Ein Stück nachgeholter germanistischer Fachgeschichte

Von Sabine KolochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Koloch

 

Inhalt

1. Vom Assistenten-Flugblatt zum Forschungsvorhaben
2. Film ohne Drehbuch
3. Eine Bibliografie, die eine Zäsur markiert
4. Wenn Fachgeschichtsschreibung zum Ärgernis und Politikum wird
5. „Mit einem Schuss in die Geschichte“
6. Der Sammelband Der Geist der Unruhe ‒ Germanistik auf Weltniveau?
7. 1968 als Ideenreservoir und Fortschrittsgenerator der Forschung
8. Fazit

 

1. Vom Assistenten-Flugblatt zum Forschungsvorhaben

Als Literatur- und Geschichtswissenschaftlerin bin ich unter anderem auf Frauenforschung im Sinne von „frauenorientiert forschen“ und in diesem Zusammenhang insbesondere auf Machtfragen spezialisiert. Entgegen der von mir selbst verwendeten Nomenklatur werde ich gelegentlich als „feministische Literaturwissenschaftlerin“ bezeichnet, was deshalb nicht zutrifft, weil ich mich dem Objektivitätsideal von Wissenschaft verpflichtet weiß und die literaturwissenschaftliche Frauen-, Männer-, Geschlechter- und Genderforschung als eigenständige Forschungsgebiete anerkenne, statt sie, die Unterschiede dieser Schwerpunktbildungen bis zur Unkenntlichkeit verschleifend, unter dem Sammel- und vermeintlichen Oberbegriff „Gender Studies“ zusammenzufassen.

Die deutsche Wortverbindung „feministische Literaturwissenschaft“[1] lässt sich derzeit zuerst bei der ab 1972 an der Universität Marburg lehrenden Professorin Marie Luise Gansberg (amtliche Schreibweise: Marie-Luise Gansberg) nachweisen: „Seit dem Winter 1976 bin ich mit der Einarbeitung in einen neuen Wissenschaftsbereich beschäftigt: Women’s Studies, hier: feministische Literaturwissenschaft“. Die Person hinter dieser Selbstauskunft begann mich zu interessieren, als ich im Zuge von Vorarbeiten für meine 2017 erschienene Abhandlung Wissenschaft, Geschlecht, Gender, Terminologiearbeit ‒ Die deutsche Literaturwissenschaft auf vergessene und verdrängte Aspekte des beruflichen und persönlichen Werdegangs dieser fachlich unersetzlichen, für Studierende faszinierenden und zugleich „schwierigen Begabung“ (Hans Peter Herrmann) stieß. Um mehr über Gansbergs Arbeitsschwerpunkte und ihr soziales Umfeld zu erfahren, sprach ich unter anderem mit ihrem einstigen Marburger Kollegen Alfons Glück, der nicht ohne einen Anflug von Bewunderung das von Marie Luise Gansberg, Hans-Wolf Jäger, Werner Weiland und Paul-Gerhard Völker verfasste und verantwortete Assistenten-Flugblatt, von dem ich bis dahin noch nie gehört hatte, zur Sprache brachte. Die Tragweite dieser kollaborativen Münchener Unternehmung und dass es sich bei dem dreiseitigen maschinenschriftlichen Papier um ein Schlüsseldokument der germanistischen 68er-Geschichte handelt, wurde mir erst richtig bewusst, als Hans-Wolf Jägers Exemplar des Assistenten-Flugblatts in Kopie vor mir lag und aus der Vielzahl weit verstreuter Informationen zu Paul-Gerhard Völker ein Mensch aus Fleisch und Blut Gestalt anzunehmen begann. Im gleichen Zeitraum, den Jahren 2016/17, hatte ich meine Forschungen zu Gansberg etappenweise in einem am 1.2.2016 eigens dafür angelegten Wikipedia-Artikel veröffentlicht.[2] Dessen Kopfabschnitt enthält aktuell folgende Angaben:

Die Idee zu einem 68er-Projekt tauchte am Horizont auf, als ich in der ersten Jahreshälfte 2017 mit dem IT-Experten Felix Weiland, Sohn von Werner Weiland, Studium an der Freien Universität (FU) Berlin, Diplom in Politikwissenschaft, Kontakt aufnahm und er mich darauf hinwies, 2018 jähre sich „1968“ zum 50. Mal. Unter dem Eindruck des bevorstehenden Erinnerungsjahres fassten wir den Vorsatz, eine Website zum Thema „1968“ anzulegen. Im Mittelpunkt sollte die Assistenten-Flugblatt-Gruppe stehen. Ziel war anfänglich nur eine Kombination von biografischen Informationen mit Bild- und Textdokumenten.

Gleich zu Beginn der eigentlichen Projektarbeit stellte sich heraus, dass für eine gute und professionelle Zusammenarbeit die Basis fehlte, für mich ein herber Rückschlag, erwiesen sich die von mir bis dahin durchgeführten Recherchen doch als ertragreich und sehr geeignet, so manche im Fach Germanistik und darüber hinaus grassierenden Irrtümer und Fehlannahmen zu korrigieren. Dem vom Scheitern bedrohten Vorhaben begegnete Thomas Anz mit Interesse und erklärte sich bereit, die Ergebnisse des nunmehrigen Forschungsprojekts „1968 in der deutschen Literaturwissenschaft“ in der von ihm begründeten Online-Zeitschrift literaturkritik.de unter dem Menüpunkt „Archiv/Sonderausgaben“ öffentlich zugänglich zu machen. Zur Freischaltung der ersten Aufsätze kam es in der Jahresmitte des runden Erinnerungsjahres 2018.

 

Abgeschlossen wurde das auf 63 Beiträge angewachsene Unternehmen im November 2020. Bereits im Dezember unterbreitete Thomas Anz den Vorschlag, aus dem Webprojekt ein E-Book zu machen. Die Entscheidung für ein gedrucktes Buch beförderte im Januar 2021 der Zeitzeuge Volker Wild, der als Leser gerne Anstreichungen vornimmt und Randnotizen einfügt. Gegenüber elektronischen Buchveröffentlichungen äußert sich der Mehrwert von konventionellen Büchern auch und vor allem darin, dass diese es einem erheblich leichter machen, beim Lesen den Überblick zu bewahren.

Die Anfang 2021 neu verfasste Einleitung und der vorliegende Schlussbeitrag können für sich in Anspruch nehmen, Quellenkritik mit einer dem Gegenstand adäquaten Systematik und mit Grundsatzüberlegungen zusammengeführt zu haben.

Zu den Kurzbiografien der Beiträger*innen gelangt man durch Anklicken der blau unterlegten Namen unterhalb der Titelzeilen der jeweiligen Beiträge.

 

2. Film ohne Drehbuch

Das Unterfangen „1968 in der deutschen Literaturwissenschaft“ war nur arbeitsteilig und mit Hilfe von Zeitzeug*innen zu verwirklichen. Bekanntlich leisten Zeitzeug*innen nicht nur einen Beitrag zur Faktensicherung, sondern auch zur Wahrnehmungsgeschichte und zur „Analyse von Geschichte als nachträglicher Konstruktion“.[3] Das Problem dabei: Kaum etwas im Forschungsprozess ist weniger planbar als das Aufspüren von noch lebenden Zeitzeug*innen, deren Gesichter nicht verbraucht sind, was zum Beispiel bei Helmut Lethen, Rüdiger Safranski, Peter Schneider und Uwe Timm der Fall ist.

Eine Antragsfinanzierung hätte im vorliegenden Fall vorausgesetzt, von Anbeginn zu wissen, wer als „lebende Quelle“ in Frage kommt und bereit sein würde, sein Wissen ungefiltert und ungeschönt einzubringen. Statt dem Geld hinterherzuforschen, um Forschung betreiben zu können, und statt bei einer möglichen Antragsstellung Planbarkeit und Budgetierbarkeit vorzuspielen, zog ich es vor, mich auf eine risikobehaftete Reise ins Ungewisse zu begeben.

Nachdem die kritische Anfangsphase überstanden war, wurde mir vielfältige Unterstützung zuteil, und zwar nicht nur vonseiten großzügiger Beiträger*innen wie etwa Kai Köhler und Berthold Petzinna, sondern ebenso seitens Zeitzeug*innen, darunter (über die Reihenfolge entschied das Los) Volker Wild, Holger Ambrosius, Roger Paulin, Rudi Schmidt, Hans Peter Herrmann, Eva D. Becker, Peter Schütt, Hartmut Rosshoff, Manfred Windfuhr, Helmut Lethen, Bernd Dammann, Günther Gerstenberg, Peter Strotmann, Jörg Schönert, Ulrich Harsch, Bernhard Asmuth, Marc Silberman, Gertrude Cepl-Kaufmann und Helmut Schanze, die ihre Talente und Ressourcen gleichermaßen in das laufende Projekt investierten und damit zu dessen Gelingen wesentlich beitrugen.

Ulrich Harsch beispielsweise kürzte den von mir beschafften 30-sekündigen ZDF-Einspieler zum 9. Deutschen Germanistentag auf die vorgeschriebene Länge, damit die Fachöffentlichkeit im Rahmen der elektronischen Fassung des Beitrages Das Gedächtnis der Bilder. Der legendäre Berliner Germanistentag in einer Filmsequenz Zugriff darauf bekommt. Den Link zum Kurzfilm setzte Thomas Anz, der darüber hinaus mit Engelsgeduld sämtliche Manuskripte in Hypertext Markup Language (HTML) umwandelte, Korrekturen einarbeitete und mir mit kompetentem Rat zur Seite stand. Helmut Lethen erkannte unter den gefilmten Personen Volker Wild, der wiederum weitere Studierende identifizieren konnte, darunter seinen ehemaligen Kommilitonen Rudi Schmidt, welcher zu jener Zeit intensiv an seinem Projekt-Beitrag Politisierung zwischen Studienreform und Imperialismuskritik. Studieren in den 1960er Jahren an der Freien Universität Berlin bis zur Gründung der Kritischen Universität 1967 arbeitete und gar nicht glauben konnte, dass er auf dem ZDF-Film zu sehen ist. Helmut Schanze, Verfasser des Beitrages Mein Berlin 1968. „Two Cultures“ und Wege zur Mediengeschichte. Ein Erinnerungsversuch, meinte sich erinnern zu können, Rudi Dutschke auf dem Podium gesehen zu haben. Da der politische Aktivist und Soziologiestudent das auf ihn am 11.4.1968 verübte Attentat mit schweren Hirnverletzungen überlebte, war seine Präsenz auf dem Germanistentag außerhalb des Möglichen. Meine Beschreibungen der acht Film-Einstellungen waren Volker Wild zu ausführlich, folglich nahm ich Kürzungen vor. Ich dagegen wollte mehr und Genaueres über meinen Gesprächspartner erfahren, so entstand der Abschnitt „Stellungnahme von Volker Wild“, ein integraler Bestandteil des Film-Beitrages. Jürgen Babendreier, ohne dessen überschickte Kopien mit dem entscheidenden Hinweis von Eberhard Theilmeier ich nicht im Traum daran gedacht hätte, das ZDF könne sich am 8.10.1968 zu Dreharbeiten auf dem Germanistentag eingefunden haben, beriet mich einmal mehr bei der Titelgebung, die Historikerin Brita Eckert zum wiederholten Male in formalen Fragen. Kai Köhler, der neben literarischen Neuerscheinungen auch Kinofilme rezensiert, übernahm die inhaltliche Prüfung des Manuskriptes. Um diese Zeit herum „verwünschte“ Jürgen Babendreier Corona und noch mehr mich, weil der so sehr von mir erhoffte Beitrag zu Klaus Ziegler ihn vor zermürbende Herausforderungen stellte. Andererseits betonte Brita Eckert mehr als einmal, sie hätte ihren Exilforschungsbeitrag ohne die weltweite Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 niemals in der jetzigen Langform realisieren können, wobei eine Verbindung zum Ausgangspunkt des gesamten Projektes insofern hergestellt wird, als Marie Luise Gansberg, die 1966 die Tabuisierung der deutschen Exilliteratur durch das von ihr vertretende Fach thematisierte, Teil des Aufsatzes ist.

 

3. Eine Bibliografie, die eine Zäsur markiert

Über den Forschungsstand informierte auf knappem Raum auch meine ursprüngliche und nun gelöschte Einleitung zum Projekt (Ein wissenschaftsgeschichtliches Webprojekt zur 68er-Zeit. Ziele, Verlauf, Erfahrungen), veröffentlicht am 5.9.2018 auf literaturkritik.de. Damals war ein großer Teil der Manuskripte noch nicht geschrieben. Inzwischen ergibt sich ein klareres Bild, wo die Leistungen, Defizite und blinden Flecken der bisher vorhandenen Forschungen zur 68er-Geschichte der Germanistik liegen.

Ich will meine Bemerkungen zum Forschungsstand mit einer Spezialbibliografie im Umfang von 143 Seiten beginnen.[4] Sie übertraf meine Erwartungen bei weitem, fällt doch der im Berichtszeitraum 1966 bis 1971 erfasste Prozess der Selbstreflexion völlig aus dem herkömmlichen Rahmen. Allein schon aus diesem Grund erscheint es mehr als gerechtfertigt, mit Blick auf die 1968er-Zeit von einem Einschnitt in der Fachentwicklung zu sprechen:

Gisela Herfurth, Jörg Hennig und Lutz Huth: Topographie der Germanistik. Standortbestimmungen 1966‒1971. Eine Bibliographie. Mit einem Vorwort von Wolfgang Bachofer, Berlin: Erich Schmidt 1971.

Wie kam so kurz nach 1968 der Plan zustande, das erreichbare Material zu den nach 1966 geführten umfänglichen Diskussionen in einer thematisch gegliederten Bibliografie zusammenzuführen? Antwort auf diese Frage gibt das Vorwort von Wolfgang Bachofer, Professor für Deutsche Sprache und Ältere deutsche Literaturgeschichte und von 1978 bis 1981 Vizepräsident der Universität Hamburg. Demnach kam der Anstoß vom Vorstand der Hochschulgermanisten, um eine ausreichende Information aller Interessierten zu ermöglichen und zugleich die Aussprache auf der Stuttgarter Tagung der Hochschulgermanisten 1972 vorzubereiten. Kurzzeitig war angedacht, das arbeitsteilig erstellte Verzeichnis in ein oder zwei Heften der Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes zu veröffentlichen.

Wohl wegen des ein wenig irreführenden Haupttitels lässt sich in der zeitgeschichtlichen Forschung keine breitere Rezeption dieses äußerst informativen und nützlichen, in die Kapitel „Bildungspolitik“, „Hochschuldidaktik“, „Situation und Perspektiven der Germanistik“, „Germanistik an einzelnen Universitäten“, „Germanistik und Schule“, „Tagungen und Kongresse“, „Wissenschaftliche Einrichtungen“ und „Germanistik im Ausland“ unterteilten Hilfsmittels nachweisen.[5]

Die Bearbeiter*innen der unter Hochdruck entstandenen Bibliografie verzeichneten mit wenigen Ausnahmen gedrucktes Material, zu den Ausnahmen gehört zum Beispiel die maschinenschriftlich hergestellte und in hektografischer Form verbreitete Zeitschrift Germanistik-Studium (hrsg. von der Institutsvertretung des Germanischen Seminars der FU Berlin, Heft 1‒6, 1967‒1968). Damit ist nicht gesagt, in dem Titelverzeichnis fehlten studentische Stimmen, wie der im Register verzeichnete Name „Volker Wild“ belegt, um nur dieses eine Beispiel zu nennen. Volker Wild, geboren 1944, im Jahr 1968 Vorsitzender des Fachverbands Germanistik im Verband Deutscher Studentenschaften, agierte an vorderster Front, als die von ihm mitbegründete Ad-hoc-Gruppe Germanistik den Berliner Germanistentag mit einem Go-in aus dem Takt brachte. Auch war er auf und vor dem Podium jener Sprecher mit „revolutionärer Flüstertüte“, den Helmut Schanze mit Rudi Dutschke verwechselte und das nicht etwa von ungefähr, schließlich war Volker Wild für kurze Zeit der Rudi Dutschke der Germanistik („die Profs hatten Angst vor mir“[6]). Dass die Ordinarien vom „Germanischen Seminar“ der FU auf den gewaltsamen Tod von Benno Ohnesorg mit Schweigen reagierten, schockierte und empörte den aus einer Beamtenfamilie stammenden Germanistik- und Theologiestudenten so sehr, dass ‒ in seinen Worten ‒ „alle Hemmungen von ihm fielen“.

Wie erklärt sich das mangelnde Interesse der Germanistik für Achtundsechziger*innen aus der Riege der Studierenden, also von Personen im Grund-, Haupt- und Promotionsstudium, die gegen anachronistische, unhaltbare und entwürdigende Zustände im Fach rebellierten und für ihre Überzeugungen Kopf und Kragen riskierten? Was nährte und nährt noch immer diese Ignoranz und welche sonderbaren Blüten treibt sie hervor?

 

4. Wenn Fachgeschichtsschreibung zum Ärgernis und Politikum wird

Die „Massenuniversität“, heißt es 1965 in der Tübinger Universitätszeitschrift Attempto, „ist eine Tatsache geworden“.[7] Professoren waren jetzt vor allem Lehrer und erst in zweiter Linie Forscher. Die geänderten Arbeitsbedingungen und die in diesem Jahrzehnt immer lauter werdenden Rufe nach Demokratisierung der Hochschulen zerstörten nach und nach die Gewissheit, zu einer exklusiven Geistesaristokratie zu gehören. Zum Ausgleich legten sich viele ordentliche Professoren eine Haltung zu, die Studierende der Geringschätzung aussetzte.

Ich will, bevor ich diese nicht akzeptable Haltung und ihre Auswirkungen für die Bewertung von studentischen Protestaktivitäten verdeutliche, daran erinnern, dass die Studierenden mit 80 Prozent die größte Statusgruppe an Hochschulen bilden und auf dem Weg durch das Promotionsstudium Schrittmacher*innen in Sachen Wissenschaftsgeschichte werden können. Modellhaft herausgegriffen sei die erste und bisher einzige Dokumentenzusammenstellung zu „1968 und die Germanistik“, vorgelegt im Jahr 1999 von Hartmut Kugler, Professor für Germanische und Deutsche Philologie und von 1997 bis 2001 Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes.[8] Sie beruht auf den Beständen des Deutschen Literaturarchivs Marbach und ist den Schwerpunktthemen „Notstandsgermanistik“, Berliner Germanistentag und Deutschunterricht gewidmet. Ich anerkenne Kuglers Leistung als Quellenherausgeber, kritisiere allerdings im Projektbeitrag Germanistik im Krisenmodus: Der Berliner Germanistentag 1968 in der Tages- und Wochenpresse. Eine bibliografische Expedition, dass die namentlich Genannten, angefangen von Karl Heinz Borck, Rudolf Henß und Hans Schorer über Walter Boehlich und Rolf Michaelis bis hin zu Martin Berg, Berthold Daerr, Wendula Dahle und Volker Wild, nicht vorgestellt werden, auch folgt die Grobeinteilung des Materials nicht konsequent dem Prinzip der Chronologie. Darüber hinaus kritisiere ich Kuglers Begleitinformationen, in denen kein Wort über die konkreten studentischen Forderungen verloren und zudem der Eindruck erweckt wird, das Go-in auf dem Germanistentag habe inhaltlich nicht die geringste Relevanz, womit ‒ sei es wissentlich oder nicht ‒ der Topos des dummen Studenten nach Art der Springerpresse bedient wird:

Die öffentliche Aufmerksamkeit tat dem geschmähten Fach irgendwie wohl, wenngleich sie weniger durch Fachleistungen und mehr durch studentischen Rabatz hervorgerufen war.[9] (Hervorhebung durch die Verfasserin)

Der gemeinsame Blick in die Geschichte ist für die Identität von Fachdisziplinen von gar nicht hoch genug zu veranschlagender Bedeutung. Gemäß dem 2016 bewilligten Graduiertenkolleg „Identität und Erbe“, beantragt von der Technischen Universität Berlin und der Bauhaus-Universität Weimar, bezeichnet Identität „nicht nur Konzepte positiver Selbstfindung und -bestimmung, sondern auch Konzepte zwangsweiser Eingrenzung und Ausgrenzung durch machtgestützte höhere Instanzen“. Wer die Vorgänge auf dem Berliner Germanistentag im Detail überblickt, erkennt sofort, dass Kugler Stimmungsmache und Diffamierung auf Kosten gut vernetzter, scharfsichtig beobachtender, entschlossener und couragierter Studierender betreibt, und zwar solchergestalt, dass die Protestierenden ‒ auf spekulativer Grundlage und ohne mit der Wimper zu zucken ‒ in die Ecke der Krawallmacher, Spinner und Versager gestellt werden.[10]

Warum kommt Kugler mit dieser unwahren Behauptung durch? Ein Motiv dürfte Bequemlichkeit sein: Ordinariengeschichte kann gestützt auf eine Bibliothek geschreiben werden; Wirkungszusammenhänge sind in Buchhandelsprodukten besser dokumentiert und damit leichter belegbar. Für andere Statusgruppen muss man sich mindestens ins Archiv, wenn nicht auf eine noch mühevollere Suche begeben. Fachgeschichtsforschung auf Professorenebene ist anschlussfähig, bedeutet Wahrnehmbarkeit und damit Karriereperspektive.

Kuglers fachhistorische Einlassungen sind in den Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes erschienen. Was sagt das über den Zustand dieses Faches und des Germanistenverbandes 30 Jahre nach dem Epochenjahr „1968“ aus? Wer hat ein Interesse daran, Abwertungsmuster in der Art von Kugler herunterzuspielen? Warum kommt generell in den fachhistorischen Darstellungen die Geschichte der Germanistikstudent*innen nicht angemessen vor? Wer hält an dem Paradigma fest, Wissenschaftsgeschichte müsse vornehmlich als eine Abfolge von methodischen und theoretischen Prämissen aufgefasst bzw. geschrieben werden, ein Grundsatz, bei dem die ordentlichen wie außerordentlichen Professoren und der akademische Mittelbau geradezu zwangsläufig ins Rampenlicht geraten? Eine Teilantwort auf diese Fragen findet sich in meinem Beitrag Das Münchener Assistenten-Flugblatt 1968/69 ‒ ein Dokument der Diskriminierungs- und Emanzipationsgeschichte, in dem die vorherrschende professorenfixierte Forschungsperspektive bewusst gemacht und gleichzeitig modifiziert wird.

Es sei an dieser Stelle in Erinnerung gerufen, dass bei einer sozialgeschichtlichen Herangehensweise Studierende und auch Frauen aus prinzipiellen Motiven integraler Bestandteil des Forschungsdesigns sind.

Umgekehrte Frageperspektive: Was machen Abwertungserfahrungen mit denen, die abgewertet werden? Was geht verloren?

Doch zurück zur Dokumentenzusammenstellung von Hartmut Kugler. Angesichts des Sachverhalts, dass in der Germanistik zwischen 1968 und 2018 viel zu selten Archivmaterial zur 68er-Geschichte des Faches aufgearbeitet wurde,[11] und angesichts des Tatbestandes, dass Studierende ein selbstverständlicher Teil des Faches und damit der Fachgeschichte sind, kommt Kugler das Verdienst zu, sich in beiderlei Hinsicht um die Bereitstellung von Primärquellen bemüht zu haben. Dasselbe gilt für den damals 23-jährigen Albrecht Goeschel mit seiner im Hanser Verlag erschienenen Quellendokumentation Richtlinien und Anschläge. Materialien zur Kritik der repressiven Gesellschaft (1968),[12] auf die Julian Klüttmann in seinem Beitrag Die Leserzuschrift „Mißbrauch mit dem Andenken der Weißen Rose“ des Ehepaares Völker in der Süddeutschen Zeitung vom 16. März 1965 und die Erwiderung des Rektors der Ludwig-Maximilians-Universität München rekurriert.

Besonders defizitär ist die Forschungslage zur Textsorte Flugblatt und hier insbesondere zu studentischen Flugblättern. Aus den oben genannten Gründen ist der gesamte Bereich der studentische Überlieferung ‒ Film- und Fotodokumente, Plakate, studentische Briefwechsel und Protokolle, Informationsblätter, Resolutionen, Fachschaftsinfos, Studentenzeitschriften, Reader, Broschüren, Raubdrucke ‒ mit wenigen Ausnahmen als Brachland zu bezeichnen. Verborgene Schätze finden sich nicht nur in öffentlichen Archiven, sondern auch in den Kellern und auf den Dachböden von Zeitzeug*innen, wie das Beispiel von Rudi Schmidt zeigt, der alle sechs Hefte der Zeitschrift Germanistik-Studium und andere Seltenheiten in seinem Besitz vorfand.

 

5. „Mit einem Schuss in die Geschichte“

Es ist erstaunlich, wie wenig Notiz die ältere und die jüngere Generation im Fach Germanistik von Benno Ohnesorg nimmt, auch wenn es mittlerweile mehrere nach ihm benannte Straßen und in Hannover eine Benno-Ohnesorg-Brücke[13] gibt.

„Mit einem Schuss in die Geschichte. Am 2. Juni 1967 wurde der Student Ohnesorg von einem Polizisten erschossen, die Studentenrevolte wurde zur Massenbewegung. Hätte alles ganz anders kommen können?“, so der Titel und Textanfang eines Artikels über Benno Ohnsorg, erschienen am 24. Mai 2009 in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit.[14]

 

Friederike Dollinger, Studentin der Geschichte und Altphilologie, beugt sich über den sterbenden Benno Ohnesorg. Die motivisch und kompositorisch an Pietà-Darstellungen erinnernden Tatortaufnahmen des Berliner Pressefotografen Jürgen Henschel wurden zu Ikonen der deutschen Studentenbewegung

Der damalige Germanistikstudent Hartmut Rosshoff befand sich in Hörweite, als der tödliche Schuss fiel. Laut Recherchen des Nachrichtenmagazins Der Spiegel flüchtete „der Demonstrant Hartmut Roßhoff“ (in der Geburtsurkunde ist der Familienname in der ß-Schreibweise eingetragen) gegen 20.30 Uhr in den Innenhof des Hauses Krumme Straße 66/67, verfolgt von den Staatsschutzbeamten Karl-Heinz Kurras, Kurt Werner und Helmut Starke, bis einer der Häscher ihn zu Boden riss. Ohnesorg und weitere Demonstranten beobachteten die Szene.[15] Etwa 30 Sekunden später fiel der Schuss, der das Zufallsopfer Ohnesorg in den Hinterkopf traf und ihm die Schädeldecke zertrümmerte. In seinem Projektbeitrag Politisch ist auch das Private! Subjektiver Rückblick auf ’68. Ein Brief in sechs Teilen lässt Rosshoff das traumatisierende Erlebnis noch einmal Revue passieren.

Ohnesorg war nicht irgendein Student, er war Germanistik- und Romanistikstudent. Sein Tod ließ Volker Wild auf die Barrikaden gehen und den Germanisten Peter Schütt, seit 1968 freier Schriftsteller, im Gefängnis das Gedicht Benno Ohnesorg zum Gedenken konzipieren. Bei denen, die an der Demonstration gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien und seiner Frau teilnahmen, löste sein Tod, um Rudi Schmidt zu zitieren, „einen weiteren, bei manchen einen gewaltigen Bewusstseinsschub“ aus. Am 6. Juni 1967 wurde eine am Vortag von 111 Assistenten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät sowie der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität beschlossene und von weiteren 263 Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern der FU, der TU und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung unterzeichnete Erklärung, der sich auch die PH Berlin anschloss, durch die Direktoren und Professoren Helmut de Boor, Joachim Bumke, Eckehard Catholy, Wilhelm Emrich, Eberhard Lämmert, Peter Wapnewski und 22 wissenschaftliche Mitarbeiter des Germanischen Seminars der FU einstimmig gebilligt und im Tagesspiegel vom 7.6.1967 veröffentlicht. Hierauf planten, wie aus einem Schreiben Marie Luise Gansbergs vom 12. Juni 1967 an den Physiknobelpreisträger Werner Heisenberg ersichtlich ist, die Briefverfasserin und ihr Kollege Paul-Gerhard Völker eine „Erklärung Münchner Hochschuldozenten“, die mit Unterschriftenliste versehen an die Berliner Universitätspräsidien, den Akademischen Senat wie auch den AStA der FU und an die Presse-Agenturen gesandt werden sollte; die Aktion kam aber offenbar mangels Zuspruch nicht zustande.[15a] Im Anschluss an einen Trauermarsch für Ohnesorg fanden sich am 8. Juni 1967 auf Einladung des Berliner Studentenausschusses in der Sporthalle im Niedersachsenstadion in Hannover mehrere tausend Studierende zum Kongress „Hochschule und Demokratie ‒ Bedingungen und Organisation des Widerstands“ zusammen,[16] auf dem auch Rudi Dutschke und Jürgen Habermas Reden hielten. Habermas war zu diesem Zeitpunkt ordentlicher Professor für Philosophie und Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er füllte, ohne sich dessen wahrscheinlich bewusst zu sein, jene Lücke, die die philologischen Professoren der FU nicht schließen wollten, und die der in Hannover anwesende Volker Wild als Sprecher der Studentenvertretung am Germanischen Seminar dieser Universität nicht schließen konnte.[17] Weitere Folgen des 2. Juni thematisiert Marc Silberman in seinem autobiografischen Bericht Ein Student der University of Minnesota erlebt an der Freien Universität Berlin das bewegte Jahr 1968.

Links unten im Bild Benno Ohnesorg und Friederike Dollinger, darüber auf dem handgeschriebenen Plakat die Parole „heute Ohnesorg, morgen wir“

Während der Abfassung dieses einleitenden Teils ließ mir der Zeitzeuge Holger Ambrosius sein Exemplar der Protestchronik von Kai Hermann[18] zukommen:

Die Revolte der Studenten, Hamburg: Christian Wegner Verlag 1967 (2. Aufl. 1968, 3. Aufl. 1968, Übersetzung ins Spanische 1968).

So bekam ich gerade noch rechtzeitig Kenntnis davon, dass Hermann im Hauptfach Germanistik studiert hatte, dies bestätigen die biografischen Angaben auf dem rückseitigen Umschlag des Bandes, der wie Dahrendorfs „Bildungsmanifest“[19] Aufnahme in die Schriftenreihe „Die ZEIT Bücher“ fand:

Kai Hermann | Geboren am 29. 1. 1938 in Hamburg. Studium der Germanistik, Geschichte und Soziologie in Tübingen, Hamburg und Vancouver (British Columbia). […] Seit 1963 in der politischen Redaktion der ZEIT. Theodor-Wolff-Preis („für hervorragende journalistische Leistungen“) 1964 und 1966. Seit 1966 Berliner Korrespondent der ZEIT.

Hermann stellte detaillierte Recherchen an, um die genaueren Todesumstände im Fall Ohnesorg zu ergründen. Die entsprechenden Ausführungen legte er im Abschnitt „Krumme Straße 66/67“ (S. 11‒13) des ersten Kapitels nieder. Daraus stammen die folgenden Textausschnitte:

Die Demonstranten wußten nicht, wer sie aus dem Dunkeln angriff […].
Die Studenten hatten nicht nur das Recht zur Gegenwehr, sondern nach dem Gesetz auch die Pflicht, bedrängten Kommilitonen zur Hilfe zu kommen. […]
Demonstranten drängten auf den Hof. […]
Unter ihnen war auch der 26jährige Student der Germanistik und Romanistik, Benno Ohnesorg. Ein Pazifist und aktives Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde, der zum erstenmal an einer Demonstration teilnahm. Freunden hatte er zuvor gesagt, er wolle einmal sehen, ob sich die Polizei wirklich so brutal benehme, wie ihm Kommilitonen berichtet hätten. Das, was er gesehen hatte, erregte ihn offenbar stark.

Ohne ein entwickeltes Bewusstsein für die verschiedenen Manifestationen von Gewalt ist ein Verständnis der politischen und sozialen Bewegungen im Jahrzehnt zwischen Kennedys Wahlsieg und Willy Brandts Kniefall nicht möglich. Dem im Folgenden wiedergegebenen Inhaltsverzeichnis der zweiten Auflage von Hermanns Protestbuch lässt sich entnehmen, dass der Verfasser das Thema Gewalt explizit zum Thema macht:

Personale Gewalt ist in physische und psychische Gewalt zu differenzieren. Zum Gegenstand gemacht wird die Gewaltproblematik von Manfred Windfuhr in einem Brief an mich vom 18.2.2021. Windfuhr, Jahrgang 1930, war von 1967 bis 1969 Ordinarius an der Universität Bonn und von 1969 bis 1992 Professor für Neuere Germanistik an der Universität Düsseldorf:

Ob also Ihr Band das letzte Wort zu diesem Thema ist, scheint mir fraglich, aber immerhin ein umfassender Situationsbericht. Daß ich mich von den Gewaltszenen und den extremistischen ideologischen Rändern nicht vertreten fühle, werden Sie verstehen.

Nicht zu bezweifeln ist Manfred Windfuhrs persönliche Integrität, herausgehoben der Stellenwert seiner Reformansätze an der gerade entstehenden Germanistik in Düsseldorf, dennoch bleibt der fundamentale Konflikt: Faktisch macht es einen beträchtlichen Unterschied, ob man Gewalt aktiv ausübt oder sich gegen gewalttätige Angriffe verteidigt, auch macht es einen gehörigen Unterschied, ob man auf Gewaltaktionen mit Verleugnung, Verharmlosung, Lügen und Drohungen reagiert oder ob man in dieser Beziehung unbequeme Wahrheiten und profunde Kritik an sich heranlässt und daraus die entsprechenden Konsequenzen zieht. Die Gewaltakte, die sich in den 1960er-Jahren auf Demonstrationen und Protestaktionen zutrugen und in die Studierende verwickelt waren, stehen in keinem Verhältnis zu Gewalttaten, die Todesängste und Todesschrecken auslösen wie das bei Benno Ohnesorg der Fall war, der mit seiner Frau ein Kind erwartete. Im Licht dieser Unterscheidung bewerte ich auch das Flugblatt der Kommune I, das zur Anklage wegen Aufforderung zu Bandstiftung führte. Der Text des Flugblatts mit der Überschrift „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ ist im Anhang von Hermanns Protestchronik abgedruckt (S. 147). Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Flugblatt und den Gutachten zum „Brandstifter“-Prozess leistet der Projektbeitrag Flugblatt-Hermeneutik. Die philologischen Gutachten im Prozess gegen die Kommune I 1967 von Jochen Strobel.

Die Brände in zwei Frankfurter Kaufhäusern am 2. April 1968 gehören zur Vorgeschichte der Roten Armee Fraktion (RAF). Unter dem Verdacht, die Brandsätze gelegt zu haben, wurden am 5. April 1968 die 27-jährige Berliner Germanistikstudentin Gudrun Ensslin, der 26-jährige Berliner Germanistikstudent Thorwald Proll, der 24-jährige Berliner Gelegenheitsjobber Andreas Baader und der Münchener Schauspieler Horst Söhnlein in Frankfurt festgenommen. Davon abgesehen weiß ich von keiner Verbindungslinie von Belang zwischen Germanistik und RAF außer der zwischen Gerhard Bauer, seit 1971 Professor für Neuere deutsche Literatur an der FU, und Horst Mahler, der 1970 die RAF mitgründete. 1974 wandte sich Mahler, seit 1970 in Haft, von der RAF ab und trat 1975 in die „Rote Hilfe e.V.“ der KPD ein. Jürgen Schröder erwähnt in seinem Projektbeitrag Berufsverbot für die FU-Professoren Gerhard Bauer und Horst Domdey? Die Broschüre „Wir bleiben dabei und wir bleiben drin!“ der Wahlaufruf-Unterzeichner für die KPD aus dem Jahr 1975 das im September 1975 gebildete Komitee „Freiheit für Horst Mahler“, für das sich Gerhard Bauer engagierte.

Auf meine Nachfrage teilte Jürgen Schröder mir mit, die kommunistisch ausgerichteten politischen Gruppen („K-Gruppen“) der 1970er-Jahre hätten sich von der RAF abgegrenzt, was sie nicht davon abhielt, die Gewalt der Massen zu unterstützen bzw. sich selbst an deren Stelle zu setzen und Gewalt auszuüben, wie etwa 1972 beim Roten Antikriegstag in München, 1973 bei der Rathausbesetzung in Bonn und später bei den Atomkraftwerken Brokdorf und Grohnde. Für Rudi Schmidt stellt sich die Frage, wie der hohe Anteil der Germanisten an der KPD/AO, einer der rigidesten Kaderorganisationen, zu erklären ist. Eine mögliche Antwort findet sich ganz am Ende des Projektbeitrages Die Assistenten-Flugblatt-Gruppe ‒ Aktionsfelder, Orte, Kommunikationskanäle.[20]

Das Transparent am Gebäude Boltzmannstraße 3, Sitz des Germanistischen Seminars der FU Berlin, entstand 1971 anlässlich eines fünftätigen Streiks gegen eine vom Senator für Wissenschaft und Kunst, Werner Stein (SPD), erlassene Verbotsordnung gegen drei Seminare des „Sozialistischen Studiums“.[21] Einer der von diesem Verbot betroffenen Seminarleiter, Horst Domdey, gehörte 1970 zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei Deutschlands/Aufbauorganisation (KPD/AO). Foto: Horst Siegmann, Aufnahmedatum: 2.2.1971, Landesarchiv Berlin: F Rep. 290 (05) Nr. 0145170

Hochschulpräsident*innen stehen in der Pflicht, für eine Hochschule als gewaltfreien Raum einzutreten. Die aktuelle Debatte in Frankreich über sexuelle Nötigung an Universitäten greift ein heikles, wenn nicht sogar tabuisiertes Thema auf. Den Problemzusammenhang „wer nimmt die dominanten Positionen ein und wo klaffen hinsichtlich der Umsetzung von Wahrheitsanspruch, Chancengleichheit, Fairness und Gewaltfreiheit zwischen Theorie und Praxis Welten?“ greift Hartmut Rosshoff in seinem Beitrag Mobbing, Seilschaften und Gruppendynamik. Kommentar und ein Appell auf. Ich selbst eröffne in der Rubrik „Nachkriegsgermanistik in der Kritik“ eine Diskussion über die Frage, ob die Germanistik einen Ethikkodex braucht, und erläutere im Zuge dessen, was ich unter Lernkultur verstehe und warum mich der Ausdruck „Fehlerkultur“ befremdet. Über meinen Vorschlag, einen Ethikkodex zu etablieren, lässt sich, dies zeigt das Beispiel anderer Wissenschaftsdisziplinen, nur gewinnbringend diskutieren, wenn der Deutsche Germanistenverband es in Betracht zieht, hierbei eine maßgebliche Rolle zu übernehmen. Der Verband war bis 2018/19 über seine 68er-Geschichte nicht ausreichend informiert, exemplarisch nennen möchte ich an dieser Stelle die „Aktionsgemeinschaft“ gegen eine autoritäre und manipulative Verbandspolitik auf und nach dem Germanistentag 1968. Gegenwärtig vermisse ich im Fach Germanistik ein überzeugendes Leitbild für die Zukunft, eines, das als Ankerpunkt für die nachfolgenden Generationen dienen kann. Wie lassen sich anachronistische Narrative überwinden? Denkanstöße in diese Richtung vermittelt Jana Hensel, Studium der Germanistik und Romanistik, tätig als Autorin und Journalistin:

Erkennt, dass ihr gerne nur über euch selbst redet. Erkennt, dass ihr die Geschichte und historischen Erfahrungen der anderen nicht richtig zur Kenntnis nehmt, geschweige denn zum Teil eurer Erzählung machen wollt. […]
Die strukturelle Ungleichheit in diesem Land zu verändern, ist eine Aufgabe, die alle angeht. Die Dominanz der Mehrheitsgesellschaft lässt sich vielleicht nur dann überwinden, wenn genau diese Mehrheitsgesellschaft anfängt aktiv auf Privilegien zu verzichten.[22]

 

6. Der Sammelband Der Geist der Unruhe ‒ Germanistik auf Weltniveau?

Zur Veröffentlichung von Forschungserträgen unterhält das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) Berlin, 2019 umbenannt in Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, die Reihe „LiteraturForschung“, seit ihren Anfängen, dem Jahr 1995, herausgegeben von Eberhard Lämmert,[23] dem Gründungsdirektor des ZfL, der sich auf den Deutschen Germanistentagen 1966 und 1968 exponierte, in München als Aufklärer, in Berlin als Vermittler. Im Wintersemester 1967/68 war Volker Wild sein Hilfsassistent.[24]

Hauptherausgeber der in jener Reihe erschienenen Aufsatzsammlung Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft ‒ Literatur ‒ Medien (Berlin: Akademie Verlag 2000) ist Rainer Rosenberg, 1936 in Braunau/Tschechoslowakei geboren, 1953 bis 1957 Studium der Germanistik in Jena, seit 1965 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für deutsche Sprache und Literatur und am daraus hervorgegangenen Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (ZIL), seit 1980 neben seiner Tätigkeit als Professor für deutsche Literaturgeschichte am ZIL auch Mitherausgeber der in diesem Jahr gegründeten Zeitschrift für Germanistik, anschließend von 1991 bis 2001 Professor am ZfL. In dieser Funktion leitete Rosenberg das Projekt „Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft“.[25]

Die in vier Teile untergliederte Publikation[26] umfasst fünfzehn Aufsätze, das Transkript „Zeitzeugen im Gespräch“ (S. 303‒333) eingerechnet. Dem eigenen Anspruch nach bezieht der Band die politischen und sozialen Bewegungen in den USA und in Westeuropa in die Betrachtung ein. Das gemeinsame Arbeitsziel wurde in die offene Frage gefasst, ob „‚1968‘ […] der Wert einer wissenschaftsgeschichtlichen Zäsur zukommt“.[27] Als läge darin kein Widerspruch, befasst sich der größere Teil der Beiträge nicht prioritär mit wissenschaftsgeschichtlichen Themen und ausgerechnet Rosenbergs eigener Beitrag widerlegt die Ausgangsthese mit ihrer Konzentration auf das Jahr 1968: Die sechziger Jahre als Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft. Theoriegeschichtlich. Wenn, wie im Kurztext auf dem Bucheinband postuliert, die Wissenschaft im Brennpunkt des Interesse der gemeinsamen Bemühungen hätte stehen sollen, warum wurden dann Vergleiche zwischen Wissenschaft, Literatur und Medien angestellt? Wäre es nicht zielführender gewesen, verschiedene Fachdisziplinen und Institute vergleichend zu betrachten, die Ergebnisse zu bilanzieren und darauf aufbauend Anschlussforschungen anzuregen, zum Beispiel zu entstehungs-, rezeptions- und wirkungsgeschichtlichen Aspekten und Zusammenhängen?

Ähnlich konfus, ja unverständlich nimmt sich das Resümee im Kurztext aus: „Diese Ansätze zusammengenommen, kommen die Autoren zu einer Bewertung von ‚1968’ als Geschichtszeichen, das weniger ereignis- als strukturgeschichtlich zu bewerten ist.“ (Hervorhebung durch die Verfasserin.) Im Klartext wird damit ausgedrückt: 1968 war politisch und soziokulturell bedeutsam und insofern ein „Geschichtszeichen“ (ein von Kant geprägter Begriff, im Streit der Facultäten von 1798 im Sinne von „signum rememorativum, demonstrativum, prognostikon“ gebraucht),[28] aber nicht nur wegen der Rebellierenden und der Folgen ihrer Einmischungen, sondern auch wegen der Modernisierungs- und Reformprozesse in den 1960er-Jahren, die einen Umbruch bedeuteten, weil sie Strukturänderungen bewirkten. Dem ist entgegenzuhalten, dass durch die Hereinnahme von längerfristigen Veränderungen und Trends in die Jahreszahl „1968“ diese ihre Funktion verliert, ebendas Jahr von anderen unterscheiden zu können. Ähnlich auch das Urteil des Historikers Detlef Siegfried:

Angesichts dieser Befunde, die unzweideutig auf eine länger andauernde Transformationsperiode verweisen, ausgelöst von veränderten gesellschaftlichen Problemlagen und internationalen Wissenschaftstrends, wird eigentlich immer undeutlicher, welche besondere Rolle dem Datum 1968 zuzumessen ist. [29]

Nicht aufgezeigt wird von Siegfried, welche Problematik dem Periodisierungsvorschlag Rosenbergs innewohnt. Dieser begreift nicht 1968, sondern die gesamten 1960er-Jahre als Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft,[30] eine Blickverschiebung, die faktisch auf eine Entpolitisierung und Bagatellisierung der Ereignisse des Jahres 1968 im Fach Germanistik hinausläuft. In Analogie zu „1789“ rechtfertigt die von vehementen Protesten begleitete Auflehnung gegen die herrschenden Verhältnisse und das „Establishment“, einhergehend mit der Forderung nach mehr Demokratie, Mitbestimmung, Solidarität und nach Eindämmung von Willkür, Unterdrückung und polizeilicher bzw. militärischer Gewalt, im Hinblick auf das Jahr „1968“ von einem Einschnitt zu sprechen. Jede einen Systemwechsel herbeiführende Revolution, jede spezifische Änderungen bewirkende Revolte hat ihre Vorbereitungsphase. Es macht daher sehr viel Sinn, die langfristigen Vorgänge mit dem bewegten Jahr 1968, dem Kulminationspunkt der Studentenrevolte auch in der Germanistik, in Bezug zu setzen.[31] Dagegen grenzt es an Verkehrung der Tatsachen und parteiische Einflussnahme, das eine gegen das andere auszuspielen.

Abgesehen von den dargelegten konzeptionellen Schwächen und historiografischen Unzulänglichkeiten liegen die Stärken des Bandes Der Geist der Unruhe eben gerade in der Darstellung langfristiger Prozesse,[32] in der transkribierten Podiumsveranstaltung „Zeitzeugen im Gespräch“ und in einigen neuen Themensetzungen.

 

7. 1968 als Ideenreservoir und Fortschrittsgenerator der Forschung

Dieser Abschnitt behandelt die Wirkung von 1968 auf die Literatur- und die Sprachforschung. Darüber müsste noch mehr geforscht werden. Die Achtundsechziger*innen und die Ereignisse um 1968 stehen für Revolte und globalen Aufbruch. Unter diesen Vorzeichen vollzog sich die Politisierung und Linksverschiebung des Faches, mit entsprechenden Folgen für Buch- und Zeitschriftenkonzeptionen,[33] Curriculum-Debatten und Kanonfragen. Die Kritik an der Literatur- und Sprachforschung[34] richtete sich gegen das Stehenbleiben bei formgeschichtlichen Untersuchungen[35] unter Außerachtlassung der sprachlichen Wirkmittel (Rhetorik),[36] die unreflektierte Weiterführung werkimmanenter Interpretationen bei gleichzeitiger Abtrennung des „sprachlichen Kunstwerks“ von seiner Wirkung, das unverbindliche Reden über Kunst in einer geschwollenen, predigthaften Redeweise, das fehlende Ethos der Quellenkritik und der Exaktheit im Methodischen, die Verweigerung zur Erinnerungsarbeit als einer Form der Aufarbeitung, das Nichtsichtbarmachen von Kritikwürdigem und die Skepsis gegenüber Aktion. Dagegen machte man Front, indem ein erweiterter Literaturbegriff proklamiert und im Verein mit kontextualisierenden Forschungsansätzen durchgesetzt wurde. Geistesgeschichte oder Kultur- und Ideengeschichte frei von Gesellschaftstheorie galt nun als Hochburg und Rückzugsort bürgerlicher Autonomievorstellungen vom Individuum. Für das Problem der sozialen Wirkmacht von Texten suchte Gansberg nach einer methodisch stringenten Lösung: „Erst eine Faktoren-Analyse, die alle miteinander in Vermittlung stehenden Elemente kalkuliert, kann die wichtigste Frage, nämlich die nach der gesellschaftlichen Kraft des ästhetischen Textes, wissenschaftlich korrekt beantworten.“[37] Auch der Herausgeber der auf einer bis dahin nicht erreichten breiten Quellengrundlage beruhenden Düsseldorfer Heine-Ausgabe legte der Methode als Überprüfungs- und Fortschrittsmöglichkeit großes Gewicht bei: „Die Edition stützt sich auf eine umfassende Quellendokumentation aus mehreren hundert öffentlichen und privaten Sammlungen aus allen Teilen der Welt. Bei der Textherstellung wird der auf maschinellem Weg erarbeitete Heine-Index eingesetzt und eine neuartige Methode zur Ermittlung des autornächsten Textes angewandt.“[38] Zur Erläuterung: Beim „Heine-Index“ handelt es sich um die EDV-gestützte Erstellung eines Wortindexes zu Heines Schriften. Die Aufwertung des Sozialen und Politischen, des Marxismus und der Wissenschaftstheorie wie der Theoriebildung überhaupt nährte das Interesse an Soziolinguistik und linguistischer Pragmatik, an Sprachmanipulation und Sprachbarrieren, an Gegenwartssprache und Textsortenforschung („Enthierarchisierung der Textsorten“), an Literatursoziologie als der „Wissenschaft von den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur“ (Wikipedia),[39] an Studien und Texten zur Sozialgeschichte der Literatur[40] und daraus resultierend an empirischer Leseforschung, an Gegenwartsliteratur- und -film, an Massenkultur und -medien, an politischen Figuren in fiktionalen Texten, die bestimmte politische und gesellschaftliche Grundkonflikte, Positionen und Stereotype verkörpern, an Ideologiekritik und an theoretischen Vordenker*innen auf den Gebieten Literatur, Philosophie und Wissenschaft. Wissenschaftliche Außenseiter wie Walter Benjamin wurden für das Fach zurückgewonnen, um es mit seinen Schattenseiten zu konfrontieren. Theorie begann die Methodendiskussionen so weit zu überlagern, dass der elementare Unterschied zwischen Methodik und Theorie in späteren Jahren zunehmend ignoriert oder als unerheblich eingestuft wurde.[41] Den Spagat zwischen Theorie und Praxis versucht die Zeitschrift Kulturrevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie (Klartext Verlag, Essen).[42] Zur Triebfeder wurde die 68er-Bewegung auch für die Exilliteraturforschung, für die Erforschung jüdischer Kultur und jüdischer Intellektueller, für Forschungen zu den Themenstellungen „Emanzipation und männliche bzw. weibliche Autorschaft“ und „Revolution und Widerstand in der Literatur“ und sicherlich auch für einzelne Zweige der Utopieforschung.

Zum oben Ausgeführten noch einige ergänzende und erläuternde Hinweise. Ich bin der Ansicht, dass Neuerungen in den Bereichen Fachdidaktik, Literaturdidaktik, Sprachdidaktik weniger als germanistische Fortschritte denn als Beiträge zur Unterrichtsforschung als einem Teilgebiet der Erziehungswissenschaft zu werten sind. Auch vertrete ich die Position, dass Logik, Methodik und Stichhaltigkeit unverhandelbare Kennzeichen von Wissenschaftlichkeit sind. Theorie hingegen ist kein notwendiges Kriterium für Wissenschaftlichkeit. Andererseits hat auch Theorie die genannten Kritierien zu erfüllen, wenn sie als wissenschaftlich gelten will. Der Innovationsgrad quellengestützter Grundlagenforschung ist in der Regel besonders hoch, dasselbe gilt für bedeutende Textfunde, neu erschlossene Gegenstände oder Thematiken und echte methodische oder theoretische Neuerungen. Im Unterschied zu originärer Innovation leben Methoden- und Theorieübernahmen von der Innovationsfähigkeit anderer. Sofern solche adaptiven Transferprozesse mit einem unbestreitbaren Erkenntnisgewinn verbunden sind, schlage ich hierfür den Terminus „Sekundärinnovation“ vor.

 

8. Fazit

Der gemeinsame Blick in die Geschichte des Faches Germanistik formt dessen Identität. Die Ereignisse des Jahres „1968“ werden auch künftig zum Verständnis des Entwicklungsgangs dieser Fachdisziplin unumgänglich sein, deren Teilfach germanistische Linguistik sich zum damaligen Zeitpunkt noch nicht institutionell verselbständigt hatte. Nie zuvor sind so viele Germanistikstudierende so entschieden für ihre Belange eingetreten. Niemals sind so viele Germanistikstudierende mit teilweise drastischen Mitteln und gesellschaftskritisch argumentierend gegen alles angegangen, was ihnen anachronistisch, problematisch und die wahren Ursachen von repressiver und imperialistischer Machtausübung verdeckend erschien. Mehr denn je erhob sich im Mittelbau Widerspruch gegen Zustände, die als willkürlich, experimentierfeindlich, innovationsverhindernd und dem Demokratie- und Rationalitätsgedanken hohnsprechend empfunden wurden, wobei die Widerrede von Fall zu Fall auch gegen die Rebellierenden gerichtet sein konnte. Wie nie zuvor waren die privilegienverwöhnten Ordinarien, ihr Festhalten an Traditionsrelikten, ihr Kastenbewusstsein und der von ihren Zwecken dominierte Deutsche Germanistenverband einer derart vehementen Kritik unterworfen und durch die Presse so sehr dem Urteil der Öffentlichkeit ausgesetzt (soweit mir bekannt, wurde die seinerzeitige dramatische Unterrepräsentation von Frauen im Mittelbau und in Führungspositionen der Germanistik 1968 noch nicht öffentlich angeprangert). Mit teilweise blamablen Vorurteilen und Scheren im Kopf ging die Fachgeschichtsforschung nach 1971 über zentrale Ereignisse, Handlungsmotive, prozessuale Zusammenhänge, Quellensegmente,[43] Resultate und Nachwirkungen des Schlüsseljahres 1968 hinweg oder stellte die auf institutionelle Selbstreflexion und Veränderungen dringenden Germanistikstudierenden so dar, als müsse man gerade sie, nicht anders als die Avantgardefunktion bestimmter Zeitungsartikel, Nachrichtenblätter und linker Zeitschriften wie auch die bahnbrechende Rolle der Assistenten-Flugblatt-Gruppe und der Assistentenbewegung, nicht (allzu) ernst nehmen und als hätten die streitbaren Studierenden inneruniversitäre Reformprozesse maximal beschleunigt, während in Wahrheit neben vielen kleinen auch große und weitreichende Neuerungen, Anstöße und Liberalisierungen auf sie zurückgehen und etliche Professor*innen nachweislich von ihnen lernten (eventuell bis hin zu Ausbeutung und Copyrightverletzungen) oder ihnen sogar ihre Karriere verdankten. Wann kann von einer funktionierenden Fachgeschichtsschreibung gesprochen werden? Es ist zu hoffen, dass sich nachfolgende Fachhistoriker*innen von der Tendenz zum „Herrscherlob“[44] und Parteiischsein und von der Neigung zur individuellen und kollektiven Selbststilisierung zum Nachteil und Schaden anderer lösen können und Sorge für eine bessere Wissenschaft tragen.

Anmerkungen

[1] Die feministische Literaturwissenschaft war eine sich im Sinne feministischer Ziele parteilich zeigende Richtung innerhalb der Literaturwissenschaft, die trotz ihres schwach bis gar nicht ausgeprägten Interesses an einem klar umgrenzten Gegenstandsfeld, einer präzisen wissenschaftlichen Terminologie und einer wissenschaftlichen Ethik der Fachcommunity und der interessierten Öffentlichkeit wichtige Impulse vermittelte, zum Beispiel schufen Vertreterinnen dieser Richtung ein hohes Problembewusstsein für die Produktionsbedingungen und Erfahrungen von schreibenden und publizierenden Frauen und mischten sich in notwendige Kanondiskussionen ein. Die feministische Literaturwissenschaft verlor fast über Nacht an Geschlossenheit und institutionellem Erfolg, als der Terminus „Gender“ um die Mitte der 1990er-Jahre in Richtung Gleichsetzung mit dem Begriff „Geschlecht“ überdehnt und zunehmend überfrachtet wurde, um das Erkenntnismonopol und die Definitionsmacht an die so verfahrenden Sprachnutzer*innen in den Bereichen „Genderforschung“ und „Genderstudiengänge“ binden zu können (ein bekanntes Zitat von Heiner Geißler macht den Endzweck von Sprachpolitiken deutlich: „Wer die Begriffe besetzt, besetzt die Köpfe“). Ich stufe die skizzierte Entwicklung in ihrer Wirkung als manipulative Machtstrategie ein, was auf schwerwiegende Mängel in der wissenschaftlichen Selbstkontrolle hinweist.

[2] Im Anschluss an den Gansberg-Artikel konzipierte und verfasste ich bis 2020 vier weitere Wikipedia-Artikel, in denen Gansbergs Name fällt: „Methodenkritik der Germanistik“ (gemeinsam mit dem Germanistikstudenten Matthias Niederberger), „Texte Metzler“ sowie die zwei Langartikel „Paul-Gerhard Völker“ (unterstützt von der germanistischen Mediävistin Gisela Kornrumpf) und „Feministische Literaturwissenschaft“.

[3] Ralph Erbar: Zeitzeugen befragen und hinterfragen, in: Michael Sauer (Hrsg.), Spurensucher. Ein Praxishandbuch für historische Projektarbeit, Hamburg: Edition Körber 2014, S. 109‒125, hier S. 113.

[4] Vgl. Paul Hocks: Bibliographie als integrierter Bestandteil einer Literaturwissenschaft, in: Dieter Breuer, Paul Hocks, Helmut Schanze (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Eine Einführung für Germanisten, Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein 1972, S. 391‒400.

[5] Ich selbst profitierte namentlich vom „Verfasserregister“ und den Unterpunkten „3.2 Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ und „6.14 BERLIN 1968 ‒ AK Sprachbarrieren“.

[6] Volker Wild fernmündlich an mich am 17.2.2021.

[7] Otto Friedrich Bollnow: Die Arbeit der Planungskommission, in: Attempto. Nachrichten für die Freunde der Tübinger Universität 17/18, 1965, S. 32‒35, hier S. 32.

[8] Im Nachlaß nachgelesen: Berliner Germanistentag ‒ Notstandsgermanistik ‒ Deutschunterricht. Eine Dokumentation, zusammengestellt von Hartmut Kugler, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 46, 1999, Heft 1: 1968 und die Germanistik. Eine Nachlese [hrsg. vom Deutschen Germanistenverband, Fachgruppe Hochschule. Verantwortlich für dieses Heft: Petra Boden und Hartmut Kugler], S. 80‒122.

[9] Ebd., S. 80.

[10] Vorurteile, welcher Art auch immer, müssen ernst genommen werden, da sie das Fach bis in die Berufungspolitik hinein prägen.

[11] Zu den Ausnahmen gehört Jörg Schönert, von 1983 bis 2007 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg.

[12] Den Auftakt der broschierten gelb-schwarzen „Reihe Hanser“ bildeten die Reiseaufzeichnungen Die Stimmen von Marrakesch (1967) von Elias Canetti. 1968 sind in dieser renommierten Taschenbuchreihe folgende Bände erschienen: Bd. 2: Régis Debray: Die Grenze. Ein gewiefter Bursche. Zwei Erzählungen, Bd. 3: Marx-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Zusammengestellt von Maximilien Rubel, Bd. 4: Dmitrij Lichatschow: Nach dem Formalismus. Aufsätze zur russischen Literaturtheorie. Hrsg. von Alexander Kempfle, Bd. 5: Erich Fried: Zeitfragen. Gedichte, Bd. 6: Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum und andere Schriften. Ausgewählt von Hans G. Helms, Bd. 7: Reinhard Lettau: Feinde, Bd. 8: Tadeusz Różewicz: Entblößung. Erzählung, Bd. 9: Richtlinien und Anschläge. Materialien zur Kritik der repressiven Gesellschaft. Hrsg. von Albrecht Goeschel, Bd. 10: Stanisław Jerzy Lec: Letzte unfrisierte Gedanken. Aphorismen. Hrsg. von Karl Dedecius, Bd. 11: Günter Kunert: Die Beerdigung findet in aller Stille statt. Erzählungen, Bd. 12: Peter Hamm (Hrsg.): Kritik ‒ von wem/für wen/wie. Eine Selbstdarstellung deutscher Kritiker.

[13] Kenntnis vom Namen dieser Brücke erhielt ich durch Kai Köhler.

[14] Verfasser des Artikels ist Uwe Schicht.

[15] Dokumentation: Berliner Flugblätter [Studentenunruhen, Benno Ohnesorg; hrsg. von der LOG-Redaktion Berlin], 2 Tle., Marburg: LOG-Verlag 1967 (2. Aufl. 1967). Jürgen Dahlkamp, Sven Röbel, Michael Sontheimer, Uwe Soukup, Holger Stark, Peter Wensierski: Aus kurzer Distanz, in: Der Spiegel, 23.1.2012, S. 36‒45, hier S. 40. Vgl. auch Uwe Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967, Berlin: Verlag 1900 2007. Ders.: Der 2. Juni 1967. Ein Schuss, der die Republik veränderte, Berlin: Transit 2017. Ferner: Hans-Wolf Jäger: Machtinstrument oder Wissenschaft oder schafft Wissen Macht. Germanistik und Gesellschaft, in: Münchner Studentenzeitung (MSZ) 3, 1969, Nr. 1, Januar 1969, S. 6. Uwe Timm: Der Freund und der Fremde, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005.

[15a] Der maschinenschriftliche Text der Münchener Erklärung ist in zwei Absätze unterteilt: „Wir, Professoren und Assistenten der Universität München [,], schließen uns der Erklärung an, die von rund 400 Professoren, Assistenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern der FU, TH [= TU], PH Berlin und dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung unterschrieben und durch die Presse in einer Anzeige veröffentlicht wurde (Tagesspiegel vom 7.6.67). | Im Demokratisierungsprozeß westdeutscher Hochschulen scheint uns das Berliner Modell der FU beispielhaft zu sein, sein Status als Grundlage weiterer Reformen darf nicht angetastet werden. Die Erlärung hat folgenden Wortlaut: [es folgt die ausgeschnittene und linksbündig aufgeklebte Zeitungsanzeige]“. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Nachlass Werner Heisenberg, Signatur: Abt. III., Rep. 93, Nr. 172, S. 179‒182.

[16] Bedingungen und Organisation des Widerstandes. Der Kongreß in Hannover. Protokolle, Flugblätter, Resolutionen [Redaktion: Uwe Bergmann im Auftrag des AStA der FU Berlin und des Republikanischen Clubs e. V., Berlin], Berlin: Voltaire-Verlag 1967 (2. Aufl. 1968).

[17] Vgl. Jürgen Habermas: Universität in der Demokratie ‒ Demokratisierung der Universität, in: Universität und Demokratie. Universitätstage 1967. Veröffentlichung einer Vortragsreihe der Freien Universität Berlin am 19. und 20. Januar 1967, Berlin: De Gruyter 1967, S. 67‒79; erneut abgedruckt in: ders., Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969 (3. Aufl. 1970; Sonderausgabe mit einer Nachbemerkung von Alexander Kluge 2008), S. 108‒133.

[18] Bekannt wurde Hermann mit dem vom Magazin Stern herausgegebenen Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1978), das er zusammen mit Horst Rieck recherchierte hatte.

[19] Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg: Nannen 1965 (2. Aufl. 1966, 3. Aufl. 1968). Dahrendorf und Georg Picht stehen im Mittelpunkt des 2006 neu angelegten Wikipedia-Artikels „Bildungskatastrophe“. Am 1.7.1965 begannen die bundesweiten Protestdemonstrationen der Studierenden gegen den Bildungsnotstand.

[20] Vgl. auch das Interview, das Wolfgang Müller-Funk mit Helmut Lethen anlässlich des Erscheinens von dessen Autobiografie Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen (Berlin: Rowohlt 2020) für die österreichische Tageszeitung Der Standard geführt hat: Politisches Lagerdenken, Hierarchien und toxische Denker: Der Germanist Helmut Lethen spricht über die dunklen Seiten des Jahres 1968, URL: https://www.derstandard.at/story/2000125889240/alt-68er-helmut-lethen-wir-haetten-es-wissen-koennen (17.4.2021).

[21] Die Seminare des Sozialistischen Studiums der Roten Zelle Germanistik WS 1970/71 [Redaktion: KPD-Aufbauorganisation, Proletarische Linke/Parteiinitiative (PL/PI), ROTZEG, ROTZING, ROTZÖK], in: Rote Presse Korrespondenz 2, 1970, Nr. 88, 30.10.1970, S. 11‒15.

[22] Andreas Krieger: Die Gesellschaft der Anderen, BR-Fernsehen, 25.1.2021, URL: https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/puzzle/die-gesellschaft-der-anderen-puzzle-100.html. Anlass für das Gespräch mit Hensel war die folgende Buchpublikation: Naika Foroutan, Jana Hensel: Die Gesellschaft der Anderen, Berlin: Aufbau Verlag 2020.

[23] Lämmert war von 1961 bis 1970 Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der FU Berlin.

[24] Mitbedingt dadurch, dass Volker Wild zum damaligen Zeitpunkt Umfragen unter den Studierenden des Germanischen Seminars durchführte, tauschten er und sein Dienstherr sich auch über die Reform des Germanistikstudiums aus. Die turbulenten Ereignisse im Laufe des Jahres 1968 führten dazu, dass Wild von Lämmert nicht weiterbeschäftigt wurde. Man ging aber nicht im Groll auseinander.

[25] Zur Mitarbeit am genannten Sammelband lud Rosenberg Petra Boden, 1973 bis 1978 Studium der Germanistik und Anglistik an der Humboldt-Universität Berlin, und Inge Münz-Koenen, 1962 bis 1967 Studium der Theater- und Musikwissenschaft an derselben Universität, ein. Beide treten als Mitherausgeberinnen in Erscheinung.

[26] Die vier Teile tragen folgende Überschriften: I. Aktionszeit ‒ Reflexionszeit. Erfahrungsverarbeitung und Theoriebildung in den politischen und sozialen Bewegungen. Westeuropa und die USA; II. Grenzüberschreitungen und Grenzbefestigungen. Zur Literaturwissenschaft der sechziger und siebziger Jahre in Ost und West; III. „1968“ im Osten. Zu Literatur und Medien; IV. Podiumsgespräch.

[27] Das Zitat ist dem nicht vom Verlag stammenden Kurztext auf der Rückseite des Buchumschlags entnommen.

[28] Heinz-Dieter Kittsteiner: Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren, in: ders. (Hrsg.), Geschichtszeichen, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1999, S. 81‒115.

[29] Detlef Siegfried: Forschungsbericht 1968, URL: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-4078 (12.12.2002).

[30] Vgl. Martin Broszat (Hrsg.): Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; 61), München: Oldenbourg 1990.

[31] Ich greife beispielhaft heraus: David Roberts: Erzählungen der Modernisierung. Die Studentenbewegung und der gesellschaftliche Wandel in Deutschland, in: Rainer Rosenberg, Inge Münz-Koenen, Petra Boden (Hrsg.), Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft – Literatur – Medien, Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 61‒82.

[32] Im gleichen Jahr wie Der Geist der Ruhe erschien von geschichtswissenschaftlicher Seite der Sammelband: Axel Schildt, Detlef Siegfried, Karl Christian Lammers (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften (Hamburger Beiträge für Sozial- und Zeitgeschichte; 37), Hamburg: Christians 2000.

[33] Die skizzierte Entwicklung hatte im Publikationsprozess auch Auswirkungen auf die Einbandgestaltung, die Typografie, die Wortwahl (z.B. „Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur“), die Ausstattung, die Preisgestaltung und anderes mehr.

[34] Für in dieser Hinsicht unverzichtbare Hinweise danke ich Helmut Schanze und Jörg Schönert.

[35] Ein sehr bekanntes Beispiel (in vierter Auflage 1973 erschienen): Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Bd. 1: Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache. Der Wandel der literarischen Formensprache vom Mittelalter zur Neuzeit [mehr nicht erschienen], Hamburg: Hoffmann und Campe 1949. Vgl. Klaus L. Berghahn: Wortkunst ohne Geschichte. Zur werkimmanenten Methode der Germanistik nach 1945, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur [University of Wisconsin] 71, 1979, S. 387–398.

[36] Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern: Francke 1948. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2 Bde., München: Hueber 1960. Ders.: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, 2., wesentl. erw. Aufl. ebd. 1963. Klaus Dockhorn: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode [Rezension], in: Göttingische gelehrte Anzeigen 218, 1966, S. 169–206. Adam Müller. Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland. Mit einem Essay und einem Nachwort von Walter Jens, Frankfurt am Main: Insel 1967. Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg: Buske 1971. Dieter Breuer: Pragmatische Textanalyse, in: ders., Paul Hocks, Helmut Schanze (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Eine Einführung für Germanisten, Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein 1972, S. 213‒340. Helmut Schanze (Hrsg.): Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom 16.‒20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Athenäum-Fischer-Taschenbuch-Verlag 1974, S. 7–16 (Einleitung). Von deutscher Republik 1775–1795. Texte radikaler Demokraten, hrsg. von Jost Hermand, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975 (die zweibändige Originalausgabe erschien 1968 im Insel Verlag).

[37] Marie Luise Gansberg: Zu einigen populären Vorurteilen gegen materialistische Literaturwissenschaft, in: dies., Paul Gerhard Völker, Methodenkritik der Germanistik. Materialistische Literaturtheorie und bürgerliche Praxis, 4., teilw. überarb. Aufl. Stuttgart: Metzler 1973 (1. Aufl. 1970), S. 7‒39, hier S. 8.

[38] Manfred Windfuhr (Hrsg.): Heinrich Heine – Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, 16 Bde., Hamburg: Hoffmann und Campe 1973–1997. Das Zitat entstammt dem Klappentext.

[39] Die Ursprünge der literatursoziologischen Betrachtung gehen sehr viel weiter zurück. Vgl. Jürgen Scharfschwerdt: Grundprobleme der Literatursoziologie. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Überblick, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1977.

[40] „Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur“ lautet der Titel einer 1981 eingerichteten Buchreihe, die bis 2009 im Max Niemeyer Verlag, Tübingen, erschien. ‒ Rainer Rosenberg zufolge lassen sich in den Vorlesungsverzeichnissen der FU Berlin ab dem Sommersemester 1959 Lehrveranstaltungen zur Sozialgeschichte der Literatur nachweisen. Es wird erkennbar, dass das Interesse an sozialgeschichtlich fundierten Textanalysen und literaturgeschichtlichen Synthesen zwischen 1969 und 1972 deutlich anstieg und damit indirekt die 1976 erfolgende Gründung einer eigenen Fachzeitschrift zu dieser methodischen Akzentuierung beförderte, in Rede steht das Internationale Archiv für Sozialgeschichte der Literatur. Rainer Rosenberg: Die sechziger Jahre als Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft. Theoriegeschichtlich, in: Rainer Rosenberg, Inge Münz-Koenen, Petra Boden (Hrsg.), Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft – Literatur – Medien, Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 153‒179, hier S. 176f.

[41] Das Ganze geht so weit, dass zum Beispiel die Vorgehensweisen und Theorieangebote psychoanalytischer Schulen von den einen undifferenziert als „Methoden“, von den anderen unterschiedslos als „Theorien“ bezeichnet wurden. Nachlässigkeiten dieser Art weisen auf schwerwiegende Mängel in der wissenschaftlichen Selbstkontrolle hin.

[42] Das Periodikum war 1982 von Jürgen Link und Ursula Link-Heer in der Absicht gegründet worden, eben jene Lücke zu schließen, die durch die Einstellung der Zeitschrift Alternative, 1964‒1982 herausgegeben von Hildegard Brenner, entstanden war.

[43] Zu den Stiefkindern gehören die studentische Überlieferung, Datenquellen zu Frauen, ungedrucktes Material und Bild- bzw. Tonquellen. Ich will zu bibliografischen Kleinpublikationen anregen, die auf der Basis jeweils einer öffentlichen oder privaten Sammlung erstellt werden und eine Übersicht über das hier befindliche einschlägige Material vermitteln. Sich mit dem Forschungsstand zur 68er-Germanistik zu befassen, bedeutet immer auch Auseinandersetzung mit der Frage, ob Quellenerschließungsarbeit geleistet wurde und wenn ja, in welchem Umfang.

[44] Vgl. für das Genre Festschrift die Bemerkungen von Peter Burschel, Mark Häberlein, Volker Reinhardt, Wolfgang E. J. Weber, Reinhard Wendt: Zum Geleit, in: dies. (Hrsg.), Historische Anstöße. Festschrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag am 10. April 2002, Berlin: Akademie-Verlag 2002, S. 9–12, hier S. 9f.: „Nimmt man die vorliegenden Festschriften genauer unter die Lupe, so zeigt sich allerdings, daß die affirmative Komponente in der Regel deutlich überwiegt. Beteiligte sind nahezu ausschließlich bewusste Anhänger des Geehrten, kaum kritische Wegbegleiter. Ihre Auswahl bemisst sich in erster Linie nach der Prominenz. Nüchtern gehaltene Geleitworte sind eher selten; gelegentlich geraten die Formulierungen tatsächlich in die Nähe derjenigen literarischen Gattung, die der kritische Romanist Manfred Franzbach als ‚Herrscherlob‘ gekennzeichnet hat.“