Betonring des zweiten Brunnens liegen keine Eimer, keine Becher. Ein schlechtes Zeichen. Arhali hält an, schaut hinein und schüttelt den Kopf: nein. Wir fahren weiter und kommen zu einem Dorf mit einer Schule in seiner Mitte. Wir suchen den Dorfchef. Mitten im Dorf hupt Arhali. Junge Männer kommen aus den Häusern und Hütten. Begrüßungen, Fragen, Kopfnicken. Einer weist in eine Richtung, steigt dann bei uns ein und fährt mit. Auf einmal stehen da Palmen vor uns: die Oase! Auch Feigen, Granatäpfel und Wasser im Überfluß! Ein Bach!
Ich atme auf. Wasser. Es gibt nichts Wichtigeres.
Der Nachmittag in der Oase ist ein Ursommer: das saftige Grün, sein satter Geruch. Dazwischen das glänzende frisch duftende Wasser. So muß Sommer vor allen Zeiten gewesen sein. So hat er sich angefühlt. So fühlt sich ein Kindersommer an.
Soviel Freude am Wasser, das die Haut kühlt, am Schatten unter den Palmen.
Da muß man schlafen und das Schlafen fühlen. Urversunkenheit.
Eine wunderschöne Frau sitzt unter einer Palme im Gerstenfeld und stillt ihr Baby. Dann legt sie es in einen Pappkarton und schneidet mit einem Messer das Getreide. Sie antwortet mit einem Lächeln auf meinen staunenden Gruß.
Morgen um diese Zeit werde ich überlebt haben. Die drohende Kälte der 2900 m werden hinter mir liegen und die Heimreise vor mir. Gut. Und doch: sich auf die Erde legen, wo man möchte, nachdem man sich ein Stück ohne Dornen und Kamel- und Ziegenkot gesucht hat. Dem Mond ins Gesicht sehen, der jetzt ein Vollmond ist. Schlafend-wachend der Nacht zusehen. Den leisen Wind spüren, seinen kühler werdenden Atem. Sich aufsetzen mit dem Auftauchen des Horizonts und die Sonne erwarten. Die wenigen Dinge um sich ordnen, zusammenpacken, aufstehen und gehen. Freiheit.
Wovon? Von Wänden, von Dächern, von Fenstern, ja.
Große Gefühle?
Daß man sich dieser Erde nie so nah fühlt wie dort, wo sie einen am stärksten abweist.
Es ist Sonntag. Arhali und Mussa tragen frische Gewänder: grau mit rotem Chech und blau mit grün. Wir werden wieder durch Tamanrasset kommen, den Rückflug bestätigen, bevor wir auf den Assekrem hinaufklettern.
Tam hat heute über 60000 Einwohner. Es ist ein Umschlagplatz für alles: Waren, Drogen, Menschen. Das große Hotel Tahat gibt es seit 1978. In den letzten sechs Jahren war dort kein Gast. Da hat man das Haus renoviert. Ein Zimmer kostet 2300 – 7500 Dinar.
Spaziergang durch die helle Stadt. Sie leuchtet gelb und orange mit dem blassen Grün der Tamarisken. Wirkt in einer stillen Weise lebendig. In den Restaurants sitzen viele Araber, wenige Tuareg überqueren den Platz vor der Post, drei Schwarze kommen lachend und sich dabei gegenseitig in die Hände klatschend vorbei. Wie verschieden sie lachen, als sie sich die Hand geben: der Schwarze und der Araber. Im Restaurant wird es am Mittag voll, keine einzige Frau ist zu sehen, auch keine Touristen außer uns. Ich esse mein erstes Kamel-Steak für 4500 Dinar. Dann nehme ich an der Straße noch Erdnüsse in Tütchen aus Zeitungspapier mit für 10 Dinar.
Wir fahren ins Hoggar-Gebirge hinauf. Wieder ein Stück Erde ohne Leben. Einmal ein paar schwarze Ziegen, denen eine Frau folgt. Wir folgen ihr nicht über die Steine. Wie kann man hier leben. Die Antwort ist ein Guelta, eine Wasserstelle, um die es üppig grünt. Spuren von Eseln und Kamelen führen hinauf bis zum Assekrem. 2900 m.
Dort steht die Einsiedlerklause von Charles de Foucauld. Zwei Mönche leben in den Klausen fast unter dem Gipfel schon seit über 20 Jahren.
Die algerische Flagge flattert vor den vielen Schichten der Berge, dahinter geht die Sonne unter. Abstieg im Dunkeln. Arhali erwartet uns mit Suppe und Spaghetti in unserem Lager zwischen dem Savoinen und dem Disuiag, den Spitzen des Assekrem. Heute tut uns das Feuer gut. Es wird unsere kälteste Nacht werden.
Arhali erzählt von seiner Arbeit. In den letzten Jahren hat er als Mechaniker und Elektriker gearbeitet. Wenn wieder Touristen kommen, ist er auch Chauffeur, Koch und Führer. Arbeit ist Arbeit und diese Arbeit ist schwer: Tag und Nacht mit den Touristen. Am Tag fahren, erklären, Spuren lesen, Plätze finden. Abends kochen, Abwaschen und immer alles im Auge haben. Das tut er wirklich. mit diesen lebhaften, oft lachenden Augen in dem schmalen Schlitz seines Tagelmust.
Er kennt die Wüste besser als Sirham. Der ist Berber und aus der Kabylei nach Djanet gekommen. Arhali ist 42 Jahre alt und hat bis zu seinem 14. Lebensjahr als Nomade in der Wüste gelebt. Er ist Vater von sechs Kindern, vier Jungen und zwei Zwillingsmädchen, seine Frau ist vor drei Jahren gestorben. Die Kinder haben keine Mutter mehr, sagt er. Sie leben bei seiner Mutter in Tam. Er lebt, arbeitet in Djanet, das ist 500 km Piste von Tam.
Das Feuer glüht die ganze Nacht. Gegen Morgen kommt das Rot hinter dem Disuiag dazu. Als es schwächer wird, stehen die Tuareg auf und fachen die Glut wieder an für das Wasser. Als die Spitze des Savoinen leuchtet, stehe ich auch auf, rolle Schlafsack und Matte zusammen. Der Assekrem entfaltet eine Schicht nach der anderen, je höher man steigt. Vogelstimmen kommen nur vereinzelt vor. Ganz nah, ganz fern. Sie fallen und steigen. Leicht.
Zum Abschied vom Assekrem setzt sich ein Adler neben unserem Lager nieder. Wir fahren hinunter und zurück nach Tam. Machen einen Abstecher zu dem Guelta Alafila und treffen dort eine ganze Herde trinkender Kamele mit ungefesselten Vorderbeinen.
Auf dem Weg, den wir hinauf allein gemacht haben, begegnen wir fünf und drei und zwei Autos. Gestern sind 80 Deutsche direkt aus Frankfurt angekommen. Osterferien. Heute schwärmen sie aus.
Der Hoggar bietet Bergsteigern alle Schwierigkeitsgrade, ist Herausforderung für viele Europäer gewesen. Arhali kann von manch dramatischer Rettungsaktion berichten.
Gespräche darüber, daß die Wüste einen nicht gleichgültig läßt: entweder einmal und nie wieder oder immer. Zu sich kommen in der Wüste mit der Wüste in sich selbst. Das Verlassen des Netzes, der Vernetzung und Verstrickung, dem engmaschigen Verhäkeltsein.
In Tam ist das Hoggar-Fest! Wie jedes Jahr um diese Zeit. Tafsit 2000. Rendez-vous de la concorde de l’amitié et de la découverte.
Arhali erscheint mit einem Feiertagstagelmust: einer gewaltigen weißen Krone.
90 Journalisten aus Europa sind eingeladen und eingeflogen worden. Tam ist ausgebucht, auf dem Assekrem warten die Zelte. Ein neuer Anfang?
Alles strömt zum Festplatz, Die Frauen tragen die mauretanische Mode, wo ein gelber oder leuchtend blauer, froschgrüner oder pinkfarbener feiner Schleier um den ganzen Körper gewickelt ist. Die Männer schlendern gern paarweise Hand in Hand und möchten fotografiert werden. Sieben Provinzen des Hoggar zeigen ihre Tänze mit Singen und Trommeln. In den Nomadenzelten wird Silber geschlagen, werden Matten geflochten.
Dann tanzen die Kamele. Im Rhythmus der Trommeln lassen die Reiter ihre Meharis mit hochgerecktem Hals einen immer enger werdenden Kreis um eine Gruppe von Männern ziehen. Gewehrsalven fahren mir in die Glieder. Sie beenden den Tanz.
Die Kamelreiter formieren sich zum Rennen. 20 Dromedare starten für vier Runden. Die Tiere werden mit prachtvollen Peitschen zum äußersten angetrieben, sie werfen ihre langen dünnen Beine so wild um sich, wie ich es noch nie gesehen habe. Allein dafür möchte ich wiederkommen.
Startnummer 10 – ein braunes Kamel, die Zahl ist auf die Oberschenkel gesprüht – bleibt zurück, holt wieder auf. Der wirbelnde Staub verschleiert die untergehende Sonne. Wer hat gewonnen? Die 2? die 20?
Wir fahren wieder hinaus. Wir machen drei Anläufe, bis wir einen Platz finden, wo keine Lichter mehr zu sehen sind. Ein letztes Mal Wüste.
Der Vollmond blieb bis zum Morgen, verschwand im Westen eine halbe Stunde, bevor die Sonne aufging. Laster sind zu hören: Tankwagen mit Wasser ziehen Staubfahnen durch den Sand.
Im Flugzeug ist wieder ein Deutscher traurig, der nach einem Jahr in Algier nach Hause fliegt. Er kommt von der Deutschen Botschaft, Abteilung Sicherheit. Ihm kann ich noch einmal meine Frage stellen. Das Ultimatum habe Wirkung gezeigt, sagt er. Algier ist wieder sicher! Als er vor einem Jahr nach Algier kam, gab es noch ein Ausgehverbot. Das wurde nach zwei Monaten gelockert und zuletzt durfte man sich frei bewegen. Nur in der Kasbah sei noch Vorsicht geboten. Die Terroristen haben sich in das Bergland im Norden zurückgezogen und in die Kabylei.
Ich möchte wiederkommen. Ich wüßte nicht, wo ich mit einer solchen geraden, offenen Freude und stolzen Freundlichkeit empfangen worden wäre wie in Algerien. Zum Tuaregfest in der Oase Tazrouk?
31.3.2018
Laut waren die Vögel gestern Abend – und sie sind dann sehr schnell verstummt.
Zum ersten Mal in diesem Jahr habe ich den letzten Stimmen gelauscht.
Ein paar Stunden später ist ein strahlender runder Mond über den Wald heraufgestiegen.