14.-22.4.2018 – aufgeweckt

14.4.2018

Aufgeweckt diesmal nicht vom Gesang, sondern von den hüpfenden Füßen der Amsel auf dem Holz um mein Bett herum. Der Amselhahn steht auf seinem Platz am Rand des Daches, wo ich ihm immer so gut bei Singen zuhören und zuschauen kann. Er steht dort und singt nicht. Hat den Kopf eingezogen, bleibt stumm. Ich warte fünf Minuten, zehn, nichts. Dann lässt er sich in den Garten fallen. Hat er aufgegeben? Aber der Amselgesang war doch der Trost gegen die Trauer über das Vogelsterben!
Ich denke an die vielen Amseln im Schnee und im Gras. Bei zehn gelben Schnäbeln gab es höchstens zwei graue. Meine Nachbarin hat noch gar kein Weibchen gesehen in diesem Frühling. Da kann auch mein kleiner Mann da oben nichts mehr für die Arterhaltung tun. Warum soll er jetzt noch singen.
NABU sagt, die Amseln seien nicht gefährdet. Die wissen es noch nicht. Wenn die Vermännlichung auch hier stattfindet?

Wenn einer geht, ist er weg.
Es fällt mir immer schwer, daran zu glauben, dass ein Wesen, das ich liebe, wiederkommt, wenn es weggegangen ist, ohne mir zu sagen warum. Wie es Vögel eben tun.
Das mit dem Übergangsobjekt scheint mich nicht überzeugt zu haben. Vielleicht hatte ich ja keins, wenn man mich aus dem Zimmer, in dem die Anderen waren, schob, wenn ich geschrien habe, und erst wieder hereinholte, wenn ich still war. Selbstwirksamkeit sagen wir und finden es wichtig, dass ein Kind das erlebt. 43 war das anders. 

Wieder Rauchschwaden über Damaskus von amerikanischen, französischen und britischen Raketen. Gezielt gegen Chemie.
Wann war ein Krieg schon einmal gezielt?

15.4.2018

Googeln am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen?
Ich will doch wissen, warum mein Amselhahn auf dem Dach nicht singt. Heute auch wieder nicht. Überhaupt höre ich morgens keine Amsel.
Aber was mache ich mit dieser Antwort:

Wahrscheinlich geht es anderen Leuten auch so: Bei mir löst der Amselgesang immer ein Gefühl der Zufriedenheit aus. Da sitzen Sie an einem warmen Sommerabend in einem Park, und auf einem Baum in Ihrer Nähe singt eine Amsel. Sie singt und singt, und jede Strophe hat eine neue Melodie. Der Gesang ist nicht aufdringlich, doch übertönt er die abendlichen Geräusche. Er lullt ein und vermittelt das Gefühl tiefen Friedens.
So etwa wirkt der Reviergesang des schwarzen Vogels auf uns. Natürlich singt er nicht, um uns friedlich zu stimmen. Sein vielstrophiges Lied hat nur den Zweck, seinen Artgenossen mehrmals am Tage deutlich zu machen: „Hier ist mein Revier, hier brütet mein Weibchen, und ich werde jeden zerzausen, der sich in meinem Revier zu schaffen macht.“

Jetzt bin ich auch nicht schlauer als zuvor. Sieht so aus, als hätte keiner mein Problem.
Ich sehe zwei Amselweibchen am Futterplatz und stelle ihnen eine Extraportion Rosinen hin.
Kirchenglocken. Sonntag.
Es zieht mich in den Wald und wir gehen den Weg an dem Bach entlang, der später durch mein Land fließt. Auf einmal fliegt eine Bachstelze neben mir her und dann in Schlangenlinien über dem Wasser immer ein Stück voraus. Das macht sie auf dem ganzen Weg bis zu dem großen Rückhaltebecken, wo wir meistens umkehren, es ist der einzige Weg, den ich gerne hin und zurück gehe. Und dann die Überraschung: Die Bachstelze kehrt auch um und fliegt wieder in Schlangenlinien vor mir her, bis der Bach einen Verlauf nimmt, dem ich nicht folgen kann.
Ich erzähle diese Geschichte so gerne – aber niemand staunt so wie ich. Verstehe ich nicht.

16.4.2018

Sie haben gesungen: Gestern habe ich ein Abendlied bekommen und heute morgen bin ich von der gleichen Stimme in den Tag gerufen worden.
Warum mache ich mit meinen 75 noch immer so ein neurotisches Theater. Warum lerne ich nicht: Ich sollte meine Liebe nicht an so flatterhafte Wesen hängen.

Auch meine Spatzen lassen sich selten sehen. Manchmal höre ich sie in Sträuchern, dann sind sie wieder weg und ganz woanders. Und dann ist es wieder einfach nur Glück, mit ihnen hier zu sein. Auch wenn ich so wenig von ihnen verstehe.

Wie oft habe ich schon mit dem Anschreiben an Brot für die Welt begonnen um Mamadous Projekt weiterzuhelfen.
Und wieder bleibe ich hängen, als ich seinen Brief mitgeben will. Es sind so viele Fehler darin, dass ich manchmal raten muss.
Warum hat er nicht die Rechtschreibung lernen können, als er das Internetcafe hatte? Ich habe ihm immer wieder gesagt, wie das geht. Und wieder bleibe ich stecken. Das ist keine Aufgabe für einen Montag.

Gestern hat Mamadou geschrieben, dass es in Timbuktu wieder Angriffe gegeben habe, alle hätten Angst, er müsse zu seiner Familie, aber er käme nicht aus Segou weg, weil er kein Geld hat.
100 € mit Western Union. Sein Telefon antwortet automatisch. 

Jetzt war er dran – ça va un peu, un peu – es geht ein bisschen. In Segou. Aber in Timbuktu: ça va pas du tout. Da geht gar nichts.

17.4.2018

Der Kuckuck ruft!
Mamadou hat das Geld noch nicht abgeholt. Wo es so wichtig war, nach Timbuktu zurückzufahren?
Nein: Ich kann gar nichts wissen. Kann nur glauben oder nicht glauben. Ich muss vertrauen.Und bei meiner Ansage bleiben: nicht mehr als 200 im Monat. Was bedeutet: nur noch 100 € im Mai. Das muss ich ihm nochmal schreiben.

Es könnte sein, dass ich heute schon ein kleines Leben gerettet habe.
Als ich zu den frisch gepflanzten Birken gegangen bin, um sie an einem Stock anzubinden, bis sie fest verwurzelt sind, bin ich an dem Brunnenschacht vorbeigekommen und habe darin eine Kröte müde schwimmen sehen. Der Schacht besteht nur aus Betonringen und ist immer offen. Da ist schon einmal ein Biber ertrunken. Jetzt versuche ich, die Kröte herauszuholen, zuerst mit einem Stock, dann mit zweien, nein, das geht gar nicht. So knie ich mich an den Brunnen und hebe die Kröte vorsichtig mit der Hand heraus. Weil ich sie schnell ins Gras fallen lasse, bleibt sie erst mal auf dem Rücken liegen, vorsichtig drehe ich sie um. Gleich hüpft sie in die Richtung, wo der große Weiher ist. Das ist gut, da kann sie hinein und heraus, wie sie will. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Ich stelle eine Stange in den Brunnen, an der die Verirrten hinaufklettern können.

Ich liebe diesen Tag, der Sommer werden will.

18.4.2018

Die Deichsel vom Großen Wagen ist in der Birke hängen geblieben, wo die Blätter inzwischen schon groß genug sind, um sie zu verstecken.
Woran man sieht, dass die Polen im Weltraum sind?  – Wenn der Große Wagen gestohlen ist.
Dieser Witz wurde mir in Polen erzählt – von einem Polen.

Gestern Abend und heute Morgen kein Lied von der Amsel. Ich verstehe meine Welt nicht mehr. Das hat es in den vierzig Jahren, in denen ich sie hier beobachte, nicht gegeben. Heute Abend werde ich wieder warten. 

Noch mehr Eichhörnchen: schwarze, braune und dazu noch ein rotes! Das Vogelfutterhaus ist immer besetzt.
Aber es ist besser, sie fressen hier, als dass sie auf Raubzug nach Eiern in den Vogelnestern gehen.

19.4.2018 

What a difference a day makes
twenty-four little hours 
… 
and the difference is you!

Du – das ist der Amselhahn.
Heute: I could have danced all night – die ganze Nacht heut Nacht –  
Und das alles nur, weil die Amsel wieder gesungen hat, abends und morgens.
Da sieht man’s mal wieder, wie schnell ich bereit bin, mich abhängig zu machen von einem Objekt, das ich gar nicht verstehen kann. Das hört wohl nie auf.

Und gestern: was ich tat und was ich nicht tat, bei jeder Wahl die falsche Entscheidung. Als hätte ich mich schon mit dem Aufwachen entschlossen, am Abend unglücklich zu sein. Vielleicht habe ich die Entscheidung nur vergessen?
Wichtiges habe ich mir vorsichtshalber gar nicht vorgenommen, hat schon gereicht, dass das Alltägliche schief ging.

20.4.2018

Wie vor vier Jahren –  

20.4.2014

Am späten Nachmittag dieses Sonnabends musste ich einsehen, dass die angesagten Besuche – es wären die einzigen in dieser Woche gewesen – nicht mehr kommen würden. So habe ich mein Fahrrad genommen, um mit Yalla zu den Schmutterwiesen zu fahren und zu schauen, ob sie dort auch schon so leuchten wie in meinem goldenen Garten. Danach will ich irgendwo essen, wo Menschen sind, denen ich dabei zuschauen kann. Nahsehen statt fernsehen.
Ich bin noch nicht einmal im Dorf, als ich sehen muss, dass meinem Vorderrad die Luft ausgegangen ist. Darf das überhaupt sein? Habe ich nicht unplattbare Reifen?! Es ist passiert. Auch solche Reifen werden irgendwann müde und jetzt, wo die Luft raus ist, sieht der Mantel schon sehr brüchig aus. Das hat wohl der Schlauch nicht überstanden. Also zurück. Jetzt brauche ich zum Einkaufen das Auto, Yalla komm! Wir fahren!
Und dann Pizza. Ich staune: Der Kellner weiß noch, welche ich hier immer esse. Sardellen und Knoblauch. Ich war bestimmt ein Jahr lang nicht da. Zwei Paare an den Tischen gegenüber. Der linke Er raucht, isst eine Pizza, raucht, eine Lasagne, raucht und dazu trinkt er zwei Weizen. Die rechte Sie lacht gerne und zeigt dabei ihre durcheinander gewachsenen, gar nicht weißen Schneidezähne neben einer großen schwarzen Lücke. Auch das würde man im Fernsehen um diese Zeit, wo die Gesundheitssendungen schon vorbei sind, nicht sehen. Willkommen im wirklichen Leben.  Gegenüber steht breitwandmäßig eine lange Reihe junger Bäume in voller weißer Blüte.
Die Paare sind gegangen. Yalla gibt Laut, dass sie jetzt mit Fressen dran ist. Komm, wir gehen! Wie viele Bäume hier blühen, weiß ich nun doch nicht. 

Ich liebe den kühlen Wind, der am Morgen über die Felder kommt, ebenso wie den warmen, in den ich mich fallen lasse mit aah! und ooh! am Niger im Januar. 

Wieder steht die lange Reihe weißer Bäume in voller Blüte. Die Kronen sind inzwischen doppelt so groß.
Die Amseln? Weiter weg waren sie, abends und morgens, aber da. Das muss mir genügen.

70 Jahre Israel werden 70 Stunden lang gefeiert. Also auch am Sabbat. 
Wann wird wieder einer kommen, der wie Rabin hoffen lässt?

Jetzt sind auch noch meine Douglasien gekommen, ich kann die gestürzten Fichten ersetzen in meinem Wald. Vielleicht sehe ich sie noch ein bisschen wachsen. Wie die drei Birken und die Traubenkirsche und das Pfaffenhütchen. Und die Trauerweide – den Ast muss ich noch holen.
Zwei Lupinen sind aus den finnischen Samen herausgewachsen. Ich bin gespannt auf ihre Farbe.

Jetzt warte ich auf den Kaminkehrer.
Eine Stunde später: Es ist eine blonde Kaminkehrerin, die leichtfüßig und entschlossen auf mein Dach hinaufsteigt, um ihre runde Bürste durch den Kamin zu schieben. Viel ist es nicht, was da unten herauskommt – recht überschaubar das Ganze. Gutes Holz.

Heute Nacht war mein Vater da. Mit ihm soll es weitergehen in der hellen Zeit, die jetzt kommt. So hell wie damals, als ich Ramadan schrieb. Ein Jahr nach seinem Tod. 

1990

Ich muss erzählen, wie er gestorben ist. Wer, wenn nicht ich, kann es wissen. Wo bleibt ein Wissen, wenn es keiner weiß.
Ich habe es dem Vater versprochen, von seinem Tod zu erzählen, denn mir graut, wenn ich mir vorstelle, dass dies keiner tut. Wofür hätte er gelebt, wenn ich nicht von seinem Tod erzählte. Bis alle Ohren taub, alle Menschen fort sind.
Für meinen Vater bin ich die Einzige, die es tun kann.

Aber nicht jedem erzähle ich von seinem Tod, man muss mir dafür schon vertrauensvoll und geduldig ein Stück gefolgt sein, dann vielleicht. Es ist nicht leicht, mir zu folgen, denn ich bin ein Hase und schlage meine Haken, ich bin eine Katze und fliehe auf Bäume unter Büsche über Dächer, ich bin ein Hund und verbelle, was ich fürchte, oder ich beiße.

Der Vater ist tot. So tot wie noch nie. Da hat mich keiner gefragt.
Ich verliere, verliere, verliere, bis ich auch das Verlieren verliere.
Es fing an mit den Sonnenbrillen und dem goldenen Kettchen, dann folgten die Ohrringe, einer nach dem anderen, mein Schmuck, Vaters Ehering, der ihm ein paar Tage vor seinem Tod vom Finger gefallen war, als der zu dünn für den Ring wurde. Ich verliere, woran ich mich gehalten habe. Den Rucksack, das Tankschloss. Jeder kann nun mein Auto zerstören.
Dass ich sein Geld verliere, erleichtert mich.
Überall, wo ich gehe und stehenbleibe, möchte ich meine Schuhe zurücklassen und barfuß weitergehen. Durch den Schmutz, über die Steine, durch das Wasser, am liebsten aber: in den Sand, durch den Sand, unter den Sand.
Verlieren und verlorengehen und verloren sein. Dann bin ich frei.
Frei, ihn zurückzulassen, zu vergessen und zu gehen. 

21.4.2018

„Das ist ein Friedhofshund“ – sagt die Frau über Yalla, nachdem die verschwunden war, ich sie nicht finden konnte, dann aber doch.
Friedhofshund. Wo gibt’s denn sowas?!?
Nur im Traum. Mein Friedhofshund.

22.4.2018

Zum Gewecktwerden hat’s nicht gereicht. Die Stimmen haben sich nicht zusammengetan. Und der Zaunkönig ist nicht dabei. Aber die Erinnerung.

5.8.2017

Ein kleiner Zaunkönig
ist hereingeflogen
und
als ich das zweite Fenster aufgemacht habe
wieder hinaus 

In diesem Jahr habe ich ihn noch nicht gesehen.
Dann durch die golden leuchtenden Wiesen. Sonntagvormittag.