7.1.2019 – warum Ouagadougou

7.1.2019

Plötzlich in Namibia. Schon wieder mit dem Traumschiff. Ich war froh, Namibia wiederzusehen, da wollte ich doch unbedingt wieder hin, nicht nur im Fernsehen. Da hat sich viel verändert, seit ich nicht ohne Flugscham ans Fliegen denken kann und mir nur noch Griechenland erlaube. Umso mehr freue ich mich jetzt, wenn die Welt zu mir kommt, ohne dass ich dabei nur einen einzigen Finger rühren muss. Und dieser Finger ist immer noch verlässlich, der Körper nicht. 
Als ich vor ein paar Jahren mit dem Rad auf dem Weg zu den Storchennestern einen Hundefreund auf dem Feldweg getroffen habe und ihm zurief: Ich fahre nach den jungen Störchen schauen! – da bekam ich zu hören: Warum schaust Du sie Dir nicht im Fernsehen an? Ich war entsetzt, erbost und hatte keinen freundlichen Gedanken für diesen Mann.
Damals kam noch kein Traumschiff bei mir vorbei.
Gestern sang dort Louis Armstrong what a wonderful world. 

Das hat er auch in Tel Aviv getan. Da war meine Große noch kein Jahr tot. 

Ich stand mit meinem Freund, dem Palästinenser, und seinen Freunden an einem Stehtisch am Strand und verstand nichts von dem, was geredet wurde. Die Sonne hoch über dem Meer, das gnadenlose Licht, ich musste mich umdrehen, damit man meine Tränen nicht sah. wonderful world. Ob sie das je erlebt hat? Warum nicht jetzt, warum nicht hier.

aufgebrochen. oder warum Ouagadougou.
Das wurde ein Buch, 2000 gab ich es aus der Hand.

 2000

Wieder einmal habe ich die Hoffnung, dass mein Ort dauern möge, bis ich alles erzählt habe und ich es gehen lassen kann, das Buch, das mein Kind einhüllen soll wie ein Leichentuch, damit ich es in die Erde legen kann.

So lange darf ich mich nicht bewegen.
Ouagadougou hieß für sie: Du warst noch nie solange so weit weg. Als ich aus Ouaga zurückkam, teilte sie mir die Entscheidung mit, unsere Stadt zu verlassen, weil sie sich in meiner Abwesenheit so unglaublich wohl gefühlt habe. 
“Noch nie ging es mir so gut wie in dieser Zeit, wo du so lange fort warst! Zum ersten Mal so lange und so weit, nicht mehr zu erreichen. Toll. Jetzt gehe ich auch. Jetzt kann ich es. Das glaubst du nicht?! Ich werd es dir zeigen! Ich werde eure Stadt verlassen.“
Mit der Stadt die Wohnung, die Freunde, den Vater, mich, ihre Mutter. Ihr Auto gab sie auf.

Sie konnte nichts unzerstört verlassen. 
Sie zerstörte es umso mehr, je mehr sie es geliebt hat.
Sie hatte schon angefangen, Hand an ihre geliebte Wohnung zu legen. Die sorgfältig in diese Küche eingebauten Bretter, die nirgendwo hinpassten als an diese schrägen Wände, hat sie mit den Schrauben und Dübeln aus den Wänden gerissen, „Die brauche ich wieder!“, gesagt, vor die Türe gestellt und dort stehen lassen. 
Schränke standen offen, halb ausgeleert, riesengroße Kartons davor – wo hatte sie die her? -  übervoll mit rasch durcheinander hineingeworfenen Dingen, zu schwer, um sie von der Stelle zu bewegen. 
Bilder waren abgenommen, lehnten mit dem Gesicht an der Wand. Große Löcher in den Tapeten, wo zuvor Regale waren, ließen den Sand herausrinnen. Aufgebrochene Wände.
Ein Ankommen gab es nicht.

Ihr Sprung von dem Hochhaus und Ouaga gehören zusammen. Mein Aufbruch dorthin davor und danach.
Sie hat auch nur fortgehen wollen. Nicht sterben, fortgehen. Fortfliegen. Seit sie das Wissen um den offenen Zugang zu dem Balkon einem Drogenabhängigen abgekauft hatte, ist sie immer wieder da hinaufgefahren und wieder hinunter. Es war die Sicherheit des Auswegs. 
Diesmal kam sie mit der doppelten Beruhigungsdosis vom Arzt – der mußte es gut gemeint haben – und fürchtete nichts mehr.Da hat sie keiner zurückgehalten. Keiner konnte sie halten, sagen wir, um uns zu schonen oder zu trösten. Wie hätte ich sie auch halten können.

Als sie in der Dämmerung des 25. November mit dem Aufzug in den 17. Stock des Hauses fuhr, das auf dem halben Weg zwischen meinem Haus und unserer Stadt liegt, trug sie den Mantel, der einmal meiner war. Nicht den neuen, den wir an ihrem Geburtstag vor ein paar Wochen gekauft hatten. Ich hatte danach gegriffen, um mit irgendeinem Mantel anzufangen, und sie hat sofort „Ja!“, gesagt und gemeint, es sei genau der Richtige, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die anderen zu werfen, die waren ihr so egal, wie einem nur etwas egal sein kann, es wäre jeder erste Mantel gewesen, sie sagte: „Der ist schön!“, – damit ich sie in Ruhe ließ. Wie müde sie war. Fünf Wochen vor dem Ende.’Wir hatten uns im Café zum Geburtstagfrühstück getroffen. Sie war schon da, saß schwer und unglücklich in einer Ecke. Ich war – wie immer – ein paar Minuten zu spät. Ihr verständnisvolles Wie-immer-Lächeln. Meine Traurigkeit. „Warum?“, fragte sie.

„Ich würde mich so gerne mit dir freuen an deinem Geburtstag.“ Freuen.
Wir wollten mit Sekt und Orangensaft anstoßen, ich stieß mein Glas um, es zerbrach. Das erschreckte sie. 
Dann zog sie die zerknüllte Anmeldung für die Klinik, die uns Hoffnung gegeben hatte, als wir miteinander hingefahren waren, aus der Tasche. „Meinst du, ich soll sie abschicken -?“
Es wurde ihr Geburtstagsgeschenk. An mich.

Aber sie wollte nicht.

Am Freitagnachmittag zog sie meinen Mantel an.
Als ich ihn im feuerroten – warum so rot – Plastiksack zusammen mit Jeans, Pulli, Unterwäsche, Socken und Schuhen zurückbekam, war das unterste Knopfloch weit ausgerissen. Der Knopf hat versucht, sie zu halten. Aber er hat es nicht verhindern können, dass sie über das Geländer stieg. Vielleicht hat er um 16.35 ihr Fallen um den Bruchteil einer Sekunde verzögert.

Laß mich los, sonst kann ich nicht leben. Hat sie gesagt. 
Laß mich los.
Sie versuchte, sich loszureißen. Zwei Jahre lang. Dann gab sie auf.

Als ich sie losließ
ließ sie sich fallen
17 Stockwerke tief

Im dreißigsten Jahr alle Knochen gebrochen.

liebe Eltern ich habe euch doch immer geliebt

Zwei Tage zuvor war die Entscheidung gefallen, dass ich wieder nach Ouaga gehen würde. 

Wo du doch das letzte Mal so krank, so alt zurückgekommen bist? Hast du vergessen, dass du es gar nicht bis zum Ende ausgehalten hast? 
Gerade deshalb. Das kann es nicht gewesen sein. 
Sie kann es noch nicht gewusst haben. Oder doch? 
Ich habe es ihr nicht gesagt, wahrscheinlich habe ich nicht einmal daran gedacht bei unserem letzten Telefongespräch, das kein Gespräch war, sondern ein Weinen, ein so hoffnungsloses Schluchzen auf ihrer und ein hilfloses Trösten auf meiner Seite. Ich geh jetzt ins Bett. Hat sie gesagt und aufgelegt. Vielleicht noch: ciao. Ich werde auch aufgelegt und irgendetwas, womit ich gerade beschäftigt gewesen war, weitergemacht haben, traurig, nachdenklich.
Das Weinen. Es kam von woanders. Es kam aus dem Riss zwischen ihr und der Welt. Ich bin nicht zu ihr gekommen, ihr die Hand zu reichen. Für eine kurze Zeit zu tun, als wäre ihr damit geholfen. Mir wäre geholfen, nicht zu sehen, dass ihr nicht zu helfen war. Dass ich ihr nicht helfen konnte.
Dieses Weinen. Dieses untröstliche Weinen. So unverständlich wie am Anfang. Ich höre mich weinen, als sie meinen Körper verlassen hatte. Tagelang. Dann das Schreien. Ihr Schreien. Ich verstand es nie. Es machte mir Angst. Ich hatte keinen Trost für sie und unsere Trostlosigkeit.

Ich geh jetzt ins Bett.

Wie ich gelernt habe, die endgültige Belanglosigkeit dieser letzten Worte auszuhalten, weiß ich nicht mehr.

Ich geh jetzt ins Bett.

Zwei Tage später höre ich, wie ihre Schwester in das Telefon schreit:  n  e  i  i  i  n !

Wäre ich zu ihr gefahren nach unserem Telefongespräch, vielleicht wäre sie heute noch da. 
Zu welchem Unglück hätte ich sie damit verdammt. 
Hätte sie bleiben sollen, nur dass ich kein totes Kind in meinem Leben habe? So wie ich wegen meiner Eltern geblieben bin und später wegen meiner Kinder? Das kannst du ihnen nicht antun!