1.-9.5.2018 – kein Wonnemonat

1.5.2018

Und ich frag mich, wie’s weitergeht und wo.
Die Maisfelder sind leer und trocken, wir laufen querfeldein in das rote Nachleuchten der gerade untergegangenen Sonne. Wie laufen, bis es dunkel wird, treffen auf dem Heimweg zwei Rehe, die ins Gebüsch am Wald flüchten, wir sind kaum zuhause, da fällt ein Schuss. Sofort steht Yalla an der Haustür, will hinein, verrollt sich in ihrer Sofaecke. Ich bleibe draußen, es fällt kein Schuss mehr. Rufe, die von Eulen kommen müssen. Dann ein Kampf mit schrillem – verzweifeltem? – Kreischen, da ist einer stärker als der andere. Aber der Schwächere kämpft. Und dann nicht mehr.
Um halb sechs ist es morgens zum Wachwerden laut. Morgenlied haben die Jäger dazu gesagt, danach sind sie von der Kanzel heruntergestiegen und heimgefahren, um zu schlafen. Das mache ich auch, als es leiser wird, bis mein Tag anfängt.

2.5.2018 

Vietnamveteranen in Vietnam zum fünfzigsten Jahrestag. Schuld und Schuldgefühle. Keine Schuldzuweisungen. Das ist möglich.
Hier, heute: von Süden der Duft von den Azaleen, von Westen vom Flieder. Ich bin mittendrin. Als gäbe es nichts anderes hinter meinem Horizont.

3.5.2018 

In dieser Nacht hatte ich nur Timbuktu im Kopf. Die Vögel? – na ja, wie immer.
Mahamanes Mail ist noch am Abend gekommen. Er ist müde, krank und ohne Geld und Geschenke – mit leeren Händen – nach Hause gekommen. Alles haben die Banditen genommen.
Immer dasselbe Problem, schreibt er, sie leben in harten Zeiten. Die Stadt sei ruhig geworden, die Menschen bewegen sich kaum mehr. Selbst die Nahrung ist ein Problem. Als er schreibt, ist nichts mehr zu essen im Haus, er braucht Geld für Reis und Hirse.
Auf unserem gewohnten Feldweg bin ich heute laut, weil wütend geworden. Das passiert wirklich nicht oft.
Ich habe von den falschen Blauhelmen, den Banditen, in Timbuktu gesprochen, weil ich – wie gesagt – nichts anderes im Kopf hatte. Da habe ich etwas losgetreten: eine Schimpfkanonade, die erst aufhört, als ich bei meinem Garten ankomme. „Das Pack soll heim und erst mal die Korruption abschaffen!“ In Ellwangen haben 200 Migranten, vorwiegend Afrikaner, die Abschiebung eines Togolesen, mit Gewalt verhindert, und der Togolese ist untergetaucht.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer taucht auf: Könnte von dort die nötige Revolution herkommen? Verschwindet aber schnell wieder – wie so oft. Weil es in Deutschland doch keine Revolution geben kann, wie Lenin gemeint hat, weil doch der Rasen nicht betreten werden darf.
„So weit kommt’s, dass die unserer Polizei das Handwerk legen!“
„Uns geht es gut, weil es denen schlecht geht,“ sag ich wie immer an dieser Stelle. Und wir machen ihren Markt immer weiter kaputt und verdienen gut daran. Mit unserem erfolgreichen kapitalistischen System.
Mal wieder bin ich davon überzeugt, dass die Welt kippen muss.
Dass Marx noch nie so richtig war wie heute, ist zu seinem 200. Geburtstag von allen Seiten zu hören. Endlich. Bin ich mir doch schon fast übriggeblieben vorgekommen.
Ich frage mich einmal wieder, warum wir diesen Weg zusammen gehen. Vielleicht um diesen Streit zu streiten. Irgendwas muss doch mal kleben bleiben, denke ich.
Manchmal habe ich noch nichts gegessen. Wenn ich das sage, kommt: „Das könnte ich nicht! Ohne Frühstück mit dem Hund gehen!“ Das könnte sie nicht.
Mir graut immer bei den Mengen, die ich jede Woche ins Haus schleppen muss, nachdem ich in den Überfluss gegriffen habe. Und das willst du alles aufessen?!? frage ich mich. Muss das so sein? Ich weiß es – noch – nicht.

Ich kann mein Müsli nicht recht genießen – das Wichtigste hierzulande heutzutage! – wenn ich daran denke, dass ein Freund in seiner Stadt herumläuft und nicht nach Hause geht, weil er nichts zu essen für die Familie hat.  

Ich schicke erst mal 100 € nach Timbuktu statt der gewünschten 200 und hoffe, dass Mahamane sich dann für Essen an Stelle von Geschenken entscheidet. 

Gleicher Meinung sind wir über die Bauern, die für diesen Frühling breite und weite Ackerränder vergiftet haben, das Gras leuchtet gelb. Wir werden Fotos machen und sie an die Zeitung, den Bürgermeister und Landräte schicken. Vielleicht kann ich das Gefühl von Hilflosigkeit in Sinnlosigkeit überwinden, wenn ich nicht allein bin mit meiner Wut.

Als ich am Nachmittag vom Schwimmen kam lag auf meinem Tisch eine Büchersendung: Mungo Park: Reise ins Innere von Afrika. Der Briefträger – der Mann meiner Hundefreundin – war da. Meine freundliche Postaußenstelle. Unschätzbar – ich muss wegen der Bücher nicht in die Stadt.
So werde ich wohl noch manchmal streiten müssen. 

4.5.2018

Ich habe die Fotos gemacht: Diedorfs „blühende“ Ackerränder. Anfang nächster Woche schicke ich sie zur Gemeinde und auch an den BUND und NABU in dieser Region.

Sie haben den Togolesen eingefangen, natürlich. Der kommt ihnen nicht mehr aus, als er in Italien ist. Ein Riesenaufgebot gegen gefürchteten Widerstand. Wie lächerlich das aussieht.
Und die FAZ findet die Abschiebezentren gut. Klar.

Wieder hat ein Freund Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich weiß es schon, da lebte Paul noch.
Nach dem ersten Chemozyklus ging es Rolf besser, er kam allmählich wieder ein bisschen zu Kräften.
Inzwischen ist Paul gestorben.
An meinem Geburtstag habe ich gesagt: Heute gefällst du mir viel besser! Und Rolf hat gelacht, es sah fast wie Freude aus. Und wir wollten uns bald wieder treffen.
Ziemlich tollpatschig, wie ich jetzt finde, habe ich wieder dazu eingeladen, unseren Ginsterausflug zu wiederholen, der im vorigen Jahr am Ende des ersten Chemozyklus so wunderschön war. Jetzt kommt die Absage: Die Tumormarker melden Metastasen in der Leber. Noch einmal: Chemo – Pause – Chemo – Pause – Chemo.
Ich kann nichts fühlen außer starrender Ratlosigkeit mit Kopfschütteln. 

Es soll ja möglich sein, dass man mit Musik Zugang zu verborgenen Gefühlen finden kann. Ich habe nach einer Trommel gegriffen, als ich zu wählen hatte. Laut soll es sein und noch lauter. Nur wenn Moritz von mir verlangt, laut und fest draufzuschlagen, überwinde ich mich und versuche es, um bald wieder leise zu werden bis zum Verstummen. Alle Versuche laufen so, ich will lieber leise und immer leiser werden, bis die Finger auf der Trommel liegen bleiben.

Das mache ich ein paarmal so. Dann höre ich auf.
Es hätte eine Übung zur Selbstwirksamkeit sein sollen. Vertrauen, dass meine Äußerungen gesehen, gehört und wahrgenommen werden. Hab ich mir gedacht.
Selbstwirksamkeit. Das Wort habe ich letztes Jahr zum ersten Mal verstanden. Dabei muss es das doch schon gegeben und ich müsste es gehört haben, oder nicht?
Vielleicht hilft es ja zu merken, dass es auch anders sein kann. Vielleicht. 

5.5.2018

Abends, wenn die Stimmen der Vögel sich immer weiter in den Wald zurückziehen, muss ich mich entscheiden: Will ich lauschen oder will ich riechen? Die Töne kommen von Osten, die Düfte von Süden und Westen. Da bin ich gestern geblieben. Dieser Rausch wird in einer Woche vorbei sein. Aber die Vögel, die jetzt singen, werden es noch bis zum Juli tun.
Neben meinem Bett liegt seit gestern Nachmittag ein Ast so groß wie ein zimmerhoher Weihnachtsbaum unter dem schon sehr alten Lebensbaum. Gut, dass er nicht nachts gefallen ist – einen halben Meter neben dem Kopfkissen? Na ja, er konnte nicht schnell fallen, musste sich durch andere Äste durchkämpfen.
Dabei war es gestern den ganzen Tag besonders windstill. Er muss ja nicht gefallen sein, als er abgebrochen ist, meint der Nachbar, der grade ein Bier mit mir trinkt. Ich soll den Baum zerkleinern. Das mache ich erst, wenn ich sehe, wo er abgebrochen ist.
Dann fragt er nach den Staren, hab ich sie gesehen? Ich muss den Kopf schütteln – und auch nicht gehört. Wo sind sie jetzt 

6.5.2018 

Zum ersten Mal ist das Küchenfester nach Osten offen, als ich wie immer am Morgen Klavier spiele. Da kommen mir die Vogelstimmen besonders laut vor. Es ist, als müssten sie sich gegen einen neuen Eindringling behaupten.
Die Spatzen halten mich zum Narren: An einem Morgen sehe ich sie ein- und ausfliegen unter dem Dach des Holzhauses, höre sie den ganzen Tag von überall her keckern, und am nächsten Tag ist kein einziger Spatz da.  

8.5.2018

Staunend bin ich aufgewacht, so wunderbar mehrstimmig und laut war es. Staunend und dankbar. Wenn da nicht noch etwas gewesen wäre, fühlte sich wie etwas Böses an. Was ist passiert?
Ach ja: das Heimkommen war’s. Wo ich gestern war, hat es weite blühende Wiesen gegeben, leuchtend gelb von Hahnenfuß mit den rosaroten Lichtnelken dazwischen, wie in meinem Garten. Und wie früher. Je näher ich „meinen“ Dorf komme, desto seltener werden sie, bis sie ganz verschwunden sind. Die Wiesen, wo der Löwenzahn geblüht hat, sind wieder leer. So unermüdlich und unverwüstlich wie er ist, wird er wiederkommen, so kurz wie nötig zum Überleben. Aber Blumen, die längere Stiele brauchen – und das sind viele – haben keine Chance. Hier gibt es nicht einmal Löwenzahn. Nur Grün mit der Gerste und den ersten kleinen Maispflanzen. Sonst nichts. Mein Garten und der des Nachbarn sind eine Insel. Da kann ich kaum mehr herumlaufen, werde mir Wege freischneiden müssen, aber ich halte durch. Es wird nur zweimal gemäht, so wie früher, als es noch überall Wiesen mit allen Blumen gab, nicht nur in Oberfranken, so wie heute.

 

Mai 45 endlich: bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht. 

9.5.2018 

Es hätte ein guter Tag werden sollen. Schwungvoll habe ich nach den Stöcken gegriffen, um mit dem Hund durch den Wald hinauf zum Ginster zu gehen. Ich rufe: Yalla komm, gehen wir! Einmal, nochmal, dann sehe ich sie in der Wiese mit der Nase im Gras, mich beachtet sie gar nicht. Mal sehen, was da los ist, eine Maus? Keine Maus. Ein kleiner Hase. Und Yallas Maul in seinem aufgerissenen blutigen Bauch. Einen Fetzen Fleisch nach dem anderen zerrt sie heraus. Als ich nach dem Hasen greifen will, droht sie mir wild zähnefletschend mit so lauten Knurren, dass ich zurückschrecke. Ganz falsch, ich weiß. Aber da komme ich nicht durch. Der Kopf des toten Tieres ist noch heil und schön, die langen Ohren und die großen offenen Augen. Ich muss ein Bild machen, auch wenn es mir gegen die Natur geht. Im Weggehen, um die Kamera zu holen, höre ich hinter mir die Knochen knacken. Ich mache die Bilder, das Spazierengehen ist mir vergangen, keinen Schritt werde ich machen. Wird Yalla den zerfledderten Körper vergraben, wie es ihre Gewohnheit ist, wenn sie etwas nicht sofort fressen will?
Ich nehme die Sichel und schneide das Gras um die Pflanzen kurz, wo ich mit dem Mähen gestern nicht hingekommen bin. Nach einer Stunde kommt Yalla zum Haus, ich lasse sie rein und mache die Tür hinter ihr zu. Wie soll es jetzt weitergehen? Kann ich sie noch hinaus lassen? Wo ist der Hase? Er liegt an derselben Stelle, hat ein großes Loch im Bauch. Ich hebe ihn an einem Ohr auf – wie schwer er ist! Fast das ganze Lebendgewicht? – und trage ihn hinaus. Zwischen der Fichtenhecke des Nachbarn und dem großen Maisfeld lege ich ihn ins Gras. Dort läuft mein Hund nicht hin ohne mich. Aber der Fuchs kann ihn finden oder der Bussard.

Als ich zurückkomme, sitzt ein Maikäfer auf einem Lupinenblatt. Ein wirklicher Maikäfer. Es gibt sie noch.
Früher hätte man gesagt: Es ist ein Maikäferjahr.
Früher: Da mussten wir nach einem Familienausflug ins Gebirge auf der B 17 anhalten, weil die Scheiben von toten Maikäfern verklebt waren.
Noch früher: der süße Geruch aus den Schuhkartons, in denen ich sie wie alle Kinder mit Buchenblättern gehalten habe.
Mal sehen, ob heute noch einer kommt. Oder der gleiche nochmal. 

Aber der Hund. Ich mag ihn gar nicht sehen. Ich weiß nicht, ob er den Hasen gefunden – ein Bussard könnte ihn fallen gelassen haben – oder gefangen hat, weil der Hase nicht schnell genug durch den Zaun gekommen ist. Zäune sind der Hasen Tod. Dann wäre ich schuld. Einen Hasen auf dem Feld könnte Yalla nicht erwischen.
Ich habe den Zaun bis zum Boden verlängert, als ich Yalla zu mir geholt hatte. Warum habe ich das nicht längst wieder geändert?
Ich will schuld sein?!? Wieder mal diese Nummer?
Meinen Hund mag ich gar nicht anfassen. Bringe seine Runde schnell mit dem Fahrrad hinter mich.

 

Die Mails an den Bürgermeister und den BUND schicke ich noch ab. Dabei finde ich auch die avaaz-Mail über die Schafe, die in überhitzen Schiffen bei lebendigem Leib gekocht werden.
Ich gebe auf, lege mich aufs Bett, will lesen, schlafen, wenn’s geht. Geht nicht. Fernsehen. Geht immer. Klavier. Geht auch. Aber keine vernünftige Arbeit, die wirklich nötig wäre. Nicht einmal das Blumengießen.
Mit dem Sonnenuntergang schicke ich uns über das Feld, dabei will ich nach dem Hasen sehen. An der Stelle, wo ich ihn hingelegt habe, ist er nicht mehr. Beim Heimgehen merke ich, dass Yalla nicht mitkommt, gehe wieder zurück: Mitten im Feld liegen die Beine, ein Teil vom Kopf und den Ohren. Yalla riecht daran, hört aber mit meinem Nein! sofort auf und folgt mir nach Hause.
Bevor ich schlafen gehe, suche ich Yallas Körper noch nach Zecken ab. Das ist immer eine gute Gelegenheit zum Streicheln. Gehört zu unserem Tag. Heute auch?
Sie ist ein Hund. Was kann sie für meine Verwechslung. Ich habe nun mal nur eine Art zu lieben.
Das Häschen war wunderschön.