17.1.2019 – hinter Glas
aufgebrochen 2000
Nach einer Stunde kam die Polizei. Daß sie sie ist, zu sagen, dazu haben sie mich noch gebraucht. Mein Nicken genügte. Dann gingen sie wieder. Bevor ich sie hinausjagen konnte.
Dabei gab es auch eine Spur von Erleichterung, als das Gefürchtete eingetreten ist. Daß ich nichts mehr falsch machen konnte. Daß ich keine Angst mehr haben mußte, daß etwas passiert. Daß die Angst mit dem schlimmsten Ende ein Ende gefunden hat.
Grauen und Bewunderung vor dieser Größe. Vor ihr bleibt nichts. Gar nichts. Am wenigsten ich.Was jetzt.
Wer zieht sie an. Ich wollte sie anziehen. Ich mußte es tun. Wer wenn nicht ich.
- Sie dürfen es nicht.
Ich darf mein Kind nicht fertigmachen zum letzten Mal?! Wer sagt das? Wer kann mir das verbieten?
- Das Krankenhaus.
Als ob sie krank wäre! – Wer ist das Krankenhaus?
- Es ist nicht erlaubt. Aber – ich rate Ihnen: Tun Sie es nicht, Sie werden es nicht ertragen –
Haben Sie sie gesehen?
- Ja.
Der Hörer fällt mir aus der Hand, wenn ich ihn nicht rasch auflege. Ohne Gruß.
Er hat sie gesehen.Wann kann ich sie sehen? Wenigstens sehen? Ich wollte mein Kind sehen. Das Kind, das aus meinem Arm gefallen ist.
Ich wollte hinein zu ihr. Wurde zweimal zurückgewiesen, weil sie die Verantwortung nicht übernehmen konnten. Sagten sie. Bin ich ein Kind oder eine Mutter?! Sie ist nicht hergerichtet, liegt in einer Blechschüssel, drei Schnitte, unvernäht, die den Körper öffnen, zu den Bruchstellen, wo sie aufgeschlagen ist. Da wollten sie keine Verantwortung und mir ließen sie sie nicht. Morgen sollte ich wiederkommen, dann sei sie hergerichtet.
Kann ich dann zu ihr?
„Nein, es gibt eine Wand. Sie können sie sehen, hinein dürfen Sie nicht. Was denken Sie, was da schon vorgekommen ist! „
Die Wand ist aus Glas. Zum Abschiednehmen.
Wenn ich tobe und wüte, werden sie mich gar nicht hineinlassen.
Als ob ich ihr jetzt noch etwas antun könnte.Morgen öffnete die Schwester für mich eine Tür in diesem Totenkeller. Abschiednahme stand auf dem Schild. Sie klopfte nicht an, ließ mich ein.
Da ist sie.
Wir stehen uns gegenüber. Zwischen uns ist das Glas. Ich sehe sie an.
Ihr Gesicht ist ein Urteil.
Ein Urteil über mich, über uns, über alles.
Hier bin es nur ich. Hier trifft es nur mich.
Ein Urteil ohne Berufung. Ohne Gnade.
Kein Fall. Eine Entscheidung.Mit aller Strenge hat sie nein gesagt.
Nein.
Es ist eine Größe in diesem Nein, vor der ich mich verbeuge.
Sie ist erwachsen.
Und ich.Schreien darf ich hier nicht. Sonst lassen sie mich nicht hinter das Glas.
Die Zähne zusammenbeißen. Mich aufrichten. Vor diesem Gesicht.
Das Urteil wird mir für den Rest des Lebens auf die Stirn geschrieben sein.Ich wollte hinter das Glas, mit dem sie sie vor mir schützten.
Die Wand, mit der das ganze Unglück anfing, neugeboren schon getrennt. Ich draußen sie drinnen. Sie draußen ich drinnen.
Weggenommen haben sie sie mir. Kaum hatte ich sie geboren, habe ich sie hergeben müssen. Auseinandergerissen. Ich habe geweint, sie hat geschrien. Es half uns nicht gegen die Ordnung. Hinter Glas konnte ich sie sehen, wenn ich die Stunden nicht ertrug. Ihr Schreien war von dem der anderen Babys nicht zu unterscheiden.Das Kettchen. Die Hand der Fatima mußte mir helfen, hinter die Scheibe zu kommen. Ich bat, ihr das Kettchen umlegen zu dürfen. Der Blick des Arztes – wozu ein Arzt für Tote – prüfte mich, ob ich gefaßt genug sei. Oder ob ich imstande sei, sie aus ihrem Bett – es sah aus wie ein Bett! – zu reißen und und und
– ja und?!!! -
Dann öffnete er die Tür und führte mich zu ihr. Diese Knoten. Auf dem kurzen Weg versuchte ich immer noch, die Knoten in der Kette zu lösen. Gab auf. Der Arzt öffnete die letzte Tür. Von hinten. Ich schickte ihn hinaus. Wir waren allein.
Mit ihr alleine sein, das war das Letzte, was ich wollte.Ich hätte ihren Körper nicht mehr bewegen können, er war so schwer wie mein eigener. Aber die Hände, ihre Sind-so-kleinen-Hände. Mit sechzehn hatte sie Bettina Wegner so gern. In diese Hände legte ich das Kettchen, das ich ihr von meiner letzten Reise mitgebracht hatte. Die silberne Hand der Fatima aus Tunis. „Zu spät.“- hat sie gesagt, als ich erzählte, man gebe diese dort den Kindern, um sie vor dem Bösen zu bewahren. „Zu spät“, und dabei gelächelt. Sie wußte es besser. Zu spät.
Sie sah mich an, ich sollte ihr widersprechen, ich habe es getan, wie ich es immer tat. Dann ihre Frage, wie immer in der letzten Zeit, in jedem Gespräch, bei jedem Abschied: „Glaubst du wirklich, daß ich noch einmal…?“
- „Ja, ich glaub es, auch wenn du mich für verrückt hältst – ich werde es immer glauben, solange du lebst.“
Wieder ihr Lächeln. Sie gab sich große Mühe, mit dem Kopf zu nicken, aber ihre Augen sagten: „Wenn du wüßtest -“
Ich habe gewußt. Ich habe nicht gewußt. Ich habe gewußt.
Und ich konnte nichts machen.In den letzten Tagen muß sie die Kette wieder hervorgeholt und in die Tasche gesteckt haben.
Der Polizist, der sie mir mit allen Dingen, die sie bei sich hatte, übergab, sagte: Wer es tun will, der schafft es auch. Er meinte es tröstend: da kann man nichts machen.
Ich brachte ihr das Kettchen zurück, sie nahm es mit.Aber ihr Körper.
Er war doch einmal ich.
Und nichts anderes wollte sie mehr sein. Zuletzt.
Hat sich fallenlassen auf dem halben Weg zu mir.
Gebrochene Arme halten die kleinen gefalteten Hände.Aber ihr Körper. So groß. Ich könnte ihn nicht mehr halten. Er ist mir bald dreißig Jahre weit entwachsen.
Nur die Hände nicht. Die sind bei mir geblieben, mit 12, 13 Jahren. Zu klein, ein ganzes Leben in die Hand zu nehmen.
Ihre kleinen Hände. Die krieg ich nimmer warm. Eher werde ich selber kalt. Meine beiden Hände können ihr Gesicht nicht ganz umfassen. Gnädig. Entwachsen.
Das verknotete Kettchen mit der Hand der Fatima verstecke ich unter den gefalteten Händen. Zu spät.Leb wohl. Sag ich. Leb woh. Leb wohl.
Was sag ich da. Ade.