24.-28.5.2018 – Der Schlag tät ihn treffen!

24.5.2018

Wieder Post von ROLF. Und ein Schreck. Es ist seine Todesanzeige aus der Zeitung.

26.5.2018

Gestern haben wir von Rolf Abschied genommen. 

Die Einschläge kommen näher. Wie oft habe ich das wieder gehört. Diesen Satz kann man abrufen, so oft man will. Wie ich ihn hasse – wozu brauchen wir den Krieg?! Vielleicht hasse ich ihn für das, was er sagt. Wie ich gerade alles hasse, was ich sehe, vor allem aber mich. Ich bin ein Sack voller Fehlentscheidungen, Missverständnisse, Angst vor den Fehlentscheidungen und Missverständnissen, falsch, falsch, alles falsch. Die falsche Spur. Ich möchte raus aus dieser Haut, die mich in einem Chaos gefangen hält, aus dem ich jeden wütend anfahre, der mir ahnungslose Fragen stellt. Ich habe es nicht gewollt, aber getan und tue immer wieder.
Bei meiner Großen habe ich das zum ersten Mal so erlebt. Nach ihrem Tod habe ich die Menschen und mich nicht mehr ertragen.  

Jetzt geht Rolfs Tod mir so nah. Das Verstummen seiner starken Stimme.
Er hat mir seine Stimme gereicht, als ich die ersten Schritte in mein zweites Leben machte. In seinen Proseminaren fing ich an, draußen zu reden. Über das, was wir liebten: Gedichte und Sprache überhaupt. Beide begeisterte Hermeneutiker haben wir uns immer wieder gegenseitig Spuren gezeigt. Es war ein guter Anfang für mich.
Dann haben wir uns lange Zeit sehr wenig gesehen. Immer, wenn wir uns begegneten, hatte er lebhaftes Interesse an allem, was ich inzwischen gemacht hatte. Zuerst Ramadan. Dann borderline. Und schließlich aufgebrochen. Oder warum Ouagadougou. Alles hat er gelesen, Notizen dazu gemacht, wir haben darüber geredet.
Überhaupt wollte er von meiner Arbeit in Burkina Faso und Benin alles wissen, und was ich später in Mali machte. Da haben wir uns wieder häufiger gesehen.

Als ich gestern vor der Kirche stehe, kommt eine wunderschöne Frau mit einem strahlenden Blick auf mich zu, sie meint mich – da erkenne ich sie wieder. Es ist die Italienerin, durch die Vermittlung von Rolf ein Sommersemester lang in meiner Wohnung gelebt hat und meinen Hund liebte. Nach dem fragt sie sofort und weiß noch seinen Namen.
Von Rolf weiß sie, dass ich inzwischen einen Roman geschrieben habe. Und sie sagt später noch, dass Rolf meine drei „Bücher“ sehr gut gefunden habe. Sie sagt es, als müsste sie mir noch eine Nachricht überbringen.
Eine gute, sehr gute Nachricht. Danke.

Ich werde Ramadan weiter in den Mai geben. Es ist mein Danke an Rolf.
Und es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen meinem Vater und Rolf: Es war Pfingsten und sie waren tot und unbegraben.

Nach der Todesnachricht bin ich am Abend hinausgegangen und stehe vor dem Wald. So nah wie noch nie sind die Bäume, so laut das Tropfen auf mein Stoffdach, das klingelnde Fließen des Wassers von der Dachrinne ins Abflussrohr, so zärtlich die leise Bewegung der Luft. Ich mittendrin umfangen. Geborgen. Geschützt. Zerfließe in Dankbarkeit. Dankbar für den Donner, der näher kommt, sich entfernt und wieder zurückkommt, gefolgt von Blitzen in kleinem und in größerem Abstand. Dankbar für dieses Leben. 

In der Nacht steht neben mir einer in einem langen Mantel. Stocksteif, bewegt sich nicht. Ist tot.
Jetzt habe ich Angst. Schlaflose Angst. Das bin ja ich.

Wollen wir interpretieren, Rolf? Mein Hass auf das Leben wäre Angst vor dem Tod? Was meinst du?
Soll ich mir da nichts vormachen?
Ich kann einen Traum zur Wahrheitsfindung beisteuern, der ist zwei Wochen alt, du lebtest noch drei Tage: 

13.5.2018 

Ich bereite alles für mein Ende vor. Ich will jetzt aufhören zu leben.
Mache Ordnung, werfe Dinge weg, die keiner finden soll, räume auf.
Hoffentlich merken die anderen es nicht.
Eigentlich wundere ich mich, dass sie es nicht merken, einfach so wie immer weitermachen,
komme mir vor, als würde ich sie reinlegen, wenn ich mir vorstelle,
 wie sie mich finden werden,wenn sie das nächste Mal wiederkommen.
Aber wenn ich ihnen sage, was ich vorhabe, werden sie mich daran hindern wollen, müssen.
Dabei weiß ich ja selbst noch gar nicht, wie ich von meinem Leben in meinen Tod gehen will.
Mein Körper ist gesund, mein Kopf ist klar, ich frage mich: Warum will ich nicht mehr hier sein?

Ich weiß, du würdest mir gerne helfen. Vielleicht tust du es schon. Ich weiß, wie du um das Leben gekämpft hast. Und ich dachte immer: Ich würde es anders machen.
Und jetzt? Werde ich mir den Ausweg nehmen, der nur dazu da ist, dass ich ihn nicht nehme?
Das versteh ein anderer.

Heute Nacht wollte wieder ein Schmerz die Brust zerreißen und den Kopf zersprengen. Ich hab ihn ausgehalten und überwunden.
Später klopfte es leise unter meinem Bett wie mit Holz auf Holz. Die Mäuse? Was machen die da? Ich mache Geräusche, das vertreibt sie immer sofort. Diesmal nicht. Das Klopfen geht weiter. Licht. Taschenlampe. Ich leuchte unter das Bett. Da liegt meine Schirmmütze, damit sie nicht feucht wird in der Nacht, und bewegt sich. Als ich sie anfassen will, weicht die Mütze aus und klopft weiter mit dem Schirm. Dann kriege ich die Mütze zu fassen und sehe einen schönen dicken Igel, der in die Falle geraten ist. Ich kann die Mütze wegnehmen und mache das Licht aus, sage: ach Schätzchen, lauf! Er tut es mit einem kaum hörbaren feinen Kratzen.

Es ist still um mich. Keine Menschen, ich höre nur Vogelstimmen und Frösche. Ich hätte es gerne, wenn heute – an diesem sommerlichen Samstag – einer zu mir heraus käme.
Aber ich will dafür nicht verantwortlich sein, weiß ich doch nicht, was ihm dann wieder passiert.

1990

Der tote Vater hat die Tochter fester an sich gebunden als der lebende, der noch sagen konnte: Du musst dein Leben leben.
Der Tote hat sie erst wirklich beschützt. Vor allem hat er sie beschützt, vor allem aber vor den Männern. Und das war gut so, wusste sie doch überhaupt nicht, als er tot war, was sie mit ihnen anfangen sollte. Wie spricht man mit einem Mann, wenn man keine Tochter mehr ist, wie isst man mit ihm. Wie sieht man ihn an, wenn der Vater nicht mehr aufpasst. Wie zieht man sich an und wie zieht man sich aus? Ganz zu schweigen davon, wie schläft man mit ihm? Sie hat’s nicht getan, sie durfte es nicht, sie wollte es nicht.
Sie konnte es nicht. Sie hatte genug mit sich selber zu tun.
Sie musste darauf achtgeben, dass ihre Haut heil blieb. Dass sie keine Risse bekam, keine Schrammen und keine Kratzer. Denn innen, und das durfte keiner erfahren, innen ist ihre Haut schwarz. Sie hatte die ständig drohende Gefahr abzuwehren, dass ein Loch ihren Schatten zerriss.
Als sie zum ersten Mal unvermutet auf dem Pflaster entdeckt, dass ihr Schatten ganz und heil ist, erfüllt sie ein so heißes Glücksgefühl, dass sie von nun an sehr viel Aufmerksamkeit und Sorgfalt darauf verwendet, dass er es bleibt. Dafür muss sie sich häufig kämmen, denn an den Haaren entsteht am schnellsten ein Riss. Sie musste sehr wachsam sein für ihre Beruhigung.

Ein Jahr lang hat er die Tochter unter seine Fittiche genommen, und sie ist untergekrochen. Er war ihr Unterschlupf, und sie außer Gefahr. Nach diesem Jahr hebt er seine großen, warmen Flügel, so dass ein leichter Wind – es braucht gar kein Orkan zu sein – unter sie greifen und ihn lautlos mit sich nehmen kann. Jetzt ist er eine Taube unter Tauben, ein Schwan unter Schwänen, die immer, wenn sie über ihr Haus fliegen, nach Hause fliegen. So macht er sich auf und davon.

Und ihr ist kalt.

Wenn einer, der es kann, zu sägen anfängt, klingt es mir zuerst wie ein Vogelruf, dann wie ein Flügelschlag. Ich lasse mich täuschen. Erst mit dem Hämmern hört die Täuschung auf.

 27.5.2018 

1990 

Im Atlas tragen die Alten selten zwei gleiche Schuhe. Ein Fuß ist immer älter als der andere. Das geht. Es geht ohne gleiche Schuhe ohne zu stolpern. Das hat sie am meisten verblüfft. Wie es auch ohne die Wahrheit vorzüglich geht. Keine Wahrheit besteht aus zwei gleichen Schuhen.

In den Souks von Marrakesch stellen die Männer einen Sack mit Plastikschuhen auf eine Waage, verhandeln lange und laut, bis einer eine Handvoll zerknüllter Scheine aus den Taschen seines Djellabas fischt, den Sack aufhebt und fortträgt.
Dort oben, im Atlas, hätte sie ihn auch an der Hand genommen und barfuß durch das Wasser ins Dorf hinunter geführt an einem Markttag. Er hätte sich zu den anderen Alten bei dem Schuhflicker gesetzt und ihm bei seiner Arbeit zugesehen. Einen Tag lang hätte er darauf gewartet, dass auch seine Schuhe wieder einen Flicken bekämen und er nach Hause zurückgeführt würde.
Hier musste er seine Schuhe jedes Mal von neuem suchen, wenn er nicht mehr wusste, dass er sie der Tochter für eine Reparatur mitgegeben hatte oder für ein Paar neue. Denn die letzten, die wollte er schonen.
Die hat er nie getragen.

Wenn sie ihn nicht begleitete, musste er alleine gehn. Da war niemals ein zweiter Alter mit einem dunklen Gesicht und hellem Djellaba, mit dem er Hand in Hand jeden Tag gegen Abend auf den großen Platz hätte gehen können, wo niemals Ruhe einkehrte. Männer fassen sich hier nicht an den Händen, kaum die jungen und die alten schon gar nicht.

An Vaters Haus hat sie inzwischen vieles verändert, was immer gut war. „Wenn der Vater jetzt käm, der Schlag tät ihn treffen“– meint die Frau, die seit dreißig Jahren dort wohnt. Und sie stimmt ihr zu. Ja, der Schlag tät ihn treffen.
Wenn er jetzt vom Friedhof zurückkäme mit seinem rüstigen Schritt – gut hat er ausgeschaut, bis zuletzt, sagte die Ordensschwester, wem sagt sie das –, dabei den Schirm als Stock verwendend und ihn rhythmisch auf das Pflaster stoßend, wenn er jetzt um die Ecke böge, wie immer um diese Zeit, und uns vor dem schönen Haus stehen sähe: Der Schlag tät ihn treffen.
Bald wird es soweit sein, dass sie den Schlüssel zu der Wohnung ihres Vaters hergeben muss. Die riecht schon lange nicht mehr nach ihm. Dann wird nur noch sein Kater den Geruch erkennen und dort ein- und ausgehen dürfen. Überall taucht er jetzt unerwartet auf, im Keller und auf dem Dach und auf dem Hof, wo er nun zuhause ist.
Der Vater hat ihn nie aus der Wohnung gelassen, weil er fürchtete, dass er nicht wieder­kommen würde. Diese Angst hatte er immer, wenn er ihn nicht sah. Der Kater aber wollte nicht gesehen werden und fand die dunkelsten Winkel, in die ihm der Vater nur noch mit dem Licht der Taschenlampe folgen konnte. War er doch nicht dazu zu bewegen, wie ein Hund den lauten und scharfen Befehlen des Vaters zu folgen. „Der gehorcht einfach nicht!“ Solange er ihn nicht sah, fand er keine Ruhe, trotz aller ihrer Beteuerungen, dass die Wohnungstür inzwischen niemals offen gewesen war. Dann hielt seine Ruhe nie lange vor, weil er sofort wieder vergaß, was er gerade gesehen hatte.
Peterle – jede Katze war für den Vater ein Peterle, auch die ihre, die Peterles Mutter ist – Peterle wurde scheu und fett. Nach Vaters Tod hat sie dem Kater die Freiheit gegeben und er war verschwunden. Zwei Wochen später ist er wiedergekommen, war dünn und anschmiegsam, und geht jetzt überall herum, wo der Vater herumgegangen ist. Sie ist sicher, dass er von ihm viel mehr gesehen hat als sie. Das liegt jetzt alles in seinen Augen, und sie sucht es nun dort. Sie weiß nicht, ob dieser Blick sich über die Jahre verliert.

Ein Zimmer gibt es noch, in das sich der Kater zurückzieht. Es ist das letzte, das sie ausräumen muss, dort ist alles zusammengekommen, womit sie nichts anzufangen wusste. Immer wenn sie etwas in der Hand hielt, bei dem sie nicht entscheiden konnte, ob sie es behalten oder verschenken oder wegwerfen sollte, hat sie es dorthin getragen und dabei gedacht: Es wird der Tag kommen, wo ich das entscheiden kann, noch geht es nicht.
Jetzt ist es soweit.
Die Fernsehtruhe mit dem Radio und dem Plattenspieler – nichts funktioniert davon mehr – möchte ihre Tochter haben. Für die Übertragung der Boxweltmeisterschaft aus Amerika war der Vater um zwei Uhr nachts aufgestanden, an ihrem Kinderzimmer vorbei durch den dunklen Korridor in die Küche und wieder zurück gegangen, zurück mit langsameren Schritten, da trug er eine bis über den Rand gefüllte Kaffeetasse vor sich her. Nie hat er Licht gemacht für diesen Weg vom Wohnzimmer in die Küche am Abend oder in der Nacht.
Boxen. Er ließ keinen Boxkampf aus, hatte er, als er jung war, doch selbst geboxt. Das hatte sie bis heute vergessen, und sie wünschte, es wäre so geblieben.
Aber bei ihrer Konfirmation, da war sie schon größer als er.

Sein Schaukelstuhl ist das einzige Möbel, das sie mitnimmt, die Töchter wollen ihn nicht. Er ist nicht schwer, sie trägt ihn alleine und spürt die Vertiefung in der Armlehne, die seine ungeduldig trommelnden Finger dort zurückgelassen haben. Seit es diesen Stuhl gab, er bekam ihn nach dem Tod seiner ältesten Schwester – wechselte die unruhige Bewegung seiner Hände zwischen diesem Trommeln und den Zeichen, die er, solange sie sich erinnern kann, auf seinen rechten Oberschenkel schrieb. Ein kurzer knapper Schriftzug war es, so als setzte er seine Unterschrift und immer wieder seine Unterschrift – was sollte es sonst sein – unter einen Vertrag, den nur er kannte.
Aber vielleicht hat er auch etwas ganz anderes auf seinen Schenkel geschrieben. Alle seine Hosen glänzten an dieser Stelle. Viel­eicht versuchte er den Fehler zu überschreiben, immer wieder zu überschreiben, der sich auf seiner Haut nicht mehr ausradieren ließ? Heftiger und häufiger als gewöhnlich tat er dies, wenn er schweigsam, manchmal schmunzelnd und – wie das Mädchen glaubte – nachdenklich bei den Frauen saß, die die Mutter wieder einmal gegen seinen Willen ins Haus geholt hatte. Wenn er, was nicht oft geschah, einmal sein Schweigen unterbrach und ein Wort sagte – und viel mehr als ein Wort war es meistens nicht –, wurde es auf der Stelle still und alle horchten auf wie sie, als hätten sie nur auf dieses Wort gewartet und als sei all ihr Reden nur ein Ausfüllen der Pausen gewesen zwischen den wenigen Worten von ihm. War das Wort vorbei, ging das Reden weiter, was sollte man sonst tun. Schweigen – das tat er. Es störte die Fröhlichkeit.

Einmal soll es anders gewesen sein, so wurde es von der Mutter immer wieder erzählt: Ihre schönste Geburtstagsfeier sei die gewesen, als die Männer im Krieg und die Frauen alleine waren. Auf dem Tisch hätten sie da getanzt vor Übermut.

28.5.2918

Wenn morgen Vollmond ist, dann ist Ramadan zur Hälfte vorbei und der Mond kann wieder abnehmen. Es sind die längsten Tage des ganzen Jahres, die kürzeste Zeit, in der der Moslem essen und trinken darf.

So ein Tag ist einfach zu lang für einen Menschen allein.