29.5.-3.6.2018 – sonntags nie

 

 

 

29.5.2018

Kurz vor Sonnenuntergang stand ein Regenbogen über meinem Land und dem Wald, als gehörte er dahin.

Die Pfützen sind blau
sie holen den Himmel
herunter
im Mai

Der Oberförster ist wieder zurück aus der Heimat, und ich bekomme endlich die Antwort auf meine dringenden Fragen zu den Eichhörnchen und den Vögeln.  

Eichhörnchen und Vogelbrut – das geht generell nicht gut zusammen. Natürlich gibt es Arten – Bodenbrüter zum Beispiel, die weniger durch Eichhörnchen gefährdet sind, aber die haben dafür reichlich andere Nesträuber zu überstehen, wie Fuchs, Waschbär, Marderhund, Iltis usw. Gegen eine zu hohe Population von Eichhörnchen würde „Abschießen“ wohl am besten helfen, aber das kommt ja wohl aus verschiedenen guten Gründen nicht in Betracht. Wenn sich die Eichhörnchen so stark konzentrieren, weil sie so gut gefüttert werden, dann ist vielleicht „Futter-Entzug“ hilfreich, also auch die Beendigung der Vogelfütterung im Sommer. Die gängigen Vögel sollten in Deiner Umgebung jetzt auch so genug finden, sogar für die Jungvögel. Die lebensfeindliche Intensiv-Landwirtschaft grenzt ja nur einseitig an Dein Domizil an, und das ist ja eine unscharfe, also nicht ganz so lebensfeindliche Grenze. Die durch das Insektensterben besonders gefährdeten Arten wie Schwalben oder Mauersegler könntest Du durch Fütterung sowieso nicht retten oder fördern. Die Hoffnung wäre dann, dass die Eichhörnchen abwandern und zu Winter- und Fütterungsbeginn nicht gleich wieder massiv konzentriert auftreten. Eine Hoffnung ist das – mit einschlägigen Forschungsergebnissen oder gar Garantien kann ich nicht aufwarten.

Vielleicht ein bisschen Hoffnung. Kein Wort über die verhungernden kleinen Vögel. Wenn die Eltern soviel gefressen haben, müssen sie das doch gebraucht haben, oder? Insektenknödel für sich und die Jungen. Ich muss darüber entscheiden, ob die Jungen verhungern oder gefressen werden. Hänge wieder Insektenknödel auf – das heißt: gefressen werden, vielleicht. Ich finde langsam verhungern schlimmer als schnell gefressen werden. Kann man so entscheiden?
Jetzt habe ich immer die Knödel im Auge und warte, wer zuerst kommt.
Ich habe einfach zu viel Freude daran, sie im meiner Nähe zu sehen. 

31.5.2018

Es sind die Vögel, die meinen Tag anfangen. Später kommen ein oder zwei rote Eichhörnchen. Die waren immer da, auch als ich noch nicht oder nur selten hier war. Warum sollten sie gehen, wenn ich nichts füttere? Nein – auch diese Hoffnung geht dahin. Also gebe ich wieder Insektenknödel in den Drahtturm und erschrecke sie mit Yallas Hilfe.

Die kurzen Nächte sind die hellen Nächte in Finnland. Kein gutes Land für Ramadan. 

1.6.2018

Heute war es der Fuchs. Er kam über das Holzdeck an mein Bett und bog, als er mich sah, rechts ab in den Garten. Ganz ruhig, unhörbar war er gekommen, und auch, als er seine Schritte beschleunigte, war nichts zu hören. Yalla höre ich immer schon von weitem.
„Hams koi Angscht, dass Ihne dr Fuchs d‘ Nos abbeisst?“ wurde ich gefragt, als ich den Nachbarn erzählte, dass ich draußen schlafe. Aber erst jetzt weiß ich, wie es ist, wenn der Fuchs kommt. Ich mag ihn auch. Lieber als den wilden Waschbären, der so viel kaputt macht.  Die Hasen erscheinen zu anderen Zeiten, die können dem Fuchs nicht gute Nacht sagen.
Der Fuchs ist noch nicht lange verschwunden, da kommt eine junge Amsel angehüpft und piept und piept, bis die Mutter auftaucht und Aufgepicktes in den aufgesperrten Schnabel steckt. Dann hüpfen sie zusammen weiter Richtung Futterplatz. Dort füttert auch schon der dünne Buntspecht sein dickes schreiendes Kind.

Ich habe wieder die Straßenkarten herausgezogen, Europa, Skandinavien. Suche Straßen, die klein genug sind, um mich nah an der Ostsee fahren zu lassen. Stundenlang. Und Fähren, die das Fahren abkürzen können: Rostock – Trelleborg vielleicht. Die Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger sind 800 km auf der Europakarte. Also gar nicht so schlimm.
Am Abend schaue ich mir wieder mal einen Sylt-Krimi an und wenn auch das Licht über dem Wasser nur kurz aufleuchtet, weiß ich augenblicklich, warum ich nach Sylt fahre, wenn ich nach Sylt fahre: dieses Licht. Die Ägäis vor Hörnum am Vormittag und am Nachmittag die offene See. Da taucht die Sonne hinein.
Das sind die großen Stunden des Tages, dazwischen kann es lang werden, und ich weiß, dass meine Ungeduld zugenommen hat. Laufen, schwimmen, lesen, schlafen, laufen, schwimmen, lesen… und Rad fahren und einkaufen für das Abendessen im Strandkorb. Und die Nächte im Sand am Strand oder in den Dünen.
Nur zum Reden ist keine da, und „Anschluss“ zu finden ist nicht meine Stärke.
In Finnland ist sie schon da, wenn ich angekommen bin.
Heute sieht es danach aus. Aber es darf mir nichts weh tun. 

2.6.2018

Es ist Sommer, so ein richtiger Sommer. Mohnblumen haben sich in den Steinen neben meinem Holzdeck angesät, jetzt summt und brummt es vor meinem offenen Fenster. Und das Rot strahlt mich an. Warm ist es, nachmittags sammeln sich die Wolken, man weiß nie, was kommt. Die Orgel der matten Gewitter. In jedem Grummeln höre ich diesen Satz. Heym, ja, Heym.


Hören im Sommer
Die Orgel der matten Gewitter,
Baden in Herbsteslicht,
Am Ufer des blauen Tags.

Aber dieser Satz ist nicht allein in mein Leben gekommen, ihm ist ein anderer vorausgegangen, handgeschrieben von dem, der mein Mann geworden ist. 

Gib mir die Hand,
Wir wollen einander verwachsen,
Einem Wind Beute,
Einsamer Vögel Flug –

Nichts weiter, nicht das ganze lange Heym-Gedicht. Und nicht für immer.

Gestern hat mir das Donnern die Entscheidung abgenommen: in der Schmutter schwimmen oder nicht.
Eigentlich war ich darüber froh, fürchte ich doch jedes Jahr wieder und jedes Jahr mehr, dass ich es nicht mehr schaffen könnte mit dem Hinein- und Heraussteigen. Jeder Winter nimmt etwas vom Ufer mit, es wird dabei steiler und ich werde mir nicht leichter. Wann ist es so weit, dass ich sage: Das war’s. Und mich „zur Ruhe setze“. Würde heißen: Mit dem Auto an einen See fahren oder ins Schwimmbad, wo es Leitern gibt. 

3.6.2018

Es ist noch einmal abgewendet: Ich bin in den Fluss getaucht, geschwommen und wieder herausgekrabbelt. Jetzt fehlt dem Sommer nichts mehr. 

Und der Oberförster kommt zu Johannis nach Bayern und hier vorbei. Schön.
Wenn ich nur nicht so zugerichtet wäre: Das, was die Super-Friseurin mit meinen Haaren angerichtet hat, mag ich zwei Monate lang niemandem zeigen. Nein, so hässlich muss ich nicht aussehen. Und das nachdem ich endlich meinen geizigen inneren Schweinehund mit der Hoffnung auf einen guten Schnitt besiegt habe. Dabei habe ich doch gesagt, wie ich es will, nicht nur einmal.
Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist?
Wie soll das gehen? Ich erschrecke bei jedem Aufwachen, sobald mir ein Spiegel einfällt. Und kann es nicht lassen, immer wieder hineinzuschauen mit der Hoffnung, ich könnte etwas anderes sehen.
Korrigieren? Die Haare sind doch schon viel zu kurz! 

die Sonne schon warm
der Wind noch kühl
ich liege im Fluss 

zurück laufe ich gegen den Strom 

ein Storch steht im Nest
kein Junges ist zu sehen

die Linden duften noch nicht 

Aber der Raps. Wie strahlend er leuchtet im tiefen Gelb. Darüber streifen pausenlos Mauersegler und fangen, worauf ihre Jungen warten.
Hoch oben schwirren Lerchen, ich kann sie nur hören, nicht sehen so weit oben und immer schon wieder woanders. Das Reh, das gerade ins Rapsfeld läuft, macht es mir da leichter. Oder auch nicht: Hoffentlich weiß der Bauer, dass Junge im Feld sind, wenn er zum Mähen kommt.   

1990 

Am Sonntag habe ich ihn manchmal auf dem Heimweg abgesetzt. Von keiner Arbeit müde, wollte er noch ein Stück gehen.
„Lass mich hier raus, du brauchst nicht den Umweg zu machen. Ich gehe zu Fuß.“
„Ist gut, dann komm gut nach Hause. Ich rufe dich an!“
„Ja, tu das. Auf Wiedersehen.“
Ich sehe noch im Rückspiegel, wie er rüstig losmarschiert, ein kurzes Zögern, dann geht er weiter.
Zuhause angekommen, wähle ich seine Nummer, er nimmt nicht ab, auch nach einer Viertelstunde, einer halben Stunde nicht. Nach einer Stunde, als ich schon entschlossen bin, ihn suchen zu gehen, meldet er sich endlich.
„Gottseidank! Wo warst du denn solange?“
„Ich hab mich doch verlaufen. Sowas Dummes. Na ja, jetzt ist alles in Ordnung. Der Peter hat schon Sehnsucht nach mir gehabt. Nett, dass du angerufen hast…“

Sonntag und wieder so ein Tag, der zu viel ist für einen Menschen allein.
Da hilft auch das Nacharbeiten an dem, was mir die Senegalesen bei allen meinen Reklamationen hinterlassen haben, nicht. Nein, Gartenarbeit ist nichts für sie. 

Benn, mal wieder? 

Kommt, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

Kommt, sagen wir: die Blauen,
kommt, sagen wir: das Rot,
wir hören, lauschen, schauen
wer redet, ist nicht tot.

Die Strophe mit der Wüste und den Frauen lasse ich lieber mal weg, weiter: 

und schon so nah den Klippen,
du kennst dein schwaches Boot –
kommt, öffnet doch die Lippen,
wer redet, ist nicht tot.

Kann das Einsamkeitsministerium helfen?
Ich zwinge mich zu der Antwort auf die Frage: Will ich heute Abend…? Und mir fallen Freunde ein, die am Sonntag Vormittag gerne eine Radtour machen, ich rufe an und schlage ein Ziel vor, das gleich weit weg ist von uns. Wir treffen uns dort um halb zwölf. Das habe ich gut gemacht.

1990 

Die Feiertage waren wie die Sonntage noch schlimmer für ihn als die Abende der ganzen Woche. Ich konnte mir schwer vorstellen, was ihm die geöffneten Geschäfte bedeuteten, wo er sich doch nur noch die allernotwendigsten Nahrungsmittel selbst kaufte. Es müssen die Menschen gewesen sein, die dazwischen herumgelaufen sind und von denen viele ihn kannten, schließlich lebte der Metzgermeister schon fast vierzig Jahre hier. Da wird er gegrüßt worden sein und erfreut und höflich den Gruß erwidert haben, verwundert sicher auch, denn er erkannte die Gesichter schon lange nicht mehr.
Das alles gab es an Sonn- und Feiertagen nicht. Da waren die Menschen, die in der Woche einkauften, eher auf dem Friedhof zu finden, und dort wurde er dann an einem solchen Tag zweimal gesehen. Er fehlt.
Wenn ich in dem Jahr nach seinem Tod in seine Straße ging, sind manchmal Gesichter auf mich zugekommen, die auch ich fast vergessen hatte, und ich hörte: Er fehlt. Die Frau, die schon zwanzig Jahre in seinem Haus wohnt, sagt: „Ich sehe ihn immer noch, wenn er um die Ecke kommt. Am Schluss hat er nichts mehr gewusst. Aber gut hat er immer ausgeschaut, bis zuletzt. Und so gar nicht wie ein Metzger.“
Da war die Tochter stolz.
Sie konnten ja nicht wissen, welchen Kampf es mich jedes Mal gekostet hat, ihm seine Hose zum Waschen zu entreißen. Oft ist er richtig böse geworden. Nur wenn er sah, wie ich die Waschmaschine füllte, konnte ich ihn dazu bringen, die Wäsche, das Hemd, den Pullover zu wechseln, weil ich sagte: Sonst lohnt das Waschen doch nicht.

Zwischen dem Klingeln und dem Summen des Türöffners hatte ich Herzklopfen. Wenn er zu der Zeit, die wir verabredet hatten, nicht aufmachte, bin ich vor dem Haus auf- und abgegangen und habe nach den beiden Ecken geschaut, um die er biegen konnte, je nachdem, ob er von vorne oder von hinten kam. Ich sehe ihn mit einem Schwung, der an einen Schwung erinnert, die Ecke nehmen: Da kam er. Oft.
Ein kurzer Blick auf meine Kleidung, dann die Frage: „Warum bist du so schwarz angezogen?! Ich bin doch noch nicht tot!“
Ich habe den Schrecken geübt: Er kommt nicht mehr. Jetzt ist er tot. Einmal ist er tot. Und das ist jetzt. Was mache ich nun.

Es war ganz anders, als er wirklich starb.