20.1.2019 – OUA 0
20.1.2019
aufgebrochenApril-Juni 1993Ich weiß nicht, ob ich meine oder ihre Geschichte erzähle, wenn ich erzähle von ihr.
Und vom Fortgehen.Wenn du wiederkommst – sagte ihr Vater, als ich mich zum ersten Mal in unserer Ehe für eine Exkursion nach Wien entfernte. Wenn du wiederkommst. Er meinte es ernst. Das machte mich traurig. Warum sagte er das.
Dann sah ich in Wien ausgerechnet in der Berggasse eine filmleinwandgroße Waschmittelwerbung mit glücklicher Familie. Ich buchstabierte: Wenn ich dies fort Sein nicht darf, wird das dort Sein nicht gehen. Es ist nicht gegangen.An einem Sommerabend – da lebten wir schon lange allein – stellte sich mir plötzlich die Frage in den Weg, ob ich eine Kurzzeitdozentur an der Universität von Ouagadougou in Burkina Faso, machen wollte.
Wo? – In Westafrika.
Ich? – Unmöglich. Nie wäre ich auf so eine Idee gekommen. Ich habe die Frage nicht gesucht, sie hat mich gefunden. Aber warum mich. Ich bin weder Ethnologin noch Technikerin, sondern Literaturwissenschaftlerin. Deutsche Literatur nach Schwarzafrika bringen? Wozu sollte das gut sein? Ich wusste es nicht, aber wenn das dort gefragt war, dann sollte es sein. Ich wäre auch nach China oder Brasilien gegangen. Es war Afrika.
Ich konnte davon ausgehen, dass meine Bewerbung für Ouagadougou die einzige war, denn es wird gewöhnlich dem Vorschlag des Lektors gefolgt, so dass ich mit einer Zustimmung rechnen musste. Trotzdem versuchte ich, durch mangelhafte Unterrichtsprogramme das Gelingen zu verhindern. Es half mir nichts, der DAAD hat mir zwei Monate Ouagadougou bewilligt.Ich habe Hindernisse gesucht, Unmöglichkeiten erwartet. Vom Reisebüro hätte ich zurückgehalten werden wollen, sie sollten mir sagen: Das geht nicht. Dort tat mir keiner den Gefallen. Dazu hätte ich „An den Nordpol!“ sagen müssen.
Diesmal überließen sie mich meiner Angst. Ich war traurig, ganz und gar desorientiert. Ich darf das Haus nicht verlassen. Ich muss immer in diesem Haus bleiben, es bewohnen von unten bis oben bis unten, die Blumen gießen, die Tomaten streicheln, mit den Katzen sprechen und das Telefon abnehmen: ja? Und wer wird den Vögeln zuhören, wenn ich nicht da bin? Am schrecklichsten ist es, wenn ich mir vorstelle: Die Vögel singen in meinem Garten und keiner hört ihnen zu!
Ein immer fast übermächtiges Du-darfst-Nicht stellt sich zwischen mich und meine Ziele anderswo. Vaters Ende wartete schon bei meiner allerersten Afrika-Reise. Nach Nordafrika ins harmlose Tunesien hatte ich es mit einer Reisegruppe geschafft. Dort kam durchs Telefon die Nachricht vom bevorstehenden Tod meines Vaters, und ich kehrte für sein Sterben zurück.Jetzt ging wieder eine Zeit zu Ende und der Boden unter mir weg. Afrika wäre eine andere Zeit. Noch war sie leer. Nirgends ist Welt mehr als innen. Ich ging wieder ein Stück weiter über den Rand meiner Welt. Ob die andere einen Boden für mich haben oder mich fallen lassen würde, wusste ich nicht.
Dann fand ich das Haus des Lektors nicht wieder für die letzten Vorbereitungen für Ouagadougou. Fast wäre ich umgekehrt. Und hätte nie das schwarze Afrika gesehen.
Das war Angst. Was ich fürchtete, musste ich suchen. Sobald ich die Angst spürte, hatte ich keine Wahl und wusste: Es muss sein. Es ist nur noch eine Frage, wie.Immer wieder die Situation herstellen, wo ich den Boden unter den Füßen verliere. Und das Glücksgefühl, wenn ich mich heil wiederfinde. Wo? Nirgendwo. Bei mir. Sonst nirgends. Zu wenig Erde unter den Füßen, um darauf stehen und gehen zu können.
Die Augen schließen, das Steuerrad loslassen und Gas geben. Je mehr Gefährdung, desto mehr Genuss, sich heil wiederzufinden. Unverletzbarkeit. Enttäuschung. Sie hat mich verstanden.
Reisen ist Loslassen. Fort und da und fort. Mein Spiel mit der Freiheit oder dem, was ich dafür halte. Die Gefahr suchen, um davonzukommen. Die Angst zu fallen, fallengelassen zu werden und die Freude, doch nicht zu fallen, sind eins und ziehen mich immer wieder an den RandPanik bis zur Auflösung. Wie sollte ich da packen. Ich griff wahllos nach Kleidern und Büchern. Soviel wie beim ersten Mal habe ich später nie mehr mitgenommen.
Ich hatte beiden Töchtern zu Weihnachten einen Flug nach Ouagadougou geschenkt. Nur ihre Schwester ist gekommen. Sie glaubte von Anfang an nicht, dass daraus etwas würde, sie machte ihr Abi nach, man verschob das Geschenk und es ist verfallen: die Reise zu der Mutter auf die andere Seite der Sahara ins schwarze Afrika.
Aus einem Film hatte ich ein afrikanisches Sprichwort mitgenommen: Ein Mann hat seine Zukunft vor sich. Nur wenn er sich umwendet, hat er sie hinter sich.
Ich sagte ihr das, bevor ich abflog, als sie einmal wieder mutlos und traurig war. Sie lächelte nachsichtig und ließ mich fliegen.In Paris habe ich durch sinnloses Herumlaufen den Flieger verpasst. Wird nichts aus Ouaga? Doch. Einen Tag später.
In dem Moment, als ich das Flugzeug in Ouaga verließ und mir der heiße Wind ins Gesicht fuhr, dachte ich: soll doch jemand das Heißluftgebläse ausschalten! Die Motoren standen schon lange still.
Vor meiner Abreise hatte ich mir mehrmals einen Film über Ouaga angesehen: „Laafi“. Das heißt „Geht es gut?“ Bei der Fahrt vom Flughafen zum Gästehaus war ich glücklich über das Wiedererkennen. Das konnte nicht wahr sein! „Wie im Film! Wie im Film!“, habe ich gerufen. „Es ist genau wie im Film!“ Als wäre das ein Grund zur Freude.Es war eine Ankunft fast ohne Berührung: mit dem klimatisierten Geländewagen ins Gästehaus auf dem Campus der Universität. Dort gaben mir die Gardiens wahrscheinlich beim ersten Mal noch nicht die Hand, weil ich meine nicht ausstreckte. Das war eine Gewohnheit, die ich erst später begriff.
Was dem Film und dem Geländewagen gefehlt hatte, waren Hitze und Gestank.
Auf das Leben draußen war ich nicht gefasst: den Schmutz, den Dreck, die Gerüche, die mich von den Märkten vertrieben, die Bettler ohne Finger, die Krüppel in dem Dreck, mit Schuhen an den Händen, Reifenstücke an die nachschleifenden leblosen Knie gebunden. Das alles hatte ich mir nicht vorstellen können.
Verdrehte Beine, die einknicken bei jedem Schritt. Das Hinken, weil ein Bein zehn Zentimeter kürzer und viel schwächer als das andere ist, fällt mir schon gar nicht mehr auf, dieser Fuß, der immer auf Zehenspitzen gehen muss. Später fällt mir nur auf, dass es mir nicht mehr auffällt. Es gibt zu viele davon.
Bettelnde Frauen haben ein Kind an der Brust, eines auf dem Rücken und noch eines an der Hand, das ein zweites mitzieht. Gruppen von Jungen jeden Alters, Straßenkinder, streunen den ganzen Tag in der Stadt herum, die großen Tomatenmarkbüchsen mit Henkel an den Arm gehängt. Andere kommen mit den Dingen, die die Weißen hier kaufen: Batik-Karten, bunte Stoffmützen, die kleinen aus Draht gebastelten Fahrräder oder aus Dosen geschnittene Autos. Sie lassen dich, haben sie dich einmal entdeckt – und das ist sofort – nicht mehr los. Du sollst ihnen etwas abkaufen. Zwei-, dreimal führen sie die leere Hand zum Mund und ihr dunkler Blick sucht deine Augen, um dir zu sagen, dass sie Hunger haben. Und du kannst ihnen helfen.
Wie lange hält man das aus. Von dem Geld, das ich für eine Coca-Cola in dem Restaurant bezahle, in das ich geflohen bin, um all diesen Augen zu entgehen, könnte einer hier eine Woche lang leben. Mir schmeckt die Cola nicht.Ich hielt mich an meine Studenten, die ich manchmal am Abend im Schein der Straßenlampen lernen sah, arbeitete, so gut ich konnte, und privilegierte die Privilegierten. Sollten sie diesem Land eines Tages weiterhelfen.
Aber auch meinen Unterricht hatte ich mir anders vorgestellt. Mein unbegleitetes Fluggepäck bestand vorwiegend aus Büchern. Und das war gut, denn meine Vorbereitungen konnte ich vergessen. Ich musste umdenken von einer Stunde auf die andere.
Dann überraschte es mich, wie leicht die Fragen, was ein Gedicht bedeutete, zu beantworten waren. Wie schnell diese jungen Menschen vor mir mit meinen Antworten zufriedenzustellen waren. War es möglich, dass sie sich etwas vorstellen konnten, wenn ich sagte: Winter, Nebel, Schnee? Frühling lässt sein blaues Band… So ein Blödsinn.Für mich war es anders. Jeden Morgen kam eine Botschaft des Bäckers mit einem Stück abgerissener Zeitung, in die das Baguette gelegt wird, und ich bemühte mich zu verstehen, was sie bedeutete. Nahm ein paar Worte als Zeichen. Buchstabierte neue Namen. Wer war jetzt Präsident und wie war er es geworden. Wofür streikten die Studenten. Ich verstand von diesem Leben nichts.
Wie ahnungslos bin ich in meiner Welt gewesen. Habe sie für das Ganze genommen. Damit war es vorbei. Staunen und Erschrecken wechseln sich ab. Dass meine Augen hier nicht genügen, ist unheimlich. Besonders in der Nacht. Dass die Nacht, selbst in der Stadt, so schwarz und dunkel ist, holt Kinderangst hervor. Wie soll ich wissen, ob sich mir jemals eine Hand entgegenstreckt, wo nichts mehr für die Augen ist. Ich fürchte, die Welt könnte zu Ende sein, wo ich sie nicht sehen kann, rundherum Abgrund.
Ihre Schwester und ich waren am Abend zu Fuß auf dem Heimweg durch das Viertel mit den Botschaften, wo es in größeren Abständen Straßenlaternen gab, als plötzlich auch dieses bisschen Licht ausging. Wir klammerten uns aneinander und gingen gegen den fast unwiderstehlichen Wunsch, stehen zu bleiben und zu verschwinden, mit entschlossenen Schritten weiter. Als bei der amerikanischen Botschaft die Notstromaggregate anliefen, wurden unsere Schritte immer dann schneller, wenn wir uns einem Lichtschein näherten, und verlangsamten sich, wenn wir ihn wieder verlassen mussten. Als wäre Licht etwas, woran man sich halten könnte. Davon gab es oft lange nichts.
Erst bei Sonnenaufgang kann ich die Menschen wieder erkennen und von dem, was sie umgibt, unterscheiden.
Auch das habe ich mir nicht vorstellen können: dass ich Menschen am Abend so schwarz sind. Sie wissen, dass ich sie von der Nacht nicht unterscheiden kann und machen sich einen Scherz daraus, mich zu erschrecken.
Das gelang immer. Der kleine Schuhputzer auf dem Campus neben der Buvette – die Studenten haben selbst bei diesem roten Staub immer blanke Schuhe – , erschreckte mich gerne, wenn ich mir abends mein Bier holte. Er näherte sich leise von hinten und legte seine Hand auf meine Schulter. Als ich herumfuhr, sah ich nichts, nicht einmal die Hand aus dem Dunkel. Ich hörte eine Stimme flüstern: bonsoir!, aber hilflos wie ein Blinder sah ich immer noch nichts. Noch einmal: bonsoir! Bis er endlich lachte und seine Zähne leuchten ließ. Nichts unterscheidet sie von der Nacht als das Lachen. Aber das gab es oft. Ohne Grund. Sie lachten immer, wenn ich kam und mich leuchtend weiß von der Nacht unterschied.
Diese Nacht konnte mein Auge nicht durchdringen, so wenig wie jedes Gesicht. Ich habe mich nicht daran gewöhnen können, im Gegenteil. Jeden Tag wurden sie schwärzer für mich. Jeden neuen Morgen fragte ich mich wieder: Waren die Menschen gestern wirklich schon so schwarz?Ich brauchte ein Mofa.
Als ihre Schwester abgereist war, begann ich meine nächtlichen Streifzüge mit der Mobilette in die Stadtviertel ohne Elektrizität. Der kleine hüpfende Lichtkegel war auf diesen sandigen, erdigen, steinigen Straßen nie da, wo ich hinwollte. Er sprang von links nach rechts, von rechts nach links, lag mal vor dem Vorderrad und verlor sich sofort wieder in dem nahen oder dem fernen Dunkel. Die wenigen kleinen leuchtenden Punkte der Öllämpchen machen die Nacht erst zu dem, was sie ist.Oft merkte ich erst im letzten Moment, dass da Menschen waren. Und es waren immer viele: Kinder, Frauen, Frauen und Kinder. Männer. Eigentlich selten Frauen und Männer. Sie schienen wenig miteinander zu tun zu haben. Der Alltag sieht kaum Gemeinsames für sie vor. Aber allein war niemand lange.
Allein wie ich, wenn ich herumfuhr und suchte. Ein Ziel suchte, wo ich ankommen wollte. Ohne jemanden, mit dem ich sprechen würde. Das können sie sich wahrscheinlich nicht vorstellen.
Wenn ich der erste Gast war am Abend im Hof eines kleinen Restaurants, war es selbstverständlich, dass sich der Kellner, ein Junge von etwas 16 Jahren, zu mir setzte. Da saß er dann schweigend neben mir, nur damit ich nicht alleine war, und entschuldigte sich, als neue Gäste kamen, um die er sich kümmern musste.
Ich habe das Alleinsein – wo ich auch hinkomme – schon immer dabei. Auch das Misstrauen und die Angst.
Beides schienen sie nicht zu kennen. Überall und immer empfing mich das offene Lachen, ich hörte Zurufe, die immer mir galten, und Hände strecken sich mir entgegen. Bonjour Madam, bonjour! Geschenktes Vertrauen im Überfluss.
Ich hörte wenig weinende Kinder. Weinten sie weniger?Ich lernte, dass eine Mobilette Allgemeinbesitz ist. Jeder fährt damit, solange sie läuft. Aus diesem Grund tankt man nur literweise. Mir fielen die vielen geschobenen Mofas ein, als mir das Benzin auf der Straße zum Platz der Vereinten Nationen ausging, nachdem ich das Mofa Seydou geliehen hatte. Ein kleiner Junge zeigte mir den Hebel für den Reservetank. Den musste man kennen.
Ich hatte eine Panne vor der Post in Ouaga. Zwei Jungen haben das Loch schnell geflickt. Als ich bezahle, bricht ein lauter Streit aus zwischen den Jungen und einem alten Mann in einer mir unverständlichen Sprache über den Preis der Reparatur. Der Alte siegt. Das liegt in der Natur. Die Jungen müssen mir 100 Francs zurückgeben. Sie tun es mit gesenktem Kopf und stumm.Dem Diensteifer der Gardiens im Gästehaus war nicht zu entkommen. Kaum trat ich mit dem Schlüssel in der Hand vor das Haus, wurde mir schon mein Mofa bereitgestellt und sofort angelassen. Kam ich zurück, wurde es mir aus der Hand genommen, aufgeräumt und möglichst jeden Tag gewaschen. Ich bedankte mich, gab ein paar Münzen, und fragte mich: Wer bin ich eigentlich hier?
Ich wäre diesem Diensteifer gerne entgangen und hätte, was ich konnte, lieber selber getan, wie ich es gewöhnt war. Aber ich musste lernen, dass es nicht gut ist, ihnen die Arbeit wegzunehmen und damit die Chance für ein bisschen Geld.
Wo diese nicht bestand, geschah nicht viel. Wenn ich in der Küche stand, die so klebrig war, dass es mich jeden Morgen wieder einige Überwindung kostete, mir dort das Kaffeewasser heißzumachen, dann dachte ich doch: Eigentlich könnten sie hier ja mal saubermachen anstatt da draußen stundenlang zu palavern und zu lachen und zu lachen und zu palavern.
Und wenn mir einer auf die Frage, was er heute getan habe, antwortete: nichts, dann bin ich erschrocken. Es machte mir Angst. Wie konnte er das so einfach sagen: nichts.Den Tag konnte ich füllen, die Nacht nicht. Sie blieb leer, ließ mich nicht schlafen. Oder sie jagte mich in einen Traum.
Da sah ich noch, dass ein großer orangefarbener LKW rückwärts in die Hofeinfahrt der Weißenburgerstraße stößt, steckenbleibt, wieder hinausfährt und es noch einmal in einem etwas anderen Winkel und mit mehr Gas versucht. Er reißt die Wand auf, fährt trotzdem weiter, schneidet die Wand ein und durch, bis die ganze Hauswand an der östlichen Giebelseite umfällt und das Haus aufbricht. Aufgerissen, abgebrochen steht es da, stürzt aber nicht zusammen. Mein Elternhaus. Das Haus, in dem sie damals lebte.Noch mehr als am Tag erwischte mich nachts ein Schrecken darüber, wie wenig ähnlich sich die Menschen sind. Dass zwischen ihnen gar nichts Gemeinsames ist. Dass immer der Eine der Andere des Anderen ist. Vielleicht erschreckte es mich deshalb so sehr, weil es sichtbar machte, wovon ich tief überzeugt war.
In diesen Schock fiel ich immer wieder; dass es diese Grenze zwischen den Menschen gab und man sie sehen konnte. Das Schwarze und das Weiße. Ich hätte wie die kleinen Kinder weinen wollen.
Meine Erwartung blieb lange unbelehrbar. Jeder Radfahrer, der ins Bild fuhr, überraschte mich. Wenn einer, der bis dahin bedeckt war, sich auszog, das Hemd und die Strümpfe weglegte, um sich zu waschen. Die Nackten im Wasser. Als hätte ich geglaubt, dass alles, was ich nicht sehe, sein muss wie ich.
Dann aber, als ich dabei war, den Irrtum in meinem Weltbild zu korrigieren, empfand ich die hellen Handflächen und Fußsohlen, die weißen Fingernägel, die rosaroten Wunden und unser Hansaplast darauf als Fehler. Als wäre das alles ein Hinweis darauf, dass hier doch etwas nicht stimmt. Und die Kinder weinen, wenn sie mich sehen.
In der Sprache der Lobi sind die Weißen die Menschen ohne Haut. Haut ohne Farbe. Haut ist Farbe. Farbe ist Haut.Als der Unterricht zu Ende war, bin ich mit dem Zug zu einer Geologin, die ich im Flieger kennengelernt hatte und die bei den Lobi arbeitete, nach Banfora gefahren, in den grünen Südwesten Burkinas an der Grenze zur Elfenbeinküste. Die Fahrt dauerte neuneinhalb Stunden. An jeder Station kamen Kinder, Mädchen, Frauen angerannt mir großen Blechschalen über den Köpfen, von denen sie Zwiebeln, Tomaten, Papayas an die Reisenden verkauften. Die brachten es von hier, wo es soviel davon gab, dorthin, wo andere Dinge wuchsen. Oft flogen die Münzen erst aus dem Fenster, wenn der Zug schon wieder anfuhr, und die Kinder rannten verzweifelt nach dem Geld, suchten es im Sand, fanden es auch. Sie hatten Übung darin.
Je näher wir Bobo-Diulasso kamen, desto mehr und bunter und größer wurden die Mangos. Unmengen großer Säcke voller Zwiebeln kamen durch die Fenster und wurden unter die Sitze geschoben oder ins Gepäcknetz gehievt. Zuletzt saß man auch auf den Säcken. Ihr Ziel war Abidjan.
Die Kinder im Zug. Das erste Lächeln des Jungen mir gegenüber zeigte sich zaghaft nach drei Stunden. Die kleinen Mädchen weinten wieder. Eine Mutter packte ihr Baby und wendete seinen Kopf, zog eine Brust heraus und steckte dem Kind die hochgestellte Brustwarze in den Mund, damit es nicht mehr zu mir herschaute und zu weinen aufhörte.
Proviant wurde ausgepackt. Man holte bunte Emailtöpfe hervor, öffnete den Deckel und gleich griffen viele Hände hinein, nahmen eine Handvoll Reis, drückten und pressten den solange, bis die Soße abgetropft war und ein kleiner Kloß übrig blieb, den man in dem Mund stecken konnte. Der Geruch von Zwiebeln, Reis mit Soße und fettem gebratenem Fleisch, das bei jeder Station in einem abgerissenen Stück Packpapier durchs Fenster kam, vermischte sich mit dem von nassem Stoff zwischen den Beinen der Babys.
Die Kinder starrten mich an. Kein Lachen wie in Ouaga. Sie waren zu klein. Ich war ein Schrecken für sie. Und sie fingen in dem Augenblick an zu weinen, als ich lächelte. Das wollte ich nicht. Es erschreckte mich. Verstecken konnte ich mich nicht.
In Bobo sah ich zum ersten Mal die Nackten durch die Straßen gehen. Es seien die Verrückten, sagte man mir, denen man keine Kleider gibt. Es ist ein Zeichen: Gebt acht, passt auf mich auf, passt auf euch auf. Ihre Nacktheit ist ein Schutz.Als ich nach den Wochen allein wieder die vertraute Nähe einer Weißen fand, saß ich auf deren Bettrand und konnte nicht aufhören zu weinen.
Zuviel. Es war zu viel für mich. Ich war dafür nicht geschaffen oder nicht gemacht. Ich konnte nicht mehr. War am Ende angekommen. Überanstrengt. Ich habe zu viel Kraft gebraucht für mein Leben, das machte ein Gefühl von Sinnlosigkeit, Vergeblichkeit. War es überhaupt meins? Warum bin ich so schwach geworden.
Il ne vaut pas la peine. Aber ich habe doch alles gemacht.
Nein, ich habe nichts gemacht, ich habe getan, was man verlangt hat.
Ich bin zu allen nett gewesen. Nun konnte ich nicht mehr sprechen. Meine Stimme war weg. Konnte gar nichts Nettes mehr sagen.Wieder in Ouaga hockte der Blinde wie immer an der Ampel, wo ich mit hundert anderen Mofas auf grünes Licht wartete, und streckte seine Blechbüchse zu mir herauf. Der konnte nicht wissen, dass nur ich hier weiß war. Das tröstete mich.
Dann kam die vor der Regenzeit immer größer werdende Hitze. Tage mit 45 Grad waren die Regel, nachts blieben es 30 mit zunehmender Luftfeuchtigkeit. Und das in Ouaga, wo kaum Grünes hilft. Jeder, der es sich leisten kann, verlässt in dieser Zeit die Stadt und geht in den grünen Südwesten nach Bobo. Ich war nach sechs Wochen am Ende meiner Kraft.
Dieser Körper. Mein Körper war mir zu viel bei 45 Grad. Zu schwer und zu schwach. So kannte ich ihn nicht. Jede Bewegung kostete mich Überwindung. Aufstehen, um etwas an die Tafel zu schreiben, war schon zu viel. Die Klimageräte waren ebenso laut wie unwirksam bei den zerschlagenen Fensterscheiben.
Ich setzte mich noch in der Nacht an die Prüfungskorrekturen und verlegte dreimal meinen Abflug vor. Der Angestellte bei der Air France war beim dritten Mal nicht mehr so freundlich zu mir wie beim ersten Mal.
Dies Afrika war einfach zu viel für mich, ich wich zurück.
Ich wollte nach Hause. Still sein oder sprechen.
Ich packte die bunten Mangos in die Koffer, bis diese schwer wie Steine waren, und kam heim. Das Übergewicht wurde mir geschenkt.In Paris wurde ein Schwarzer von weißen Polizisten mit Handschellen weggeführt. Ich fiel nicht mehr auf. Nach diesen vielen Wochen des Niemals-unbemerkt-Seins bin ich untergetaucht.
Aber die Herausforderung, an der man gescheitert ist, vergisst man nicht. Die Hitze, die mich überfordert und gequält hatte, vermisste ich hier. Das war ein erschreckender Moment bei der Abfahrt zu wissen: das ist gleich vorbei, es wird kalt. Alles ist gleich vorbei. Alles wird kalt.
Hier liefen mir Tränen aus allen Poren. Drei Tage lang.
Geblieben ist mir der fragende Blick nach dem Mond. In meinem gespannten Suchen verrät sich eine heimliche Sehnsucht, dort zu sein, wo die feine Sichel als Wiege am Horizont schaukelt oder einen bergenden Bogen über die Erde hält.
Ich freue mich über jedes schwarze Gesicht und bekomme Herzklopfen, möchte winken, grüßen, rufen: ca va? ca va?
Wenn ich doch Kinderhände hätte.
Der suchende Blick auf die Fotos. Es waren Suchbilder, nur Suchbilder. Was ich fand, waren Kinder, Mütter mit Kindern. Fast auf jedem Bild. Wenn auf einem nicht, dann dafür dreimal auf dem nächsten.
Ich habe meine Suchbilder vergrößern lassen. Wollte sehen, was ich nicht gesehen habe. Schließlich bin ich nicht nach Afrika gegangen, um es zu vergessen.Als ich wieder sprechen konnte, kam eine gebrochene Stimme, eigentlich eine doppelte Stimme, zweistimmig, fremd, ein anderer Ton aus meinem Mund. Und es schien mir ganz in Ordnung, wenn ich von nun an zwei Stimmen hätte. Als könnte ich nicht mit einer einzigen Stimme von zwei Welten sprechen.
So groß wie ich mich dort fühlte, so klein kam ich mir hier vor. Auf einmal fehlte es mir, immer als das ganz Andere gesehen zu werden. Dort kannten mich alle, ohne dass ich sie kannte. Geschenkte Wichtigkeit.
Ich bin dem Fremden nicht näher gekommen. Wo ich Nähe gesucht hätte, blieb ich draußen. Vor dem Dorf. Vor dem Hof. Alle Dörfer nur von außen.
Was die anderen miteinander tun, geht mich nichts an. Ich gehöre nicht dazu. Ich finde, was ich immer schon bei mir habe: Ausgeschlossensein. In Afrika war es nicht die Sprache, sondern die Farbe.