4.-9.6.2018 – Kühe, Kälber, Schweine

4.6.2018

Es piepst neben meinem Bett, da sitzt eine junge Amsel. Der Vater kommt angehüpft und nimmt es mit in die Wiese.

In dieser Woche werde ich die Arbeitswoche meines Vaters erzählen, wie sie in Ramadan steht.  

1990

Montag

Ich bin einem Traktor mit einem Anhänger voller Schweine gefolgt. Natürlich weiß ich seinen Weg und nehme die Blutspur auf. Wohin sollen heute die Schweine schon fahren, wenn nicht auf den Schlachthof. Das war schon immer so. Aus allen Richtungen kommen sie in Anhängern, aus denen der Mist und das Stroh quillt, nicht nur die Schweine, auch Kälber, Ochsen und Kühe, manchmal ein Schaf. Jeden Montag, wenn der nicht ein Feiertag ist, kennen sie nur ein Ziel. Dort finde ich die Tore weit geöffnet. Ein Schild. Hier trennen sich unsere Wege. Der Traktor fährt an ihm vorbei, ohne langsamer zu werden. Ich halte.

NICHTBESCHÄFTIGTEN
Zutritt verboten.
Jugendlichen unter 14 Jahren ist der Zutritt
gesetzlich untersagt.

Morgen fing es für den Vater hier erst an.

Am Abend wird das Kind ihn mit der Mutter sprechen hören: Vier oder fünf Schweine diese Woche. Wieviel Kalb ist noch im Kühlraum. Ein Stück Großvieh. Gut.

Eine Tafel steht am Eingang zum Viehmarkt:

Marktauftrieb5.6.90
Bullen 67 Kälber 58
Kühe 409 Schweine 270
Jungrinder 162 Schafe 1
Gesamt 638

Zwei Mädchen, sie sind vielleicht acht und zwölf Jahre alt, treten mit Bällen und Springseilen aus dem Dienstgebäude und laufen zu den Bäumen vor den Schweinehallen in die frischen Ferien. Jetzt, wo die Eltern arbeiten, können diese erst richtig beginnen. Die Schweinehälften kommen schon an einer Schiene um die Ecke und rücken zu den Hallen vor, in denen sie systematisch undurchschaubar verschwinden. Hier riecht es heute schon so, wie es daheim immer erst am Dienstag gerochen hat. Wie es nur am Dienstag und seitdem nie wieder gerochen hat.
Wo die Schweine quieken, brüllen auch die Männer, scharf, kurz, laut. Zwischen den lebenden und den toten Tieren ist ein Zaun, der nur eine Tür für Menschen hat. Wo die Körper der Tiere hautlos an den Füßen aufgehängt aneinander klatschen, spritzt das Blut. Ein Schlachter kommt heraus und nimmt, als er an mir vorbeigeht, seine bespritzte weiße Kappe ab. Er schaut erst mich, dann seine Mütze an, dann wieder mich, dann steckt er die Mütze in seine Tasche. Man sieht es sofort, ob ein Mann ein Bauer oder ein Metzger ist. Dieser Gang, da ist er wieder. Er kommt aus den Stiefeln. So müssen Männer gehen. So groß müssen ihre Schritte sein. 

Alle Metzger haben etwas Herrisches, wenn sie richtige Metzger sind. Ob das mit dem Töten zu tun hat. Oder mit der Tötungshemmung. Sie haben sie nicht. Oder sie bekämpfen sie jeden Dienstag aufs neue und siegen.
Er war vierzehn Jahre alt, als er anfing, das zu lernen.

5.6.2018

Ich kann meinen Hund noch nicht wieder lieben. Gebe ihm, was er braucht, das Futter und zur Nacht ein kleines Streicheln, halbherzig, wenn überhaupt etwas mit Herz. Er hat einen jungen Kleiber tot gebissen, der ihm vor die Nase gefallen ist. Der Vogel war gegen das Küchenfenster geflogen, an dem drei schwarze Plastikvögel kleben, und abgestürzt. Als er versuchte wegzufliegen, hat Yalla, die dort gelegen hatte, weil es da kühl ist, ihn geschnappt. Ich habe geschrien, den Hund angeschrien: nein nein nein! Der geübte Ruf, wenn etwas nicht gefressen werden soll. Der hilft nur bei totem Fleisch. Yalla ist schneller, rennt weg mit dem Vogel im Maul, dann bleibt sie stehen und lässt ihn fallen. Schaut ihn noch einmal an, riecht daran und wendet sich ab. Für sie war’s das. Für mich ging es da erst los. Ich nehme den warmen Vogel in die Hände, sehe dass es ein Kleibermädchen ist, bewundere seine feinen Federn, die zarten am Bauch, die langen der Flügel. Wenn ich sie auseinander spreize, kann ich mir vorstellen, wie sie den Körper durch die Luft getragen haben. Gerade noch. Bis an mein Küchenfenster. Es ist traurig.
Eine Stunde später habe ich das Tierchen in ein Blatt gewickelt und mit einer Blume begraben.
Ich spüre noch am Abend den Schmerz im Hals von meinem Schrei.
Diese Natur. Ich muss mir ein falsches Bild von ihr gemacht haben. Und das Heu duftet süß.

Ich wollte ja den Vater noch einmal durch die Woche begleiten, also:

1990

Dienstag

Die Zeit, wo der Montag nach Stall und Kot und Fell gerochen hat, ist lange her. Jetzt, wo die Tiere nackt vom Schlachthof kommen, fängt die Woche erst am Dienstag an zu riechen. Da bringt der Vater den Geruch von frischem Fleisch und Blut nach Hause. Nieren, Lebern, Herzen, Hirne, Lungen, Zungen – vier kleine, eine große eine mittlere – liegen in den Schüsseln. In den großen Blechkannen schwappt schwer und dick das Blut. Die halben Tiere werden aufgehängt. Die Arbeit kann beginnen.

Heute hat der Regen den Geruch von frischgeschlachtetem Fleisch verschluckt. Es kommt sehr wenig davon durch. Nur wer ihn kennt, kann ihn riechen, obwohl die Reihe der halben Schweine heute viel länger und dichter als gestern ist. Da mache ich mich zu seiner Tochter und fahre mit meinem kleinen Auto im Schlachthof herum.
Auf meinem Schlachthof hält mich keiner auf. Kein Metzger interessiert sich hier für mich. Vielleicht denken sie, ich hole Futter für meinen großen Hund.

Danach gefragt, was es in dieser Stadt für Sehenswürdigkeiten gebe, überlegte das Mädchen nicht lange, bis es die entschiedene Antwort gab: Da müssen Sie mal auf den Schlachthof gehen!

Bin ich schon einmal auf einem Schlachthof gewesen? Ich habe ihn immer gerochen und gewusst, dass der Vater am Dienstag, dem Schlachttag, von dort herkam. Der Geruch nach Bier, rohem Fleisch und frischem Blut zeigte ihn, wie er mit anderen Männern, deren Kittel und Jacken ebenso blutig waren wie seine, Metzger, sie alle, in der Schlachthofgaststätte saß, die Hand mit der Zigarette auf das Knie gestützt mit der anderen Hand zwischen einem Griff nach dem Bierglas und dem nächsten auf seinen Oberschenkel trommelte. Die Männer sind laut, und er war – laut oder nicht – einer von ihnen. Auch dann noch, wenn er mit dem Anhänger auf den Hof fuhr und mit wichtigen und schweren, groben Schritten, wie es diese Stiefel verlangten, aus dem Auto stieg. Da fehlte immer ein Sohn, der ihn begleitet hätte. Mit ihm hätte er gesprochen.
Einmal ist er vom Schlachthof gleich zum Krankenhaus gefahren, um dort die zehnjährige Tochter abzuholen, die nach einer Mandeloperation nicht länger warten wollte. Auf dem Hof des Krankenhauses durfte sie neben ihm ins Auto steigen, dafür musste der Geselle zu dem Lehrling auf den Rücksitz. Seine weiße Jacke wird wie immer Blutflecken gehabt haben, und auch die Lederstiefel trugen Spuren von Blut, selbst wenn er sie sorgfältig mit dem Schlauch abgespritzt hatte, aber dem Kind war das lieber, als noch einen Tag im Krankenhaus zu bleiben. Sein Stolz, dass er kam, um es zu abzuholen, war größer als seine Scham.
Die Scham war noch größer als der Stolz.
In dem sauber mit Aluminium ausgeschlagenen Anhänger lagen die halben Schweine oder Kälber oder Ochsen.

Hier in der Stadt musste er die Tiere nicht aus dem Stall holen, nicht mehr die Bauern anfahren, wie vor dem Krieg und auf dem Dorf in den Jahren danach. Hier schlachtete er die Tiere nicht selbst wie dort, wo es vorgekommen war, dass er in dem kleinen Kühlraum einen Stier erschoss. Dieser Raum war so klein, dass der Vater auf den Rücken des Tieres springen musste, um nicht von ihm erdrückt zu werden, als es sterbend zusammenbrach.
Das hat er erzählt, das habe ich gedacht, vielleicht ist es wahr. So soll es gewesen sein.

Ich hatte immer Angst um ihn vor ihm.
Der Schorf an seiner Stirn am Morgen erzählte von den Stürzen in der Nacht, wenn er betrunken war. Was war in der Nacht. Vergeblich versucht das Mädchen, sich dies vorzustellen. Es versagt an seiner Angst.
Die Träume sehen ihn immer und immer wieder, wie er in den großen Hof hinter der Gastwirtschaft fährt, aus dem schwarzen Opel P4 steigt und stolz verkündet, dass er dem Krankenwagen zuvorgekommen sei, den man zu seinem Unfall geschickt hatte.
Das soll es nicht gegeben haben.
Immer wieder kommt er torkelnd und lachend auf mich zu.
Da hatte ich Angst vor ihm. Die Angst ist geblieben und kommt immer nachts, wenn ich Schritte vor ihrer Türe höre. Dann will ich rückwärts durch jede Tür und weiß: Jetzt werde ich sterben.

Mit meinem nagelneuen Führerschein schickte er mich – gerade 18 geworden – an einem Januarabend in den Nebel und herrschte mich an: Warum fährst du so langsam! Beim Rückwärtsfahren durfte ich nur eine Hand am Lenkrad behalten, die andere gehörte, so verlangte er es strengstens, auf die Lehne des Beifahrersitzes. Von der Mutter hat er das niemals verlangt. Die hätte es auch gar nicht gekonnt.

Diese Kälberhalle ist eine Basilika. Wenn man in die Knie geht, kann man durch die Fenster einen russischen Himmel sehen.
Im Schlachthof blühn wieder die Bäume. Es ist wieder Frühling. Ich habe noch nie zuvor auf dem Schlachthof Bäume blühen sehen. In diesem Jahr ist es das erste Mal. Die alte Ziegelmauer wird einstürzen, wenn sie sich vor den Bäumen so weit zur Seite neigt.

Das Großvieh wird auf der anderen Seite abgeladen, angebunden, ausgesucht und abgeführt. Das kann ich nur sehen, solange es noch lebt. Alle Männer, die zwischen den Tieren herumgehen, haben einen Stock in der Hand, mit dem sie die Rinder auf die Knochen schlagen. Jetzt verstehe ich, warum er diesen Spazierstock hatte! Sie hat sich immer darüber gewundert, denn solange er arbeitete, ist er niemals spazieren gegangen. Als er nicht mehr arbeiten konnte und die Mutter gestorben war, griff er jedes Mal, wenn er aus dem Haus ging und es nicht regnete, nach dem Stock. Und nach dem Hut. Der Hut hat den Griff behalten.
Von außen den Griff, von innen den Kopf.

6.6.2018

Der Hund hat schon wwieder einen Hasen erwischt. Das Vögelchen war schon schlimm, und jetzt das. Was ist hier los?
Es ist so furchtbar.
Als ich abends mit dem Gießen fertig bin, höre ich plötzlich ein irre lautes, schrilles Quieken, immer, immer wieder, als würde ein Schwein abgestochen. Ich renne hin, wo es herkommt: Der Hund hat einen Hasen im Maul. In die Ecke neben dem Gartentor, das jetzt zu ist, hat der sich geflüchtet, das war eine Falle. Da konnte der Hund machen, was er wollte. Wieder schreie ich, laut, lauter, noch mehr, greife einen Stock, schlage nach dem Hund, der lässt den Hasen fallen, der rennt weg. Ich erwische den Hund nicht, so schnell ist er hinterher, die Jagd geht weiter, der Hund hat den Hasen wieder, bis der sich nicht mehr bewegt. Ich glaube, das war’s. Dann noch ein Sprung, ein Schnappen, der Hund lässt los. Ich renne zum ihm, der will sich verstecken, zerre ihn heraus, nehme ihn beim Wickel, jetzt schreit er, klemme ihn unter den Arm und schmeiße ihn ins Haus. Tür zu.
Der Hase hat eine kleine blutende Wunde in der Seite, ob man ihm noch helfen kann? Ich hole einen Korb, lege das Tier hinein, vielleicht fahren wir in die Klinik – die Beine strecken sich, will er springen? Dann bleiben sie einfach nur liegen. Es ist das letzte Zucken gewesen.
Ich sitze noch lange mit ihm da und streichle dieses warme, junge wunderschöne Leben.
Als ich ins Haus gehe, wartet der Hund schon an der Tür, will sofort wieder hinaus, ich gebe ihm einen Tritt und mache die Tür zu. Ich hasse ihn. Nein, ich kann ihn nicht anschauen und anfassen schon gar nicht.
Ich muss etwas ganz falsch verstanden haben von der Natur und vom Leben. Ich konnte nichts tun für den Hasen gegen meinen Hund.
Es ist ein Hund. Und ein Hund ist ein Hund ist ein Hund. Was habe ich mir gedacht?

Ich will mich ablenken, hole mir Mali aus You tube, wo wir sehen können, was unsere Soldaten dort machen. Gao. Wiedererkennen. Wegsein von hier.

Ich sage dem Hund nur noch gute Nacht, setze mich nur kurz zu ihm, schließlich wollen wir zusammen leben. Mein Anfassen fällt sehr kurz aus, und ich schaue dabei weg.

Was soll ich machen mit dem Hass auf das Tier, das ich liebe, jeden Morgen, jeden Abend, jeden Tag. Immer. Aber jetzt nicht. Meine Projektionen haben mich eingeholt. Ich muss sie zurücknehmen. Den Hund darf ich dafür nicht bestrafen. Wenn schon Strafe sein muss, dann trifft sie mich. Hat sie schon.
Ich gehe ins Bett. Lesen geht gar nicht. Ich höre immer nur das schrille Quieken. Wenn ich einnicke, wache ich davon wieder auf. Bis gegen Morgen die ersten Stimmen aus der Stille kommen und es übertönen.
Dann einmal auch von außen das Quieken, weit weg, nicht laut, aber es ist ein Quieken. 

Heute ist Mittwoch.

1990

Mittwoch 

In der Zeitung steht heute:

Tendenz:
Bullen: mittel, Kühe und Kälber rege,
Färsen langsam, Schweine flott, ger.
(ger. = geräumt)

[AZ v. 7.6.1990]

Die Schweinehälften hängen jetzt in der Wurstküche.
Aus den Vorderpfoten von Schafen und Ziegen kochen die Marokkaner eine Suppe, die sie weit nach Mitternacht und gegen Morgen essen. Was hätte er dazu gesagt. Er mache aus Schweinefüßen Sülze.

Es ist der Tag für den Streit mit der Mutter am Abend.
„Könntest du einmal nicht die Brühwurst versalzen! Die war ja wieder das reine Salz. Wie soll ich die den Leuten verkaufen, man muss sich ja schämen.“
Es ist ihm egal. Er raucht. Er schweigt. Soll sie doch reden – er macht die Wurst. Er geht wieder nach hinten, an seine Arbeit.

Als ich mit der Nähmaschine umgehen konnte, bekam ich die Aufgabe, aus den getrockneten Schweineblasen Därme zu nähen. Dazu wurden die nassen, weichen Därme aufgeblasen wie Luftballons und zum Trocknen aufgehängt. Wenn die Haut steif, hart und trocken war, wurden die Ballons halbiert und jede Hälfte wieder mit sich zusammengenäht. Am Ende musste immer ein Stück offen bleiben, wo das Brät eingefüllt wurde. Der Faden verband eine Blase mit der anderen zu einer Kette, die immer länger wurde, bis alle getrockneten Blasen aneinandergehängt waren. Da war die Arbeit fertig.

Nachts riecht es nach frischgeschlachtetem Fleisch.
Mit dem Blick auf die über den Ladentisch ausgebreiteten Fleischstücke muss ich gesagt haben: In das Fleisch will ich meine Zähne schlagen, bis das Blut herausläuft – damit es nicht tropfen-, sondern literweise, dickflüssig und schwer in die blind gewordenen Aluminiumschüsseln schwappt.

7.6.2018

Wir haben den Hasen am Rand des Maisfelds begraben. Ich hatte gottseidank Hilfe für ein gutes tiefes Grab. Da holt ihn kein Fuchs wieder heraus.
Das Gartentor bleibt offen. Der Hund will Frieden mit mir. Er geht oft auf das Sofa statt hinaus.
Ich lerne Natur. Hund frisst Hase, Katze frisst Maus, Maus frisst Baum (- Wurzeln) und der Mensch frisst alles.
Das hat dann mit Natur nicht mehr soviel zu tun.

Wenn der Hund bellt, denke ich jetzt: gut! Soll er machen! Sonst nervt mich die Bellerrei manchmal. Aber vielleicht ist es eine Warnung für die Hasen.

Vor meinem Fenster hat der Buchfink sein Junges mitgebracht und füttert es mit dem, was er vom Meisenknödel pickt. Die Kleiber machen das Gleiche, wenn sie der Buchfink nicht vertreibt. Denn der ist stärker. Er nimmt den Schnabel so voll, dass er ihn gar nicht mehr zu kriegt. Das Junge ist fast so groß wir er, es pickt sein Futter wild aus dem Schnabel seines Vaters. Da brauche ich mir keine Sorgen zu machen.
Die Hummeln summen im Mohn. Ich möchte sie so gerne streicheln. Das geht nur, wenn sie sich an einem Fenster totgeflogen haben.

Mahamane schreibt, dass er sich schämt, weil er seine Kinder ohne Essen in die Schule geschickt hat.
Brot für die Welt und die anderen haben auf meine Anfrage für sein Projekt keine Zeile geantwortet. So bin ich wieder dran.

Heute Nachmittag werden wieder die beiden Senegalesen das Heu versorgen. Dieselben wir voriges Jahr im Ramadan. Sie zählen wieder die Tage: noch neun, noch acht, morgen noch sieben.

Heute ist Donnerstag.

1990  

Donnerstag

Der Geruch von Blut und frischem Fleisch, der bis ins Haus gekommen ist, verliert allmählich an Leben. Die Stangen sind voll behängt mit Ketten nackter Würste und verschwinden in den Kesseln von der Größe eines Wäschebottichs. Der Dampf aus diesen Kesseln mit der kochenden Wurst macht hungrig. Alles kocht.
„Sag dem Pappi, dass das Essen fertig ist!“
Das Mädchen geht nach hinten und öffnet die Türe zur Wurstküche, doch anstatt zu rufen: essen kommen! schreit es nur, brüllt wie am Spieß und hört damit nicht auf. Davon werden die ruhigen Bewegungen des Vaters plötzlich zerrissen, unwillig wendet er den Kopf, was soll denn das Theater. Doch als er das Mädchen brüllend auf sein Ohr einschlagen sieht, lässt er das Messer aus der Hand fallen, mit ein paar schnellen Schritten ist er bei ihm, jetzt schreit er: halt still! und zieht dem Kind den Stachel einer Biene aus dem Ohr.
Mit diesen großen Händen. Diesen groben Fingern.
Das Mädchen weint leise, es zittert.
„Sei still“, sagt er, „Hauptsache, dass wir den Stachel rausgezogen haben.“
Dann kommt er mit dem Gesellen zum Essen.

8.6.2018

Gestern kam die alte Jägerin vorbei. Jetzt weiß ich, was ich alles falsch gemacht habe. Und es ist fast eine Erleichterung. Man lernt, wenn man muss.
Der Hund hat gemacht, was er machen musste als unabgerichteter Straßenhund. Ich hätte ihn nicht strafen dürfen. Gar nicht dazwischen gehen. Besser nicht dabei sein, wenn er den Hasen tötet.
Mein Hund ist nicht nachtragend. Aber so hat er mich noch nie erlebt. Er hat gemerkt, dass ich das, was er getan hat, nicht mag. Natürlich wird er es wieder tun. Wenn ich – was Gott verhüten möge – noch einmal ein Quieken höre, werde ich nicht dahin laufen, sondern ins Haus, und Türe und Fenster zumachen.
Ich war schon dabei, jede Freundschaft aufzukündigen, wo ich kein Verständnis für mein Unglück über diese Katastrophe fand. Wäre etwas voreilig gewesen. 

Bin erschöpft und kann nicht schlafen. Vermisse die Glühwürmchen und die Grillen. Das Leuchten und das Zirpen. Wie lange wird es dauern, bis das nicht mehr weh tut. Ich werde ja immer wieder daran erinnert, wenn ich an Orte komme, wo sie noch da sind, wie oben in der Heide heute morgen. 

Heute ist Freitag und da sollte ich noch die anstehenden Telefonate für mein altes Haus erledigen. Das hätte ich in den letzten Tagen nicht gekonnt. Ja, heute kann ich wieder tun, was getan werden muss.
Ich höre mich telefonieren wie eine Geschäftsfrau, die nichts tut als verhandeln und organisieren. Klingt gut. Die Männer machen, was ich will. Sagen sie jedenfalls.

 1990

Freitag

Scharf riecht der Rauch für das Fleisch, das Schinken werden soll, scharf und beißend. Der Geruch zieht in die Wohnung. Auf seinen rohen Schinken war der Vater so stolz, dass er sein Rezept an seinen Nachfolger, der nie der gewünschte Schwiegersohn war, weitergab, damit die Leute, die ihn kannten, noch seinen Schinken essen konnten, auch als er ihn nicht mehr selbst räucherte.

Das schrille Kreischen der Knochensäge. Jeder Knochen leistet Widerstand. Es ist ganz sinnlos, sich die Ohren zuzuhalten, ihm ist nicht zu entkommen, auch nicht dem Gestank, den das herunterfallende Knochenmehl verbreitet, heute, am Freitag.
Morgen werden die Knochen nicht mehr gesägt, sondern durchgehackt mit dem doppelseitigen Beil. Das Beil, mit dem er die Knochen durchhackte, ist heute immer noch so klar wie ein Spiegel.

WU. Ich gebe Mahamane die Nummer, damit er noch 100 € abholen kann, bevor die Bank schließt zum Wochenende. Alles geht gut, bis ich sage, dass er aufpassen muss, damit das Geld für das Fest reicht.
Da meint er doch, dass 100 € nicht reichen wegen der Kleider und… – weiter kommt er nicht, weil ich nicht mehr an mich halten kann. Es ist das erste Mal, dass ich mich so aufrege und sage: nein!
Und wieder einmal:
 – Ich kann nicht mehr als 200 € im Monat schicken!  
– Er würde dann nichts mehr brauchen im Mai –
– Das sagst du immer!
Er versucht es noch einmal, wieder: die Kleider.
– Ich: Das verstehe ich nicht. Es gibt Menschen, die haben auch am Hammelfest nichts zu essen. Und ihr wollt neue Kleider, nein, nochmal: Das kann ich nicht verstehen.

Das muss er verstanden haben. Findet kleinlaut zum Ende, ich wünsche noch bonne fête! 
Und komme mir zynisch vor. Muss mir immer wieder sagen: 200 € sind zwei Lehrergehälter.
Damit muss Mahamane leben, dass ich nicht verstehe, warum alle immer neue Kleider brauchen, wenn er selbst gar kein Geld verdienen kann.
Jetzt habe ich gerade wieder einmal Mahamanes Projekt an drei Hilfsorganisationen geschickt.  

9.8.2018

1990

Samstag

Am Samstag nahm der Meister den Frauen das Messer aus der Hand. Er zog eine der weißen unzählige Male gewaschenen und gestärkten Jacken an, die knapp um seinen schlanken Körper passten, und band sich eine frische lange Stoffschürze um, wobei er eine der Ecken in den Gürtel steckte, damit sie ihm nicht bei jedem seiner weiten Schritte an die Stiefel schlug. Die große weiße Gummischürze für die grobe Arbeit, die mit den Jahren vergilbt und steif geworden ist, hängte er für heute an einen Fleischerhaken.
Am Samstag verkaufte er das Fleisch. Bevor er Hand an die großen Stücke legte, prüfte er die Messer auf ihre Schärfe. Er griff nach dem Stahl, an dem er das Messer rechts und links und rechts und links entlang zog, immer wieder seine Schärfe vorsichtig mit dem linken Daumen tastend, bis er es zufrieden zur Seite legen und mit dem nächsten beginnen konnte.
Sobald er Messer und Stahl in die Hände nahm, stellte er sich breitbeinig hin. Auch als er alt und klein geworden in ihrer Küche stand, wurde diese mit dem Augenblick, wo er auf ein stumpfes Messer stieß, zu seiner Werkstatt: „Das schneidet an zwei Tagen auch mehr als an einem!“ stellte er fest und verlangte nach einem Stahl.
Samstags brauchte er die schärfsten Messer, um das gewünschte Gewicht eines Fleischstücks genau zu treffen und es um nur wenige Gramm zu verfehlen. Mit einem zufriedenen Blick auf die Waage nannte er den Preis, den er sofort mit dem dicken Bleistift, der hinter seinem Ohr steckte, auf das Papier schrieb, in das er das Fleisch wickelte, bevor er es den Frauen weiterreichte. Stumpfer Stift und fette Zahlen. Wenn gerade keine Kundschaft kam, würde er den Stift mit einem scharfen Messer wieder spitzen. 

Samstags ging der Tag mit den Jahren immer früher zu Ende und damit auch die ganze Woche. Wenn das Fleisch und die Wurst in den Kühlraum gebracht waren – nur der Braten für morgen nicht, diesmal ein doppelter, denn morgen ist Pfingsten, dann war Feierabend.