24.-25.11.2018 – Abschied nehmen

 

24.11.2018

Der Nebel hat die Kugel verschluckt. Mein Dezembermond fängt schon sehr früh an. Die zwölf Mondmonate sind zu wenig für unser Jahr. Sie sollen trotzdem meine Ordnung bleiben.
Als ich mich gerade entschlossen habe, ins Graue hinauszugehen, höre ich das ganze Haus rauschen. Endlich. Wir bleiben zuhause. Es hört nach ein paar Stunden schon wieder auf. Es war wieder viel zu wenig.

25.11.2018

Aus dem Bett gefallen. Der Holzboden war eisglatt, was nass war, ist gefroren. Da sind mir die Fellfüße beim Aufstehen weggerutscht.
Der Nebel ist so dicht, dass ich kaum sehe, wo ich bin. Die Welt scheint geheimnisvoll, als könnte etwas noch nie Gesehenes hervortreten, wenn der Schleier weggezogen wird. Wir gehen hinaus, unseren täglichen Weg, auch wenn wir ihn nicht sehen können. Wenn wir die Richtung zurück nehmen, lasse ich Yalla laufen. Wenn ich das früher tue, kann es sein, dass sie sofort nach Hause rennt, wenn irgendwo ein Krach zu hören ist. Dann sehe ich sie nicht mehr. Sehe überhaupt nichts, wenn ich den Horizont absuche. Ich warte. Dann ist da ein Fleck, der sich in seinem Grau von dem Grau rundherum unterscheidet. Wird er größer? Wird er dunkler? Bewegt er sich? – Endlich: querfeldein kommt er näher und wird Yalla. Ist es mir gelungen, ihr zu vertrauen?
Wir gehen zusammen durch den Wald nach Hause, weil unser durch das Gras schwarz ist von Gülle. Diesen Gestank soll sie nicht mit nach Hause nehmen.

Es ist der Totensonntag. Ihr letzter Tag „Dann passt’s ja –“ könnte der Bestatter sagen.
Noch sechseinhalb Stunden.
Heute würde sie es schaffen. So oft war sie zurückgeschreckt, aber heute kam es ihr leicht vor, als hätte sie nun genug Mut. Verständlich mit der doppelten Dosis Beruhigung, die ihr ein Arzt gerade gegeben hatte.
Wir haben an dem Tag nicht miteinander gesprochen. Was ich von ihr hörte, war abends der Schrei ihrer Schwester, die den Anruf angenommen hatte: Neiiiin!!! Und dann: Heike!!!
Sie ist tot.
Kann es sein, dass ich zum ersten Mal ihren Namen nenne?
Ihr Tod soll endlich ihren Namen bekommen. So muss es sein.

Heute ist auch so ein Tag für den Satz von meinem Vater: „Wenn es erst so weit ist, dann ist es auch gleich vorbei.“
Mir geht es besser. Gestern war furchtbar. Da ging gar nichts. Einfach gar nichts. Nicht einmal Rühreier habe ich hingekriegt.
Was tut man, wenn man nichts tun kann. Am wenigsten: schreiben. Ich verstehe nicht, was ich damit wollte. Erinnere mich an das Gefühl, das ich dafür hatte, dass das jetzt meine Sache war. Es blieb bei der Erinnerung. Aber was kann ich mit so einem Tag anfangen, wo nur machen hilft. Für jede Ablenkung bin ich dankbar und folge ihr, bis ich wieder nach Hause gehen und einen Film zum zweiten Mal anschauen kann. Der Hader hält doch einen ganzen Film ohne ein winziges Lächeln durch. Markenzeichen, was glaubst du.

Ich bin freundlich mit mir. Fange wieder an zu lächeln, wenn ich meinen Hund sehe, und hole mir Streicheleinheiten bei ihm ab. Von wegen: Ich streichle den Hund.
Abends werde ich mit Heike eine Pizza essen gehen. Das haben wir so gerne zusammen getan. Zuerst mit der Familie in Westerland vor der Abfahrt mit dem Nachtzug nach Hause. Da gab es gerade die erste Pizzeria dort, gleich neben dem Bahnhof. 

16.05. Noch eine halbe Stunde. Und eine Stunde später der Schrei.
Vor 24 Jahren.

Mein letzter Aufbruch nach Afrika war vor neun Jahren. Aber das konnte ich da noch nicht wissen.

25.11.2009

Ihr letzter Tag und ich fliege. Abschiede sind leise. Ich reise.
In deiner letzten Stunde werde ich über Mauretanien sein.
Stell dir vor: Ich reise, ich fliege ohne Angst und Aufregung. Nach Afrika.
Wenige Stresssekunden sind nichts weiter als Erinnerung an vergangene Stresstage, dann Stressstunden, mindestens am letzten Abend und Morgen.
Ich bin, wo ich bin, an meinen Orten auf dieser Welt. Auch wenn für den Wechsel Bewegung nötig ist, spüre ich sie kaum.
Geschieht sie doch sowieso meist im Sitzen. Dein Wunsch nach mehr Leichtigkeit für mich – er scheint sich erfüllt zu haben.
Du und meine Eltern schauen mir im Traum durch einen Türspalt zu. Sie lachen unter unseren afrikanischen Hüten, als sie sehen, was ich tue: packen.
Ich staune. Nur Ruhe, Freude, diese manchmal in heftiger Wallung, in großen Blasen.
Und: Ach, Geld. Wer hat das gesagt: Kreativität sei gleichzeitige Wahrnehmung mehrerer Ebenen?

Bamako
Ich bringe den Wunsch mit, das Schreiben-MÜSSEN hinter mir zu lassen.
Das Gefühl, aus dem, was ich erlebe, durch Gestaltung etwas machen zu müssen.
Da-Sein. Schreiben nur als erzählen, weitersagen. Sonst nichts. Ob das geht?

27.11.2009

Und nach so einer Nacht: Schreiben als Selbstverständigung, um aus der Quälerei herauszukommen, die mir die Moskitos und eine Kröte beschert haben, die auf meine Matte gekommen sein muss. Da habe ich sie erdrückt. Sie muss gelebt haben. Das Blut ist noch frisch. Das kalte Weiche spüre ich beim Suchen der Taschenlampe. Richtig schlafen konnte ich erst, als es schon hell war und das Leben hinter der Mauer schon begonnen hatte.
Im Liegen noch der Zweifel, ob ich hier richtig bin, im Sitzen weiß ich, dass ich weiter muss, um anzukommen. Hier bin ich erst eingetreten.
Menschen und Natur. Wieviel brauche ich davon? Brauche ich Menschen, wenn Natur fehlt, oder brauche ich Natur, wenn die Menschen fehlen? Welcher Mangel war zuerst? Oder wie immer: beides? Mit Menschen in Natur. Gleichzeitig.
Aber ich schaue nicht so sehr nach Menschen, wenn ich in der Natur bin, wie ich durchs Fenster schaue, wenn ich unter Menschen bin.

29.11.2009

Tabaski in Kaladanga.
Ich habe noch nie soviel Schaf von innen gesehen, sein Blöken hatte mich aufgeweckt. Die Kehle wurde durchgeschnitten, dann hängte man das Tier zum Ausbluten auf und zog ihm das Fell ab. Das liegt jetzt zum Trocknen aufgespannt in der Sonne.      

2.12.2009

Sevare.  Auf nach Tombouctou – inshallah!
Wir nehmen an der Strecke Douentza-Tombouctou drei Peulfrauen mit. Als sie in den Kattkatt einsteigen, schlüpfen sie flink aus ihren Schlappen, bevor sie einen Fuß in den Wagen setzen. Wie vor ihrer Matte oder ihrem Zelt. Natürlich. Für sie ist das Auto ein fahrendes Zelt.
Als der Reifen platzt, sind sie nicht mehr bei uns, sind ausgestiegen und ins Weite gelaufen.
Es hat nicht lange, aber heftig gerumpelt, dann stand der Toyota, vorne rechts hängen nur noch Fetzen um die Felge. Das hätte böse ausgehen können, wir hatten Glück. An der nächsten Kontrollstation legt der Chauffeur seinen Teppich aus und betet. Allhamdellulai! 

Ich sitze da und lasse die Welt sich weiter drehen. Ich muss nichts dafür tun, dass sie mich mitnimmt. Nur aufschauen zwischen meinen lebensnotwendigen Beschäftigungen, um zu spüren: Sie hat sich schon wieder ein Stück gedreht. Die blühenden Zweige der Bougainvillea schwanken. Schon wieder ein Stück, schon wieder, wieder – auch wenn sich kein Zweig bewegt.
Am stärksten spüre ich es in den Ohren, wenn mich die Zikaden in die Atmosphäre verweben. Und im Bauch, wenn ich auf dem offenen Boden gehe, ohne zu sehen, wohin.
Erinnerung an die Nacht in Segoukoro: Nicht nur verflochten mit den Ohren, auch verwachsen mit den Beinen. Durch die steigt es auf in den Bauch. In meinem Afrika zum ersten Mal.
Es war ein weiter Weg zu mir. Wo und ob ich angekommen bin, weiß ich noch nicht. Sehnsucht nach Ostpreußen und keine Lust, hier Neues anzufangen. Fühlt sich eher wie Abschiednehmen an. Alles noch einmal anschauen, hören, riechen, spüren auf der Haut, schmecken auf der Zunge: ja –
Und die Dinge rund machen, damit das, was ich angefangen habe, gut weiter geht, auch wenn ich nicht herkomme. Wegen „verantwortlich“.Heute Mamadou, morgen Idrissa, übermorgen die Schule.
Und dann? Umkehren? Fühlt sich wie zurückziehen an. 16 Jahre sind seit Quaga 1 vergangen. 15 davon ohne meine Heike auf der Welt.

3.12.2009

Bei Idrissa. Es schmeckt sehr nach Abschied. Wie noch ein letztes Mal. For a while?

6.12.2009

Die Armen kommt die Globalisierung auch beim Telefonieren teuer zu stehen: Handy-Gespräche kosten soviel wie bei uns.
Aber auch am Telefon müssen langwierige Begrüßungen stattfinden, egal mit wem. Man kann nicht nur etwas fragen, das wäre unglaublich unhöflich. Also geht es hin und her mit dem für mich leeren  ça-va? – ça-va? Drei Gespräche dieser Art kosten 1000 FCFA (1.70 €)
Das sind zwei große Melonen oder fünf gebratene Fische oder 20 kleine Brote oder fünf mittlere Schulhefte oder 4 kg Reis.

Wann werde ich aufhören, mit den Fingern zu zählen, wie viel Tage es noch sind? Wenn eine Hand dafür reicht?
Ich weiß nicht, wann mir je eine Zeit so lang geworden ist. Es ist, als würde ich die 26 Tage minutenweise verbringen, froh, dass es nicht ganze vier Wochen sind. Ich hoffe, dass es nach der Hälfte, die ich morgen erreiche, schneller geht.
Mali hat seine Zeit in meinem Leben gehabt.  Aber dass sich das Ende so lange hinzieht, hätte ich nicht gedacht.
Ich habe keine Neugier mehr. Mit den vertrauten Dingen bin ich an eine Grenze gekommen mit meinen Mitteln an Sprache. Ich verstehe, dass ich nicht verstehe. Ist das Einsicht oder Resignation? Fühlt sich leer an, schal, abgestanden, langweilig. Das Fremde verbraucht, das Vertrautsein begrenzt.
Dazwischen gibt es Abmachungen von mir mit mir: für Idrissa jedes Jahr 200 €, Papa – von Fall zu Fall, die Schule 1000 €. Da kostet die Köchin 30 000, der Lehrer: 50 – 100 000 FCFA in der Zeit des Unterrichts: 7 – 15 Uhr von Oktober bis Juni.

7.12.2009

Es ist ein Montag und der 13. Tag im siebenten Jahr.
Wie war der Weg, als ich die Aufgaben losließ?
Beobachten, beobachten, beobachten, und wenn die Gedanken dazwischen kommen: die Gedanken beobachten.
Ob das auch hier der Weg sein kann, wo ich die Leere gewählt und mich erst einmal ratlos und ungeduldig darin gefunden habe?
Also gut: Meine fünf Sinne habe ich dabei. Und einen sechsten für’s Lesen. Joyce !?!

8.12.2009

Die Zeit vergeht nicht. Auch wenn der Tag einen anderen Namen hat, kommt er mir zum Anfang und zum Ende hin genauso lang vor wie gestern und vorgestern. Und morgen wird es wieder so sein, da mache ich mir nichts mehr vor. Von wegen Mitte und Gipfel und dann geht alles wie von selbst und ganz schnell und leicht. Schwer ist es ja nicht, aber schwer auszuhalten in der Langsamkeit.
Ein langer Abschied von einer langen Zeit. 15 Jahre. 13 davon, bis ich innen angekommen bin. In Dörfern, unter Bäumen, unter dem Vollmond von Kaladanga oder in der Finsternis der Gassen von Segoukoro. Die Augenblicke, in denen ich das Gefühl hatte: ein Schritt noch und ich bin drüben, im Alles. Im Einen.
Ich weiß nicht, ob ich diesen Übergang anderswo hätte finden können. Jetzt gelingt er mir fast überall. Aber ich musste auf der offenen Erde anfangen. Und unter offenen – lachenden – Menschen. Bis man ihnen näher kommt, aber nicht nah genug, um zu verstehen. Da werde ich jetzt mal aufhören.
Das verstrickende Schwirren in der Luft. Joyce lesen. Würde ich vielleicht nicht durchhalten, wenn es noch anderes gäbe. Ist wie Arbeit. Die hilft ja auch manchmal über Drohendes weiter. Und ist auch eine Entdeckung, die jeder, der jemals ein Wort über Literatur verloren hat, nicht auslassen dürfte.
Bewusstseinsstrom – und dass wir nicht in Sätzen denken. Oder eigentlich: Unterbewusstseinsstrom, der Worte zu Hilfe nehmen muss, um Gestalt zu bekommen. Aber Sätze braucht es nicht. Es sind erst die Gedanken, die diese nötig haben.
Und wohin gehört nun das Beobachten?

9.12.2009

Heute Nacht habe ich ein Kind gekriegt und will es jetzt aus dem Krankenhaus mit nach Hause nehmen.
Aber das Baby muss noch gewogen werden, und es sind gerade keine Waagen da.
Da will man mir mein Kind nicht herausgeben. Ich rege mich auf, bis ich es bekomme.
Jetzt muss ich den Vater suchen. Das kann ich nur mit dem Kind.
Dann verlassen wir mit dem Baby das Krankenhaus.
Es muss in Afrika sein.

Als ich Idrissa von dem Baby erzähle, sagt er: Das ist ein guter Traum! Und ich: ja. (?)

Ein letzter ganzer Tag mit Idrissa und Ignet und Fatuma.
Irgendwie beruhigend, dass auch das ein Ende finden wird. Als wäre diesmal jedes Ende eine Beruhigung.
Es war gut, auch hier Gewohnheiten zu finden wie den Gang über die Dünen am Morgen und am Abend. Den Mittag unter der Akazie in Schatten und Wind. Gegen Abend noch schnell zur Pumpe zum Waschen. Dann warten auf Tee – Reis – Tee. Zähne putzen. Gestern erst spät nur wenige Sterne. Verschleiert wie die Sonne gestern und heute. 

Die Preise, die die Targi für ihren Schmuck nennen, haben mit den Sachen überhaupt nichts zu tun. Für dieselbe Kette wollte ein Junge 2000 Franc haben, Ignet 10 000, und für 5000 habe ich sie bei den anderen bekommen. Gebe ich dann die 10 000 oder 5000, bekomme ich gleich noch ein Cadeau – Geschenk vom gleichen Wert dazu. 

11.12.2009

Weit weg vom Rest der Welt. Da angekommen, wo ich hinwollte: in der Stille.
Wo ich eine Vogelstimme, ein Ziegenmeckern, einen Eselschrei, ein Schafblöken nur so leise höre, um zu fühlen, wie weit, weit weg sie sind. Und wo eine Fliege einen ungeheuren Lärm macht.
Heute habe ich westlich von Timbuktu die größte Entfernung von mir erreicht: Ab morgen geht es zurück. 

Die Preise will ich nicht vergessen: 
Reis 100 kg 15000 – 30000 reicht für 2-3 Personen 6 Wochen
Hirse 20000 – 25000
Kamel 300 000 – 400 000
Kuh 200 00
Schaf 30 000 – 40 000
Ziege 20 000

1000 CFA Fr sind – immer sehr ungefähr – 1,50 € 

13.12.2009

Tombouctou. Auf dem Rückweg schlafe ich noch einmal auf dem Dach bei Mamadou.
Sonntag. Ein T-Shirt verschwindet lautlos von der Leine des nächsten Daches.
Noch einmal Tombouctou. Abschied für immer oder bis zum übernächsten Jahr?
Mamadou ist jetzt 37, Fatuma 29 Jahre alt. 

En attendant le bac. Auf das Schiff müssen wir warten. Wie immer.
Zufrieden. Weil es vorbei ist oder weil es dann doch noch gut geworden ist? Oder beides?
Die Wüstennächte unter ausgelaufenem Mond.
Aber kein Cadeau von Idrissa. Keine Orange. Er ist mit mir nicht mehr zufrieden. Ich habe nichts anders als immer gemacht. Seine Unzufriedenheit nehme ich mit.  

14.12.2009

Au bateau. Als ich vor der Schiffsküche meinen Becher vor mich hinhaltend nach warmem Wasser frage, höre ich: if faut rentrer – man muss hereinkommen. Also steige ich durch die Kartoffelschalen und gebe meinen Becher ab. Der wird aus einem großen Topf voll geschöpft und mir wieder gereicht. Ich halte fragend eine Münze hin. Der Bambara schüttelt den Kopf und lacht. Ist doch nur Wasser.
Für den Kaffee, der mich fit machen soll, für den Text, den ich im Kopf habe und aufschreiben will. Erzählen um abfließen zu lassen, was mich auf dieser Reise so besonders bedrückt hat. Was ich gehört und gesehen habe, sollen auch andere wissen, die nicht bis hierher kommen.
Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Die Widersprüche können nicht gelöst, aber benannt werden. 

16.12.2009

Nach 12 Stunden Bus von Mopti bis Segou – wie immer in diesem Jahr bin ich die einzige Weiße – hält der am Stadtrand für eine halbe Stunde Abendessen. Jetzt reicht es mir. Das ist zu viel. Nach neun Stunden stop and go in dieser Affenhitze. Ich gehe los in die Richtung, wo man mir die Hauptstraße gezeigt hat. Schaue nach einem Taxi, sehe keins, nur finstere Nacht und Motorräder, und ich höre mich denken: Ich hab es so satt!
Und wieder: Ich hab es so satt. Und noch mal: Ich hab es so satt.
Da tritt ein schwarzer Mann in weißem Hemd auf mich zu und fragt mich freundlich-interessiert, ob er mir helfen könne. Taxi? – Ja, da ist es. Er zeigt ins Dunkel, wo ein gelbes Licht mit schwarzen Buchstaben leuchtet. Wieviel? Soviel wie der letzte Fahrer für drei Ecken genommen hat. Wir holen mein Gepäck und fahren.
Da mag ich sie wieder. Hab sie richtig gern. 

Salif ist nicht da, wo er immer ist, wenn er jemanden erwartet. Hat es nicht funktioniert mit der Botschaft von Mamadou?
Die Freunde rufen ihn an. Salif? – J’arrive! Cinq minutes! – Ich komme! Fünf Minuten!
Er hat schon geschlafen, jetzt kommt er über den Fluss, um mich abzuholen. Die Arme weit ausgebreitet, lachend: Ich freue mich sehr, dass du kommst!
Salif und seine Pinasse – was wird er machen, frage ich ihn, wenn die Touristen weiter ausbleiben? Er hat so eine große Familie. Salif lacht: Die Pinasse verkaufen für ein Motorrad und damit Taxi fahren, vielleicht –

Hier ist das Abwehrgefühl verschwunden, das mich vom ersten Tag an verfolgt hat, besessen geradezu. Kam mir wie Überfordertsein vor. Warum gerade jetzt, wo ich gerade im Begriff bin, wieder mehr zu tun, um zu helfen? Welche Ambivalenz? Zwischen dem Ja! und dem Nie-wieder-Bus, Kattkatt…
Bin ich der Realität bisher noch gar nicht nahe gekommen? Habe mehr verdrängt, als ich es jetzt noch kann?

Noch einmal Kaladanga. Unter Palmen, unter Ziegen, unter Eseln. Drei haben heute Nacht gleichzeitig geschrieen. Unter Hühnern und Küken – 11 sind vorgestern geschlüpft und kriechen von Zeit zu Zeit unter die Glucke, die dafür leicht ihren Flügel hebt.
Unter Kindern. Jussuf steht aus dem Sand auf, wo er geschlafen hat, lässt seine Jacke fallen, ein Stück weiter die Hose, um sich dann über das Gras zu hocken und eine ganze Weile zu warten, bis etwas kommt. Dann steht er auf, kommt zurück, nimmt dabei Hose und Jacke mit.

Ich habe den ganzen Tag ein Gefühl von Erleichterung, die aus einem Traum kommt.
Da habe ich geweint, geschluchzt, wie ich es nur nach ihrem Tod getan habe. 

17.12.2009

Segou. Ich freu mich auf Weihnachten! (aber sag es nicht weiter –)
Die Nacht hier unter Hühnern und Küken, Hunden und Katzen, Eseln und Schafen, im Wind klappernden Palmenblättern ist Warten im Warten. Warten??
Soviel warten. Geht das überhaupt? Und wie soll ich das aushalten? Beobachten? Löst sich auf mit dem Essen, allein.

18.12.2009

Und jetzt mache ich Weihnachtseinkäufe!

19.12.2009

Ich habe so viele Geschenke auf dem Markt gefunden. Die reichen für mein ganzes Leben aus. 

Ich bringe sie den immer neuen Kindern zu Weihnachten mit. Meine Nichten und Neffen begrüße ich mit kleinen Rasseln vom Flaschenkürbis, in die Elefanten geschnitzt sind. Später gibt es mit Perlen- oder Kaurisketten umwickelte Kalebassen, die sind schön laut. Und noch später sind Percussioninstrumente vom Baobab, die Früchte des Affenbrotbaums, dran. Davon habe ich nach neun Jahren noch zwei. Es fällt mir immer schwerer, mich davon zu trennen.

Dann greife ich wieder zu den Amuletten aus Holz oder Bronze. Die Glöckchen aus Bronze müssen in jeder Familie auftauchen. Jedes hatte einen anderen Klang – auch davon habe ich nur noch zwei. Aber viele Amulette hängen an Lederbändern neben Ketten und Armreifen.

20.12.2009

Bamako
Der Fluss. Djoliba. Zurück und wieder da. Attendent le vol. Ich warte auf den Flug. Und wie war’s? Es war, wie es war. Anders.
Jetzt – acht Uhr morgens und Frühstück am Fluss – ist es angenehm wie eh und je. Der Fluss und die Sonne, die Pirogen und der Ibis, der Sonntag und ich. Und Maiga lacht wie immer.
Für diese Augenblicke bin ich hier und in Kaladanga und auf dem Schiff und in der Wüste und bei Idrissa. Dort die Stille hören, hier den Lärm in den Bäumen und am Wasser am Abend. Vögel, Zikaden, Frösche und Kröten. Unbeschreiblich laut. Mit den Ohren in die Welt verstrickt. Das ist gut.
Aber ich will es das nächste Mal anderswo suchen und finden.
So könnte es heute ein Abschied für immer werden? Vielleicht. Für das, was ich diesmal nicht wiedergefunden habe – das Gefühl sinnlicher Geborgenheit unter den Menschen – werde ich nicht wiederkommen.
Es ist etwas passiert, und ich weiß nicht, was. Fühlt sich an wie ein Bruch, ein Riss, ein Tod. Statt des Aufgehobenseins in Sympathie spüre ich Abwehr. Ich bin eine andere als voriges Jahr. Fühle mich abgestoßen und oft überfordert. Zu oft. Vom Verstehenwollen? Habe ich mir zu viel vorgenommen mit Techaq? Eine zu große Verantwortung? Für 800 €?! Heide!
Gleichzeitig fühlt es sich an wie Ouaga vor 15 Jahren: abgestoßen und angeekelt von Schmutz und Dreck. Aber ich kann nicht einmal mehr das genießen, was damals das Beste war: eintauchen in eine sauberes Schwimmbad! Ist langweilig. Ich komme damit auch nicht schneller heim.
Es wird wohl einer der längsten Tage des Jahres. Ob ich herauskriege, wer ich jetzt bin?
Auf einen früheren Zustand zurückgefallen oder einfach nur älter und schwächer?

9.00
Noch 13 Stunden

11.00
Was lässt Gefühle verschwinden? Enttäuschung? Die beiden letzten Aufenthalte – allein in den Dörfern und auf dem Schiff – waren die besten. Und jetzt das?
Was habe ich erwartet, oder was habe ich geglaubt, erwarten zu müssen? Was ich nicht kann oder nicht will? Dass ich eine bin, die hilft und versteht und versteht und hilft? Komme mir wie eine Matrjoschka vor, die in der falschen Größe steckt. Zu klein oder zu groß? Ich bin eine, die Hoffnungen weckt, die sie dann nicht erfüllt. Nicht erfüllen kann. Sind wir Weißen das hier nicht immer? Und gerade in diesem Jahr, wo wir so wenige sind? Diese noch größere Hoffnung ist mir zu viel.
Oder ich merke, wie sie die dicke Matrjoschka sehen, die dickste, wo ich doch nur eine von den kleineren bin? Mich sieht hier keiner.

12.00
Obst holen, Brochette, Pommes

13.00 – 14.00 ist die längste Stunde, weil sich fast-einschlafendes Dösen langsamer anfühlt als Wachsein. Und vor halb drei kein Kaffee.

15.00
Lesen und die Zeit vergehen lassen unterm Mangobaum.
Das Sitzen auf dem zweiteiligen Holzstuhl, wie ihn auch die Nachtwächter haben, fühlt sich so gut an. Als habe man sein Gewicht auf der Welt an genau der richtigen Stelle. Den Schwerpunkt in der Mitte. Ich habe ihn aus Segou als Geschenk mitgenommen.

16.00
Jetzt kann ich dieses Afrika wieder genießen. Den warmen Wind auf der nackten Haut. Die lautlosen Pirogen, die Vögel sehr laut schreiend über mir. Andere überschlagen sich vor lauter Jauchzen. Pfeifen antwortet. Die winzigen rot-braun-grauen hüpfen leise um mich herum. Vier Ibisse gehen im Grünen spazieren wie kleine Störche, den Kopf immer vor und zurück und vor und pick und ein Schluck. Dann fressen sie das, was ich nachts – nicht mehr – höre.
Dieser Tag wäre ganz nach meinem Herzen. Aber meinen Ausflug zum Markt habe ich ganz kurz gemacht, obwohl die Straßen geradezu sauber und die Frauen schön gekleidet waren. Sonntag. Wie wäre ich ihnen früher hinterher gelaufen. Gefahren und alles. Jetzt frage ich mich, wie ich es da geschafft habe, in einen der kleinen Busse zu steigen und mich irgendwohin mitnehmen zu lassen und anzukommen. Heute habe ich das Gefühl, dazu bräuchte ich eine Kraft, die ich nicht mehr habe. Nun sind es noch vier Stunden, in denen bricht die Nacht an mit ihrem Tumult. Und wie ich das genießen werde – die Dinge werden so leicht, wenn es dem Ende entgegen geht!

München
In Paris am Morgen stutze ich für einen Moment. Was haben die hier an den Händen? Ach – Handschuhe! – So was.
Mit Warten geht die Reise zu Ende. Auf den Flieger. Im Flieger aufs Fliegen. Ein letztes rotes Leuchten vor dem Morgen. Danke.
In Europa ist der Winter eingebrochen. Wie gern ich heimkomme!
Wechsle den Sommer gegen den Winter aus mit sechs Waschmaschinen. Ich tue es gern.
Aber auch wenn alles verräumt ist, werde ich noch lange nachdenken müssen. Über die Abwehr, die Überforderung, die Zwiespältigkeit. Selbst dort, wo ich mich am wohlsten fühlte, habe ich die Tage an den Fingern abgezählt. Jeden Tag ein paar Mal. Und die Tage stundenweise.