11.-13.4.2018 – im Dogonland

 

11.4.2018

die letzten Töne
hat der Wind verweht
sie mitgenommen
mit dem Rauschen in den Bäumen

Es liegen viele Morgen unter jedem Morgen. Heute ist es das Dogonland.
Ich sehe mich auf dem Dach eines Lehmhauses, auf das ich abends mit einer wackligen Leiter gestiegen bin. Durch einen feinen Staubschleier geht eine große Sonne über der Savanne auf. Dort fängt Burkina Faso an. 

14.1.2005

Ins Dogonland

In Mopti hatte ich große Sehnsucht nach meiner Tochter. Überall werde ich an sie erinnert: Ich sehe sie in der Bozo-Bar unter ihrem großen, schweren Hut vor dem großen Bier nach unserem verrückten Bordell-Besuch – wir waren in ein enges Stundenhotel geraten, dann im Hotel in Sevare lachend in unserem Bett, als sich das Moskitonetz in den Ventialtor verwickelt hat. Ich sehe sie am Frühstückstisch mit meinem Geburtstagsgeschenk, einer dunkelblauen Seidengarnitur, und dann am Gare routière, wo wir schwitzend auf den Bus nach Segou warten. Unser Staunen, unsere Erschöpfung.
Im Internet-Shop finde ich ihre Nachricht, zehn Minuten für eine Antwort, in der ich ihr sage, dass sie mir fehlt.

Gestern fand ich Mopti nur schmutzig, schmutzig, laut und nochmal schmutzig. Wäre am liebsten daran vorbei gleich ins Dogonland, wäre da nicht die ungelesene Message gewesen, und die Kamera, die den Film nicht mehr transportiert, und der Mann. Mamadou. Auf die Gesellschaft der Franzosen habe ich schnell verzichtet, wir besorgen, was für meine Weiterreise nötig ist. Auf einmal sind wir dabei, miteinander einzukaufen: Obst fürs Dogonland. Ich liebe Männer, die mit mir einkaufen, wenn sie in einer Sprache verhandeln, die ich nicht verstehe. Ich genieße es, in Mamadous Mimik zu lesen, die Gestik, den Ton zu erraten, ich genieße dieses rätselhafte Gesicht. Wir teilen uns die Tüten, ich halte mit seinen großen Schritten mit, als gehörte ich zu ihm. Dieser Mann nimmt manchmal meinen Arm, mal meine Hand oder ruft Attention! Mamadou zeigt mir die Straße, wo er den Mofaunfall hatte. Wir müssen aufeinander achten, aufeinander warten, miteinander einkaufen und heimgehen. Zwei Stunden Zusammenleben. Dann verlassen wir Mopti in Richtung Sevare. Die Nacht auf dem Dach neben den Zikaden, zum ersten Mal seit Wochen der Lärm einer Stadt, der nicht aufzulösen ist. In Timbuktu hat sich jedes Auto, jedes Motorrad von allem anderen unterschieden, wenn es kam. Und wenn es verschwand, war da erst einmal nichts.
Spät in der Nacht ist auch hier der Lärm des Verkehrs eingeschlafen. Die Zikaden sind bis zum Morgen geblieben. Dann die Hunde, die Hähne, der Muezzin. Ich wartete auf Mamadou, der kam irgendwie unsicher durchs Tor. Der Abschied ging schnell, ich sage nur: domage, schade, er: vielleicht am Sonntag im Dogonland, wenn er aus Ouaga zurückkommt, wohin ich ihm nicht folge. Warum? Weil ich mit meiner Freundin im Dogonland verabredet war. Und sie ist wieder nicht gekommen, wie nach Südtirol und nach Algerien. Und nicht ins Dogonland, diesen Ort ihrer Sehnsucht. Sie hat ihn nicht mehr erreicht.

15.1.2005

Comme chez toi – wieder empfängt mich diese einladende Begrüßung.
Agapo – Guten Tag, ab 17 Uhr: Digapo.
Birapo – danke.

© H. Tarnowski

Tirelli. Der Platz auf diesem Dach war ein Traumziel. Wo sich mein Körper mit dem afrikanischen verbindet. Angekommen wo ich eins bin mit dieser Erde.
Dieser trockenen, dürren versagenden Erde, die der Wind in Stößen als Staub darüber fegt. Immer kommt er stoßweise, dieser heiße Wind. Wenn du gerade denkst, jetzt ist es ruhig, weht es wieder eine Staubfahne herüber.
Am Vormittag sind wir durch die heiße Ebene unterhalb der Falaise gelaufen, mitten durchgegangen durch mein verheißenes Land. Eingetaucht in die vom roten Sand zurückgeworfene Hitze. Und in durchziehende Erinnerungen an Augenblicke aus so vielen Jahren. Schmerz, Wehmut, Freude, Glück aus der Tiefe der Zeit, der vierten Dimension. Manchmal nur zu spüren. Dann möchte ich sagen: Spürst du es auch?
Aber du bist ja nicht da. Dass wir darüber nicht mehr reden können, wie wir die Zeit fühlen, wenn sie soviel geworden ist. Dieses schmerzhaft ziehende Glücksgefühl, als würde man bald an einem Ort erwartet, der voller Freude ist. Und groß und gut.
Berührungen zeigen den Weg zum Übergang. Rites de passage. Das ist das Wort. Danke, W. Jetzt bist du hier.

© H. Tarnowski

Gestern bin ich mit Dolo, dem kleinen Dogon, der mir sein Land zeigen will, die Falaise hinuntergestiegen. In den senkrechten Felsen die Löcher zu den Wohnungen der Telem, der kleinen Menschen, die vor den Dogon hier gelebt haben. Sie sind nur mit Seilen zu erreichen. Die Dogon bringen ihre Toten und Kultgegenstände dort hinauf.
Da waren auf einmal Trommeln zu hören. Dolo zeigte auf die Menschen ganz weit unten in Banani: Dort waren festlich gekleidete Männer zu sehen, die sich fortwährend mit ruhigen Schritten in einem Kreis bewegten. Eine Bestattungszeremonie, sagte Dolo und wir sind weiter abgestiegen unter ständiger Trommelbegleitung, kamen dem Tam-Tam immer näher, nach einer Stunde waren wir auf dem heiligen Platz. Jetzt trommelten die Kinder. Die Männer und überhaupt die Älteren waren in einem Haus, tranken dort das Hirsebier. Auf dem Platz viele, viele Frauen und Kinder, bunt und sauber und sehr schön geschmückt. Alle trinken das Bier, ich habe es auch probiert, danke – birapo – kann ich immerhin sagen.
Dann verabschieden wir uns und gehen zu unserem Hotel. Das Fest geht weiter, es ist eine fröhliche Sache. Man geht davon aus, dass da, wo der Tote jetzt ist, er es besser haben wird als auf dieser Welt. Die Ahnen haben es gut. Es wird so lange getrommelt und getanzt, bis alles Bier getrunken ist.
Gegen Abend wird es schon still. Das war nicht viel Bier. Bei einem Mann kann das Fest zwei oder drei Tage dauern, bei einer Frau nicht so lange. Bei dieser war es nur ein Tag? Die Frau war 86 Jahre alt.
Beim Gehen durch die Ebene am Vormittag liegt soviel Nähe in der Luft.

Die Zeit kommt, die Zeit geht, die Zeit steht, der Mittag ist lang in Afrika. Die Weißen denken zuviel.

Bei unseren Wegen durch die Dörfer erklärt mir  Dolo die Bedeutungen von Schnitzereien, Bildern und Skulpturen in den Hauswänden, Masken. Ich bin überwältigt.
Dann sagt mir Dolo, wann ich einem Dorfältesten meine vorbereiteten Nüsse zu geben habe.

© H. Tarnowski

Gegen Abend wird eine Devination, ein Orakel, vorbereitet. In einen Rechteck im Sand – ein table d’avenir, der Tisch der Zukunft – werden mit Stöcken und Steinen und Nüssen zum Anlocken die Fragen an den Fuchs ausgelegt. Es kann auch ein Schakal sein. Die Antworten sind am nächsten Morgen in den Spuren zu lesen, wenn der Fuchs nachts darüber gelaufen ist. Zuerst aber bekommt er noch ein Opfer, sacrifice, etwas zu fressen.
Vielleicht auch Zwiebeln, deren Geruch man überall in der Nase hat. Sie liegen ausgebreitet im Sand oder auf Dächern, und füllen die Körbe auf den Köpfen der Frauen, die zum nächsten Markt unterwegs sind.
Im Hotel de la Falaise in Banani finde ich meinen Platz auf dem Dach in den Blättern eines Mangobaums.

16.1.2005

Schaut freundlich auf mich, wenn ich lebe und glücklich bin.

In der afrikanischen Nacht auf dem Dach über der Ebene vor der Falaise, neben einem großen Baobab unter dem Schaukelmond und den Sternen. Ich weiß nicht, wie soviel Glück zu fassen ist, es ist so unendlich viel größer, mehr, wunderbarer als alles, was ich sonst erlebt habe bisher, hier und in meinem Leben überhaupt. Vielleicht ist mir auch die Fähigkeit zu fühlen erst hier zugewachsen. Für solche Nächte wie diese und die davor in Tirelli, die am Fluss bei Segoukoro und die allererste in Gao, bin ich gekommen.: ja – ja – jajaja! Und für die süße Wehmut der Vergeblichkeit, zu dem Morgenstern zu sagen: Bleib doch noch ein bisschen. Gesehen oder ungesehen, ungerührt, verschwindet er ohne den geringsten Laut. In dieser Nacht sind auch die Grillen verstummt.

Ich habe den Fahrkartenschalter gesucht, den ich schon kannte. Er war schwer wiederzufinden. Endlich dort angekommen gibt man mir eine Tafel mit Holzschnitzereien von der Art, wie die Dogon kleine Werkzeuge machen. Es soll eine Entschädigung sein. Sie wissen, dass man sie kaum findet. Ich freue mich sehr darüber und gehe wieder, ohne nach den Fahrzeiten gefragt zu haben, was eigentlich meine Absicht gewesen ist.
Die Frau des Hotelbesitzers in Tirelli ist vor vier Tagen gestorben. Innerhalb von zwei Stunden, 36 Jahre alt. Sieben oder acht Kinder hat sie. Für die sorgen jetzt die beiden anderen Frauen.

17.1.2005

13.30 Air Mediterranee
Nicht leichter, nicht schwerer, oder doch: leichter vom Schweren, aber schwerer von Glück.
Das habe ich auf der Treppe zum Flieger gemerkt. Vom Glück aus den Nächten, als wären sie wichtiger gewesen als die Tage. Unter Sternen liegen und Glück trinken, mit den Augen und mit den Ohren und mit der Haut. Die Augen hab ich für die Sterne, den Mond und die Feuer, die Ohren für die Zikaden, das Tam-Tam, das Schreien von Kindern, die Eselsrufe, einen Vogel ab und zu. Und die Haut für den Wind und die Wärme, ja – auch den Sand, den der Wind mitbringt. Soviel Glück muss man trinken.

Mamadou, Dolo – adieu! Wir sprechen viel vom Wiederkommen – ich bin manchmal ganz sicher, dann wieder denke ich, es war das letzte Mal mit Mamadou. Wer weiß. Sein Lachen ist schön. Ich hätte ihn gern berührt. Müde nebeneinander im Kattkatt. Wir weichen uns nicht aus, aber wir berühren uns auch nicht. Er wartet, bis der Flieger da ist, dann ein schneller Abschied, ein flüchtiges Adieu, und er ist weg, ungewaschen seit Tagen. Wie sein von weitem sichtbarer nicht mehr leuchtend grüner Schesch, den er immer um den Hals trägt.
Länger bleibt mein kleiner Dogon stehen. Als ich noch einmal aus dem Flughafen trete, ist er immer noch da in seinem frischen pink-T-shirt. Er lächelt über den Brillenrand und winkt, als hätte er nur auf mich gewartet. Das war also: drei Nächte lang Dogonland.

© H. Tarnowski

12.4.2018

Hier wird mein Tag zum Traum. 
Um sechs Uhr hat mich der Amselhahn aufgeweckt.
Und alle sind da: die Finken, Meisen, Kleiber, Rotkehlchen, Goldammern und die Spatzen. Und oben die Enten, der Fischreiher, der Mäusebussard, die Krähen.
Die Spatzen erkenne ich an ihrem Keckern, auch wenn ich sie nicht oft sehe, weil sie jetzt überall sind und viele Einfluglöcher unter das Dach gefunden haben. Ich bin so froh, dass ich aufs Vogelfüttern gekommen bin – nicht ohne meinen Oberförster, danke!

So ein wunderbarer Tag. Rundherum Glück. Mein Dogonland.
Ich gehe erst ins Haus, als die letzte Stimme des Tages verstummt ist.
Der Kauz hat schon gerufen.